Freilich #32: Süchtig nach dem Kick

Europa am Scheideweg: Eklat im Weißen Haus und europäische Souveränität

Nach dem Eklat im Oval Office steht Europa an einem historischen Scheideweg. Das Jahr 2025 dürfte zur tiefsten Zäsur der Weltgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren werden, meint Seyed Alireza Mousavi in seinem Kommentar für FREILICH.

5.3.2025
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5 Minuten Lesezeit
Europa am Scheideweg: Eklat im Weißen Haus und europäische Souveränität

Das Treffen zwischen Trump und Selenskyj und vor allem der Verlauf des Gesprächs haben international für Aufsehen gesorgt.

© IMAGO / ZUMA Press Wire

Nach einem beispiellosen Wortgefecht vor laufenden Kameras haben US-Präsident Trump und sein ukrainischer Amtskollege Selenskyj am vergangenen Freitag ihr Treffen in Washington abgebrochen. Zuvor hatte Trump Selenskyj mit Vorwürfen überhäuft. Dieser riskiere einen Dritten Weltkrieg. Trump drohte damit, die Ukraine fallen zu lassen, sollte es zu keiner Einigung mit Russland kommen. „Sie werden entweder einen Deal machen oder wir sind raus“, drohte er. Immer wieder unterbrach Trump Selenskyj, während der ukrainische Präsident zu antworten versuchte. Zeitweise kam es zu heftigen Wortgefechten. Von Selenskyj erwarteten Trump und sein Vize J.D. Vance, dass der Besucher aus Kiew unterwürfig alles schluckt, was man ihm in Washington auf den Tisch legt.

Doch schon beim Erpressungsversuch mit dem Rohstoffdeal wollte sich Selenskyj nicht so beugen, wie es Washington erwartet hatte. Vergeblich forderte der Ukrainer Sicherheitsgarantien als Gegenleistung für den Rohstoffdeal. Trump beendete den Schlagabtausch schließlich mit den Worten: „Ich denke, wir haben genug gesehen“, und mit Blick auf die anwesende Presse: „Das wird großartiges Fernsehen, das kann ich Ihnen sagen“. Es ist durchaus möglich, dass die Eskalation bis hin zum Eklat vor laufenden Kameras geplant war, um den US-Bürgern zu zeigen, dass man einen Präsidenten wie den „respektlosen“ Selenskyj nicht länger unterstützen könne, während man mit Präsident Putin gut auskomme. US-Präsident Donald Trump warf Selenskyj schließlich aus dem Weißen Haus und ließ das Rohstoffabkommen mit Kiew vorerst platzen.

Russische Vertreter reagierten mit Schadenfreude auf den Eklat beim Besuch des ukrainischen Präsidenten im Weißen Haus. Der Kreml wird nun die Gunst der Stunde im Oval Office nutzen, um weiter auf die Ukraine einzuwirken. Russland setzt derzeit auf bilaterale Verhandlungen mit Washington in Riad und zuletzt in Istanbul. Der Kreml hatte US-Präsident Trump in den letzten Tagen, als sich die Unterzeichnung eines amerikanisch-ukrainischen Abkommens über die Ausbeutung von Bodenschätzen abzeichnete, mit entsprechenden Geschäftsideen umworben – Stichwort: lukrative Geschäfte über die Köpfe der Europäer hinweg.

USA stoppen Militärhilfe für Ukraine

Für Europa bedeuten die Ereignisse vom Freitagabend eine Zäsur. Die USA unter Trump sind eine nach außen imperialistisch agierende Großmacht, die im Innern dabei ist, ihre Administration aufzulösen und innenpolitisch neue Fakten zu schaffen. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, droht Europa politisch und wirtschaftlich zwischen den drei großen Weltmächten China, USA und Russland zerrieben zu werden. Die US-Regierung hat nach dem Eklat im Weißen Haus diese Woche bereits die Militärhilfe für die Ukraine gestoppt. Nun könnte Trump neben der direkten militärischen Unterstützung auch die indirekte Hilfe stoppen, etwa den Austausch von Geheimdienstinformationen zur Abwehr ballistischer Bedrohungen, die militärische Ausbildung oder die für die ukrainischen Streitkräfte enorm wichtige Kommunikation über Elon Musks Satellitensystem Starlink.

Zuletzt hatte die neue US-Regierung das EU-Establishment in einen Schockzustand versetzt, als Trump nach einem Telefonat mit Putin den Beginn von Friedensverhandlungen mit der Ukraine ankündigte, ohne die Europäer einzubeziehen. Das letzte Mal, als über das Schicksal Europas ohne Beteiligung der Betroffenen verhandelt wurde, lag achtzig Jahre zurück. Bei der Potsdamer Konferenz saßen zwar Vertreter vieler Staaten am Tisch, aber über die Grenzen des Kontinents entschieden vor allem Washington und Moskau.

Nach dem Zerwürfnis zwischen US-Präsident Trump und Selenskyj eilten am Wochenende westliche Staats- und Regierungschefs sowie Vertreter von NATO und EU nach London, um über die Sicherheitslage in Europa nach dem Kurswechsel der US-Regierung zu beraten. Großbritannien und Frankreich arbeiten nun an einem Friedensplan für die Ukraine, den sie US-Präsident Trump vorlegen wollen. London und Paris hoffen auf eine europäische „Koalition der Willigen“, um die Ukraine zu unterstützen und ein neues Sicherheitskonzept für Europa zu entwickeln. Gleichzeitig schlug Macron einen „strategischen Dialog“ mit den europäischen Partnern vor, die nicht über Atomwaffen verfügen. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk rief die Europäer dazu auf, Vertrauen in die eigene Stärke zu entwickeln. Der Kontinent müsse daran glauben, eine militärische Großmacht sein zu können.

Europa hat seine Einheit wiedergefunden

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet ein amerikanischer Präsident dafür gesorgt hat, dass die Europäer zu einer selbstbestimmten europäischen Position zurückgefunden und sogar ihre eigene Einheit entdeckt haben. Wenn Europa als Akteur im internationalen Wettbewerb um Macht und Einfluss bestehen will, muss es zu einer Militärmacht werden, die auch ohne die USA in der Lage ist, vor Angriffen aller Art abzuschrecken. Die entscheidende Frage ist aber, ob die Entscheidungsträger in Europa dazu in der Lage sind und nicht bei einem Politikwechsel in den USA sofort wieder umschwenken. Um eine Militärmacht zu werden, ist nach Ansicht von Militärexperten eine massive Aufrüstung notwendig, von konventionellen Waffensystemen über Satellitenaufklärung bis hin zu den Nuklearwaffen, über die Frankreich und Großbritannien verfügen. Allerdings müssten die Rüstungsanstrengungen koordiniert und nationale Alleingänge vermieden werden, was angesichts der zahlreichen sicherheitspolitischen Differenzen unter den Europäern unter den gegebenen Umständen undenkbar sei.

Europa braucht vor allem eine interessengeleitete Außenpolitik, unter deren Dach die Europäer agieren müssen. Doch die EU-Eliten halten an überholten Konzepten fest: Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas forderte nach dem Eklat im Weißen Haus einen „neuen Anführer der freien Welt“. Europa müsse den USA zeigen, dass es bereit sei, die „Demokratie“ zu verteidigen, so die EU-Kommissarin Ursula von der Leyen. Dass es in der Ukraine letztlich nicht um Demokratie und Menschenrechte geht, sollte spätestens jetzt, da sich ein Ende des Krieges abzeichnet, klar geworden sein. Seit den USA ein Rohstoffabkommen mit der Ukraine anstreben, hat auch Frankreich bereits Verhandlungen mit Kiew aufgenommen. Frankreich wolle ukrainische Rohstoffe für seine Rüstungsindustrie nutzen, heißt es aus Paris.

Schauplatz Europa

Mit einer weltweit propagierten Demokratieförderung wäre Europa nicht in der Lage, die aufstrebenden Mächte im Osten zu umwerben, um sich von den USA zu lösen. Vor diesem Hintergrund stellt sich vor allem die Schicksalsfrage, ob und unter welchen Bedingungen Europa die USA im Wettbewerb mit der Weltmacht China unterstützen will. Vier Jahre lang war Europa auf Druck der US-Administration unter Ex-Präsident Joe Biden auf Konfliktkurs mit China gegangen. Doch der Konfrontationskurs des europaskeptischen Trumps in der Handelspolitik ist nun Anlass für das neue Tauwetter zwischen Brüssel und Peking. Die USA haben Zölle auf Importe aus China und der EU angekündigt, beide wollen mit Gegenzöllen antworten. Umso mehr ist der größte Wirtschaftsraum der Welt – Europa wie Peking – daran interessiert, eine Eskalation des globalen Handelskriegs zu verhindern. Doch Trump will Europa auf seine Seite ziehen, indem er alles daran setzt, Europa zu spalten. Europa kleinzuhalten steht für Trump ganz oben auf der Agenda, denn Washington will unter Präsident Trump alle Blockbildungen gegen den US-Protektionismus aufbrechen. Die USA setzen dabei auf die Rechtspopulisten in Europa und wollen mithilfe von Tech-Oligarchen wie Elon Musk neue Rechtsparteien in Europa aufbauen und nach eigener Agenda gegen die EU in Stellung bringen.

China will aber mit Deutschland und Europa in einer multilateralen Weltordnung zusammenarbeiten. Eine Fragmentierung der Weltwirtschaft nützt weder China noch Europa. Wenn Europa sich seine Handelspolitik nicht von Washington diktieren lassen will, muss es für eine Balance zwischen den USA und China sorgen. Chinesische Unternehmen wollen ihre Aktivitäten in Europa ausbauen, da der US-Markt für viele Branchen aufgrund strenger Regulierungen ohnehin immer schwieriger geworden ist. In der Russlandfrage muss Europa endlich selbst die Initiative ergreifen, um die Beziehungen zu Moskau zu rehabilitieren. Letztlich geht es beim Ukraine-Krieg um die Sicherheitsarchitektur in Eurasien. Das setzt voraus, dass Europa militärisch aufrüstet und sich gleichzeitig von den USA löst.

Über den Autor

Seyed Alireza Mousavi

Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.

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