Männer, Militanz, Megaprozession: Die neue russische Frömigkeit
In Moskau zog eine zehntausendköpfige Prozession unter goldenen Bannern durch die Innenstadt. Gebet, Tradition und nationale Identität verschmolzen dabei zu einer eindrucksvollen Inszenierung. lia Ryvkin schildert seine Eindrücke.
Prozession in der russischen Hauptstadt unter der Leitung von Patriarch Kirill von Moskau und ganz Russland im Rahmen der Feierlichkeiten zur Kathedrale der Moskauer Heiligen Anfang September.
© IMAGO / Russian LookEin sonniger Herbsttag in Moskau. Im Wind wehen rote Banner mit dem Bild des „Spas Nierukotvornyj“ (des nicht von Menschenhand geschaffenen Erlösers). Aus den Lautsprechern ertönt ein diakonaler Bass; die Gebetsverse der orthodoxen Litanei rollen in rhythmischen Wellen.
Die Wolchonkastraße – eine kurze historische Straße am Ufer der Moskwa, bekannt durch die Christi-Erlöser-Kathedrale – ist völlig verstopft; es ist kein Durchkommen. Die Sonne schlägt hell und direkt auf das Gold der Kuppeln, und über der Stadt erhebt sich ein uralter, kräftiger Lichtschein, der einen aufstehen, sich bekreuzigen und ohne Zweifel dem Weg folgen lässt, wohin er führt.
Ein Kreuzweg als Volksfest
Um weiterzugehen, zur Spitze der Kolonne, die vom Priestertum und vom Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Kirill, persönlich geleitet wird, muss ich an Reihen kräftiger Männer in schwarzen Poloshirts vorbeigehen. Die Poloshirts wirken wie kultische Fred-Perry-Modelle, sind jedoch mit dem Emblem der Organisation „Russische Gemeinschaft“ versehen. Diese versteht sich selbst als russisches, nationales Lobbynetzwerk. Grob gesprochen kann sich der deutsche Leser das als Pendant zu Ein Prozent e.V. vorstellen — allerdings mit einem ausgeprägten militanten Flügel und einer stark religiösen Komponente.
Einer der engsten Vertrauten des Patriarchen Kirill ist sein Vikar, Erzbischof Savva von Zelenograd; er unterstützt die Bruderschaft offen als Gegenpol zu den in letzter Zeit zunehmend sichtbaren Aktivitäten nicht-russischer Diasporen. Bilder, auf denen mehrere tausend betende Muslime während ihrer Feste die Straßen der Hauptstadt überfluten, wirken von Jahr zu Jahr beunruhigender. Die Kirche kann noch so viele Gotteshäuser errichten – doch wenn ethnische Russen ihre Stadt den Fremden überlassen, droht diesen schönen Gebäuden das Schicksal ihrer großen Schwester, der Hagia Sophia in Konstantinopel: Früher oder später werden sie in muslimische Gebetsstätten umgewandelt. Diese Perspektive hat die Kirchenhierarchie in einen Schulterschluss mit nationalistischen Kräften getrieben.
Zwischen Glauben und Macht
Die Jungs von der „Russischen Gemeinde“ sind mir zuvor in Jekaterinburg begegnet, bei einem Kreuzweg in der Nacht des Gedenkens an die Ermordung der Zarenfamilie. Kräftig und sportlich, offenbar nüchtern, in dunkler taktischer Uniform und hervorragend ausgerüstet, bewachten sie die Veranstaltung souverän und professionell. Die „Russische Gemeinschaft“ ist die größte, aber nicht die einzige rechte Gruppe, die beim Zug zu Ehren der Moskauer Heiligen vertreten ist.
Nicht weit von mir schwenken die roten Reihen der Vereinigung „Sorok Sorokov“ (die Bewegung „Vierzig mal Vierzig“) — so nannte man einst die alte russische Hauptstadt wegen der Fülle goldener Kuppeln; Zünfte und Kaufmannsgilden, Stadtviertel und Siedlungen orientieren sich an den Kirchengemeinden. Die Bewegung „Vierzig mal Vierzig“ setzt sich heute für den Bau von mehreren hundert orthodoxen Kirchen in Moskau ein. Angesichts der enormen Boden- und Baukosten stellen skeptische Anwohner die Frage, ob sich diese Projekte allein mit Frömmigkeit erklären lassen.
Militanz und Spiritualität
Unter goldenen Bannern mit dem Doppeladler versammeln sich Anhänger aus verschiedenen Gruppierungen, die dem Philanthropen und konservativen Medienmagnaten Konstantin Malofejew unterstehen, dem Eigentümer des rechten Senders „Tsargrad“. Eine der zu ihnen gehörenden „russischen Gefolgschaften“ sieht sich in gewissem Maße als Alternative zur „Russischen Gemeinschaft“. In Jekaterinburg wurde ich Zeuge eines drohenden Bruderzwists zwischen beiden, der fast in eine körperliche Auseinandersetzung mündete. Eine weitere Gruppe, die von Konstantin Malofejew gefördert wird und beim Kreuzweg vertreten war, ist die studentische „Bruderschaft der Akademisten“; sie versucht, die betende Studentenverbindung der Zarenzeit wiederzubeleben.
Glaube als Identitätsbekenntnis
Doch der größte Teil der Anwesenden sind keine Aktivisten, sondern das einfache Moskauer Kirchenvolk: Frauen mit hellen Kopftüchern, kinderreiche Familien. Und gleich treffe ich auf eine Bekannte, die ich jahrelang nicht gesehen habe.
„Warum bist du hier?“ – „Ich bin orthodox, also wollen wir zusammenstehen und unsere Kirche unterstützen. Zehn Jahre lang war nichts – und jetzt ist das der erste Kreuzweg in Moskau mit dem Patriarchen.“
„Außerdem ist diese Veranstaltung den Moskauer Heiligen gewidmet, den Schutzpatronen unserer Stadt“, sagt ein Mann in einem groben Leinenhemd mit seitlicher Knopfleiste — einem schlicht volkstümlich geschnittenen Oberteil. „Wir leben alle hier, das ist unsere Stadt. Die Moskauer Heiligen beten für uns.“ Die innige Glaubenshaltung des Mannes und sein offenes, slawisch gezeichnetes Gesicht rühren mich. Gleichwohl denke ich, dass neben reiner Spiritualität noch andere Motive die Menschen veranlassen, an der Prozession teilzunehmen.
Der innere Frontverlauf
„Warum muss man am kommenden Sonntag unbedingt am Kreuzweg teilnehmen, auch wenn man nicht besonders kirchlich ist und nicht sehr gläubig, sondern einfach ein russischer Mensch?“ – fragt sich ein gewisser Blogger, dem jede Irrationalität und jedes mystische Empfinden fremd zu sein scheint. – „Wir leben in einer Wendepunktzeit: Vor unseren Augen entfalten sich Ereignisse, von denen die Zukunft des Landes abhängt. Und nein, ich meine damit nicht nur die Spezialoperation; das Schicksal unseres Landes und unserer Kinder wird vor allem an der inneren Front entschieden, die sich durch die großen russischen Städte zieht. Ich spreche von der massenhaften, kulturfremden Migration, die in wenigen Jahren bereits das ethno-konfessionelle Gleichgewicht in Moskau und anderen russischen Metropolen spürbar ins Wanken gebracht hat.
Und jetzt stehen wir an einem Scheideweg: Entweder Russland geht den westlichen Weg, und Moskau mit Petersburg verwandeln sich in Brüssel und Birmingham und verlieren ihr historisches Antlitz, das mit der christlichen Zivilisation verbunden ist. In diesem Fall würden Hijabs, Moscheen, halal-Angebote und Ghettos – in die Frauen in kurzen Hosen kaum Zugang hätten, wo auf offener Straße Schafe geschlachtet werden und aus Lautsprechern fünfmal am Tag der Azan erklingt – zum städtischen Landschaftsbild gehören.
Oder wir verwerfen dieses verrottete Modell des europäischen Multikulturalismus und halten an unseren traditionellen Werten fest. Das würde bedeuten, dass Zugezogene unter Androhung von Sanktionen ihre religiöse und nationale Andersartigkeit nicht offen zur Schau stellen, sondern perspektivisch die Kultur der russischen Mehrheit übernehmen müssen. Dann würde Moskau sein russisch-orthodoxes Antlitz bewahren.
Kirche als politisches Sprachrohr
Im Moment schwanken die Waagschalen. Die Aufgabe der russischen Zivilgesellschaft ist es, die Lage in die gewünschte Richtung zu kippen. Aber wenn fast jede Aktivität in diese Richtung verboten ist, ist das äußerst schwierig. Sind alle politischen Gesprächswege abgeschnitten, bleibt die Kirche de facto das einzige legale Mittel, mit dem Russen noch Gehör und politische Ansprüche durchsetzen können.
Indem der Patriarch wiederholt vor der Migrationsgefahr warnt, tritt er de facto an die Stelle der nationalen Politik; deren Vertreter fehlen aus offenkundigen Gründen aktuell – weder als Kandidaten noch als Redner sind sie sichtbar.
Im Grunde ist der Kreuzweg unter seiner Führung heute unsere einzige Chance, der Staatsmacht zu zeigen: Wir existieren, wir sind viele, mit uns muss gerechnet werden; Moskau ist eine russische, eine orthodoxe Stadt und soll es bleiben.”
Ein neues Gesicht des Glaubens
Dann setzt sich die zehntausendköpfige Prozession in Bewegung, begleitet vom uralten Hymnus „Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!“, und zieht durch das Zentrum der alten, glänzenden Metropole Russlands Richtung dem Nowodewitschi-Kloster. Politische Parolen sind bei einem religiösen Zug nicht üblich; doch in den Pausen zwischen den rhythmischen liturgischen Formeln schallt über den Menschenstrom, breit wie die schiffbaren Flüsse, die das Land durchziehen, donnernd: „Wir Russen, Gott mit uns!“ — ein Schlachtruf aus den Zeiten des Generalissimus Suworow und der Kaiserin Katharina der Großen.
Vereinzelt blitzt Tarnkleidung und Symbolik auf – Zeichen bewaffneter Formationen, die in der Ukraine kämpfen. Ich laufe mitten unter vielen jungen Leuten. Eine schlanke junge Frau, vermutlich Studentin, hält eine mit einem heimgewebten Tuch bedeckte Ikone des heiligen Zaren Fjodor Iwanowitsch; ein heller Haarstrang löst sich aus dem Kopftuch, und ihr vom späten Septemberlicht erhelltes Antlitz zeigt stilles Glück. Betrachtet man das durchschnittliche Teilnehmerbild, stellt man fest, dass das Klischee der frommen Babuschka ausgedient hat; heute dominiert das Bild des Kirchgängers als stabiler Familienvater und Verteidiger der Nation.
Zeichen des Aufbruchs
Unter den weißen Mauern des Nowodewitschi-Klosters endete der Kreuzweg mit Fürbitten für Regierung und Streitkräfte des von Gott behüteten Vaterlandes. Der Zug lässt sich nicht als unausgesprochener Protest abtun; dennoch wirkte die Atmosphäre in manchen Fluren des Präsidialamtes seitdem angespannter – wie nach jeder eigenständigen Volksmobilisierung. Auch dieses Mal eilten die üblichen Verdächtigen auf den Staatskanälen voraus und sahen in dem Slogan „Wir Russen, Gott mit uns!“ eine Provokation.
Es ist schwierig, zugleich einen Krieg zu führen – dessen einziger Sinn die russische Irredenta, die Wiederherstellung der Einheit des Volkes auf dem angestammten Gebiet, sein soll – und gleichzeitig auf den multinationalen Charakter des russländischen Volkes zu pochen, was faktisch ein Platzhalterbegriff für Ersatzmigration ist.
Ein Mahnzeichen an den Staat
In der Kontroverse setzte Patriarch Kirill – wenn nicht einen Schlusspunkt, so doch einen eindrucksvollen Gedankenstrich: „Der Kreuzweg ist zu einem Mahnzeichen geworden – für jene Zweifler und für diejenigen, die zynisch die Zahlen vorwegnahmen und sagten: ‚Na ja, dort werden höchstens fünfzigtausend zusammenkommen, die sich mit Kirill vereinen.‘ Als jedoch vierhunderttausend vorbeizogen, gerieten sie in Panik. Wir sind nicht eitel wegen der Zahlen, doch man darf sie nicht verschweigen. Keine andere Metropole – kein Land, nicht einmal christliche – böte heute etwas Vergleichbares.“