Das Dilemma Georgiens: Ein Land zwischen Tradition und westlichem Druck
In Georgien trifft die Schönheit der Landschaft auf die Herausforderungen eines politischen Konflikts, der die Identität des Landes prägt. In seinem Kommentar für FREILICH beleuchtet Ilia Ryvkin das Spannungsfeld zwischen westlichen Einflüssen und georgischen Unabhängigkeitsbestrebungen.
Als ich die Flughafenhalle verlasse, hängt die kaukasische Sonne schwer am Himmel wie eine reife Frucht des Südens. Im Shuttlebus auf dem Weg in die Hauptstadt wird mir vom drückenden Wetter schwindelig. Ich nicke ein. Als ich wieder aufwache, durchquert der Bus bereits mit waghalsigem Tempo Brücken und Tunnel, die sich durch Bergschluchten schlängeln. Die Juli-Sonne brennt hier am Kaukasus wie die intensivsten Gewürze der Region.
Nach einer Weile blicke ich auf das Kura-Tal, getaucht in rosa Abendrot. Am Straßenrand bieten Händler süße Traubenreben an, Bündel frischer Kräuter und leuchtend rote Krüge für den hausgemachten Wein. Gelegentlich zieht eine Schafherde, wie eine Wolke, gemächlich über die Hänge.
Manchmal hält der Kleinbus an einer Kurve und wartet auf einen Anlieger. Eine ältere Bäuerin steigt ein und setzt sich neben mich. Es scheint, als seien diese sporadischen Mitfahrer von der Fahrgeldpflicht befreit. Die Frau erkennt mich als Reisenden und fragt, wie mir Georgien gefällt. „Georgien ist ein Paradies“, sage ich.
Abendstimmung und Traditionen im Kura-Tal
Alte Burgen wachen von den Klippen am Straßenrand, während die Täler mit Siedlungen aufwarten, aus deren Mitte eine rosafarbene Kirche ragt. Hier hat sich das Leben in die diskrete Welt der halbgeschossigen, mit Weintrauben bewachsenen Gartenhäuser zurückgezogen. Über manchen Fassaden flattert die Wäsche im Wind. Die Bewohner dieses Tales wissen noch um Himmel und Erde, woher der Mensch kommt und wohin er geht. Die neumodischen Dogmen werden bei ihnen kein Gehör finden.
So nähern wir uns Tiflis, dessen Vorstädte mit ihrer planlosen Bebauung kaum von den Vororten anderer nahöstlicher Metropolen zu unterscheiden sind. Am Busbahnhof finde ich rasch einen Onkel, der mich ohne Navigation zur Unterkunft kutschiert. Wenn jemand auf der Fahrbahn bremst, hat mein Fahrer immer die richtigen russischen Schimpfwörter parat. Kaum auf der Straße wird schnell deutlich, zu der urbanen Misere Tiflis' gesellt sich eine neue Plage: Überall, wie Hämatome, finden sich Graffiti in ukrainischen Farben, die den Hass auf Putin und Russland zur Schau tragen. Gleichzeitig prangt der Spruch „Fuck NATO“ an den Hauswänden. Häufig ist das Grafit der georgischen Nationalflagge zu sehen, flankiert von den Flaggen der EU, der NATO und der Ukraine, wobei die drei letztgenannten oft durchgestrichen sind.
„Was soll das denn bitte?“, frage ich meinen Fahrer, während ich über die bunten Wände der Altstadt schaue. „Keine Ahnung, Bruder“, grinst er. „Irgendwer hat anscheinend mit Wandfarbe richtig abgeräumt. Er hat den Studenten die Schablonen in die Hand gedrückt, und jetzt kann man sich die Stadt nur noch aus der Ferne ankucken. Ich sage ja nicht, dass man die Russen lieben muss, aber hey, Bruder, das hier ist nicht die Ukraine, das ist Georgien!“
Tiflis und die Spuren des politischen Konflikts
In vielen Ecken der Welt habe ich festgestellt, dass die Menschen, die kulturell zu mir passen – die ähnlichen Bücher gelesen und meine Musik- und Filmvorlieben teilen – politisch selten auf einer Wellenlänge sind. Ich bin nicht gerade progressiv. Heute, während ich mit einem alten Freund, einem georgischen Filmemacher, durch die nächtlichen Gassen flaniere, wird mir dies auf eine besondere Weise bewusst. Unser Gespräch lenkt sich auf die Proteste, die im Frühjahr ausbrachen, als das Parlament das Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedete. Einer der Freunde meines Begleiters, ein talentierter Musiker, erlitt während der Proteste eine schwere Armverletzung.
Ich erinnere mich daran, wie die Georgier der geschätzten Frau Baerbock damals einen unglaublichen Schmerz zufügten: „Es tut mir unglaublich weh, dass die georgische Regierung mit einem Gesetz diesen großen Traum ihrer Leute – vor allem der Jugend – blockiert hat, sich auf den Weg in die Europäische Union zu machen“, klagte die Ministerin.
Es geht darum, dass Organisationen und Medien nun ihre ausländische Finanzierung melden müssen, sobald diese über 20 Prozent liegt. Die Opposition und der Westen haben das Gesetz als „russisch“ gebrandmarkt. „Ein russisches Gesetz?“ Genauso gut könnte man sich auch gegen das Zähneputzen auflehnen, denn Putin tut das wahrscheinlich auch jeden Tag.
Transparenz – darum ging es den Parlamentariern, ähnlich wie beim US-amerikanischen Foreign Agents Registration Act (FARA). Die Regelung für Georgien schien längst überfällig – die Zahlen sprechen Bände: Schätzungen zufolge operieren zwischen 6.000 und 25.000 NGOs im Land, finanziert von Akteuren wie USAID, der Open Society Foundation und dem European Endowment for Democracy (EED). Klingt überschaubar? Weit gefehlt – in einem Land mit etwa drei Millionen Einwohnern steht jede dieser fremdgesteuerten Organisationen rechnerisch gerade einmal 150 bis 400 Bürgern gegenüber. Unabhängigkeit wird wie eine Parole skandiert, doch leise spinnt sich das Netz der ausländischen Strippenzieher – ein Muster, das sich in Osteuropa schon oft gezeigt hat.
Schweigend schlendern wir an einer Werbetafel vorbei, die zur Unterzeichnung eines Armeevertrags aufruft. Das Bild wechselt, und statt georgischer Krieger aus verschiedenen Epochen erscheint eine Werbung für Coca-Cola. Coca-Cola, so erzählt mein Begleiter, war Sponsor der Frühjahrsproteste. Doch als die Regierungspartei das Agentengesetz verabschiedete, zogen sich die Demonstranten zurück. Die Revolution scheint wohl vertagt – auf die Zeit nach den Wahlen im Oktober.
Proteste und das Ringen um Identität und Einfluss
Nun ist es Oktober, und die Regierungspartei „Georgischer Traum“ hat ihren triumphalen Einzug mit einer deutlichen Mehrheit ins Parlament vollzogen. Die Opposition und der Westen verlieren die Fassung: In ihrer Verzweiflung wittern sie die Hand Moskaus. Ob das stimmt? Die Partei hätte wirklich gerne den Europakurs fortgesetzt, doch die Brüsseler Forderungen, die eigene Souveränität gegen leere Versprechungen einzutauschen, gehen einfach zu weit. Das Ukraine-Szenario ist ein Beispiel, das sich jedem aufdrängt. Soll man für das Regenbogenfähnchen zur Schlachtbank getrieben werden? Der „Regenbogen“ fügt sich kaum in das traditionelle Farbschema dieses christlichen Volkes ein.
Der Versuch, der politischen Landschaft Georgiens ein ideologisches Koordinatensystem aufzuzwingen, sorgt für wenig Klarheit. Ein Mann, dessen langer Schatten über dieser Partei schwebt, ist der Oligarch Bidzina Ivanischvili. Seine skrupellose Art, mit der er in den Neunzigern Milliarden durch das Ausplündern des sowjetischen Erbes erwarb, wirft auch heute noch Fragen auf. Dennoch erscheinen mir seine Insideraussagen aus der Welt der globalen Finanzoligarchie durchaus schlüssig. Bei einem Auftritt auf einer Pro-Regierungs-Veranstaltung prangerte Ivanischvili den „liberalen Faschismus“ und die „globale Kriegspartei“ an, die seiner Meinung nach sowohl für den russisch-georgischen Konflikt im August 2008 als auch für die Ukrainekrise verantwortlich seien. Er behauptete, eine „ausländische Agentur“ habe zwischen 2004 und 2012 die georgischen Machthaber ernannt.
Was die Anführerin der vereinigten Opposition, Madame Salome Surabischwili, betrifft, so begann die gebürtige Pariserin ihre Karriere als Beamtin beim französischen Auslandsgeheimdienst DGSE. Nach ihrer einjährigen Tätigkeit als französische Botschafterin in Tiflis erhielt sie 2004 die Staatsbürgerschaft „dieses Landes“, wie sie Georgien nennt, und wurde anschließend zur Präsidentin ernannt – eine Karriere, die der eines mittelalterlichen Kondottiere würdig ist. Wer sonst könnte ein Land führen, das pausenlos nach Unabhängigkeit schreit, als eine Ausländerin, eine Agentin? Doch dieser Jason im Rock hat es offensichtlich schwer, das kolchische Volk für sich zu gewinnen.
„Obwohl wir keine Beweise für eine russische Einmischung in die Wahlen haben, hatten die USA auch keine. Der Nachweis solcher Aktivitäten ist immer schwierig. (…) Entscheidend ist jedoch nicht, welche Beweise wir liefern, sondern was die georgische Bevölkerung wahrnimmt und empfindet“, so Surabischwili.
Ein Gesetz spaltet die Nation: Der Einfluss des Westens und Russlands
Es gibt tatsächlich keine Beweise für eine russische Einflussnahme oder Wahlmanipulationen, abgesehen von einem einzigen offensichtlich inszenierten Vorfall. Für Madame Surabischwili scheint das alles ebenso irrelevant wie das Zeugnis von 1.600 Wahlbeobachtern der PACE. Weitaus entscheidender erscheinen ihr die Erklärungen der Vertreter Estlands, Schwedens und der Ukraine zur Nichtanerkennung der Wahlergebnisse. Auch Boris Johnson rief die Georgier auf, „nicht aufzugeben“. Genau auf den Stufen des Chatham House hatte Frau Surabischwili im Frühjahr erklärt, dass sie einen möglichen Sieg des „Georgischen Traums“ nicht anerkennen würde.
Ohne jegliche Berücksichtigung des Willens des georgischen Volkes, der ihnen schlichtweg egal zu sein scheint, planen die Wahlverlierer, ein alternatives Machtzentrum zu schaffen. Die „westlichen Partner“ genehmigen der Möchtegernregierung bereits ihren Segen. Ernsthaft an einen Machtwechsel glaubt niemand mehr. Die Ära der „friedlichen Revolutionen“ ist endgültig passé, jetzt geht’s ans Eingemachte. Im besten Fall wird dieser ganze Zirkus gen Westen ziehen und sich den „Exilregierungen“ aus Weißrussland und Venezuela anschließen. Schlimmstenfalls könnte Madame Surabischwili den Bürgerkrieg als den ultimativen „Plan B“ vorstellen.
Auch Iwanischwili informierte die Öffentlichkeit darüber, wie der Westen Georgien auffordert, sich den ruinösen Sanktionen anzuschließen und langfristig eine zweite Front gegen Russland zu eröffnen. „Und wie lange werden wir durchhalten?“, fragte der ehemalige Regierungschef Garibaschwili einen ungenannten westlichen Beamten. „Ein paar Tage durchhalten und dann zum Guerillakrieg übergehen.“ Die bergige Topografie Georgiens ist zweifelsohne ideal für Guerillakrieg. Doch das georgische Volk scheint sich nicht allzu bereit zu fühlen, sich für die Interessen fremder Mächte zu opfern. Die Wahlen erwiesen sich somit tatsächlich als Referendum über Krieg oder Frieden.