Entscheidung zwischen Illusion und Wahrheit: Harris, Trump und der Schatten des Krieges

Angesichts der bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen reflektiert der Autor Ilia Ryvkin in seinem Kommentar für FREILICH über seine Identität und die Wahlmöglichkeiten in den USA, wo er im Traum zwischen Trump und Kamala Harris pendelt.

Kommentar von
4.11.2024
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5 Minuten Lesezeit
Entscheidung zwischen Illusion und Wahrheit: Harris, Trump und der Schatten des Krieges

Trump und Harris bei der Debatte Anfang September in Philadelphia.

© IMAGO / ZUMA Press Wire

Ein Amerikaner? Nein, das bin ich sicher nicht. Alles andere – je nach Lage passt die Identität sich an – aber Amerikaner? Das geht dann doch zu weit. Anders sieht es mein Traum-Ich: Wenn es sich vom Käfig der Körperlichkeit löst, tauscht es den Anzug gegen einen Filzhut und Reitstiefel, bereit für den Ritt durch den endlosen rosagrauen Canyon. Ein Dickicht aus Chaparral, irgendwo eine leere Patronenhülse. Am Horizont taucht ein Wahllokal auf, wo auch andere Helfer auf einen Wahlbeobachter warten. Mein Traum-Ich bleibt immer cool. Und es zielt gut.

Träume am Fließband

Wo könnte man sich im Traum besser fühlen als in dem Land, das Träume am Fließband produziert? In nigerianischen oder indischen Traumfabriken wäre man fehl am Platz, und in den europäischen? Vielleicht könnte ich, wie in Krachts „Toten“, eine imaginäre Riefenstahl-Eisenstein-Achse nachzeichnen – wenn ich noch träumen würde. Doch jetzt bin ich wach, sitze in meiner Küche im Wedding und trinke Kaffee, einen Americano.

Dann schalte ich das ZDF ein, einen der Distributoren all dieser schizoiden Traumproduktionen. Es wird gefragt, wie die Deutschen wählen würden, wären sie Amerikaner. Die Antwort ist eindeutig: 83 Prozent bevorzugen Kamala Harris als Präsidentin, während nur zehn Prozent Donald Trump unterstützen würden. Diese Meinung zieht sich durch alle soziodemografischen Gruppen. Interessanterweise wünschen sich unter den AfD-Anhängern 57 Prozent Donald Trump.

Alles klar. Mein Traum-Ich steht bereit, als Wahlbeobachter tätig zu sein – mitten in einem Wahllokal einer entrechteten Provinz oder eines Militärdistrikts, wo es hoffentlich gestattet ist, die Knarre mit reinzunehmen. Schließlich ist der Colt, „The Great Leveler“, die wahre Basis jeder echten Demokratie.

„Die Lage ist dramatisch“

Und was ist mit den Russen? Solch peinliche Rituale wie Umfragen im Staatsfernsehen – „Wen würden Sie wählen, wenn Sie die Möglichkeit hätten, die Sie natürlich nicht haben, haha...“ – strahlt der Ostankino-Turm wohl kaum in die endlose Weite der nordeurasischen Schneewüste. Aber träumen? Russische Träume werden letztlich aus denselben Produktionsstätten geliefert wie westliche, nur in anderer Verpackung und mit abweichenden Bedingungen.

Emir Kusturica, der Regisseur, der durch Filme wie „The American Dream“ internationale Anerkennung erlangte, hat einst treffend formuliert: „Die Lage an Russlands Grenzen ist dramatisch: Heute stehen weit schwerere militärische Kräfte auf, als sie Hitler einst auffuhr. Dank der modernen Medien sind die massiven Truppenbewegungen rund um Russland für jedermann sichtbar – nur was nicht klar ist, sind die wahren Absichten. Man zeigt uns das Bild, aber über die Gründe hüllt man sich in Schweigen. Das Bild einer angeblich rein defensiven NATO wirkt dabei so glaubwürdig wie ein Vorwand zur Einkreisung. Die Unvollständigkeit der Informationen ist Teil der Strategie, uns im Dunkeln über die Hintergründe zu lassen.“

Trump oder Harris?

Und falls mein Traum-Ich an die Wahlurne müsste, wer wäre wohl seine Wahl, bitteschön, Trump oder – ich suche einen Moment nach der richtigen Bezeichnung für den Schatten des selbstfahrenden Greises – oder Madame Kamala Harris? Jemand anders würde eine Tarot-Karte konsultieren; ich hingegen ziehe mein eigenes Orakel in Betracht und mache einen Anruf. Im Hörer klingt die Stimme, die mir aus unzähligen Vorlesungen über Geopolitik und den Traditionalismus, aber auch aus Liedern vertraut ist; Herr Professor ist nämlich auch Liedermacher. Eine Stimme, die zuweilen raue oder ironische Nuancen annimmt – die Stimme eines Zauberers: Alexander Geljewitsch Dugin:

„Unser Präsident, Wladimir Wladimirowitsch Putin, und ich wissen ganz genau, wie wir im Westen wahrgenommen werden. Der Westen hat uns auf perverse Weise die Rolle des Dr. Evil zugewiesen: Alles, was wir loben, wird als schrecklich empfunden. Wenn man diesen Status akzeptiert, wird klar, dass alles, was wir sagen, im Wesentlichen ins Gegenteil verkehrt wird. So hat Putin Biden unterstützt, was einen ironischen Twist hat: Hätte er Trump unterstützt, wäre dieser möglicherweise von der Wahl ausgeschlossen worden. Wenn ich tatsächlich die Möglichkeit hätte zu wählen, würde ich verkünden, dass ich Harris unterstützen werde. Nicht, um sie gewinnen zu sehen, sondern um das negative Bild, das dank Harris, Biden und all ihrer liberalen Clique über uns entstanden ist, umzukehren. All die skurrilsten Charaktere in Amerika, all die politisch inkorrekten, alle, die von diesen liberalen Kräften verteufelt werden, sollten vielleicht einen 'Kamala Harris Club' gründen: 'Kannibalen für Kamala Harris', 'Serienmörder für Kamala Harris', 'Triebtäter für Kamala Harris'.“

Die Demokraten sind nützlicher

„Putin und ich werden von den globalistischen Eliten in die Rolle des Dr. Evil gedrängt, und wenn Dr. Evil für Kamala Harris ist, könnten die normalen Menschen die richtige Wahl treffen. Denn wenn ich sage, dass ich Trump unterstütze, könnte das dazu führen, dass Trump ins Gefängnis kommt oder vergiftet wird, unter dem Vorwand, er sei ein russischer Spion. Putin hat das gut erkannt und gesagt, dass er es lieber mit Kamala Harris zu tun hätte. In dieser sarkastischen Antwort könnte ein Funken Wahrheit stecken. Für Russland, das sich im Krieg mit dem Westen befindet, sind die Demokraten nützlicher, und ich würde sogar pragmatisch für sie stimmen. Trump ist ein starker Mann, der der Souveränität seiner Nation verpflichtet ist, und angesichts unseres Konflikts mit dem Westen ist er in gewisser Weise noch gefährlicher für uns. Daher würde ich Harris unterstützen, damit Amerika schneller als später zusammenbricht. Ich wünsche mir nicht, dass Politiker wie Blinken, Biden und Nuland, die alles ruiniert haben und bei ihren Bemühungen gescheitert sind, Amerika noch eine Weile am Laufen halten, bevor es letztlich zusammenbricht.“

Ich muss das Telefonat unterbrechen, da es Neuigkeiten zu Wahlunregelmäßigkeiten gibt. Interessanterweise decken sich die Wahlpräferenzen der deutschen Traum-Doppelgänger mit denen von Dugin und Putin. Ob ihre Beweggründe den gleichen subversiven Unterton aufweisen, werde ich später untersuchen. Jetzt gilt es, die neuesten Meldungen zur Kenntnis zu nehmen: Das FBI hat Russland beschuldigt, sich in die US-Wahlen eingemischt zu haben – und das mit „irgendwelchen Fakes in Georgia“, die niemand zu Gesicht bekommen hat. Nein, nicht die Republik Georgien, sondern der Bundesstaat Georgia. In der Republik Georgien gab es natürlich auch vor einer Woche ähnliche Vorfälle, und das alles ganz ohne jegliche Beweise. „US-amerikanische Geheimdienste berichten, dass 'russische Einflussakteure' hinter einem verdächtigen Fake-Video eines haitianischen Mannes stehen, der behauptet, in Georgia 'mehrfach' abgestimmt zu haben.“

Krieg wird nicht an der Wahlurne beendet

Die Atmosphäre über dem Atlantik ist so geladen, dass, sollte einer der beiden führenden Präsidentschaftskandidaten in den kommenden Stunden vergewaltigt werden, sofort die Frage aufkommt: War es Putin persönlich oder sind es alle Russen, die dafür verantwortlich gemacht werden? Doch genug der Scherze.

Kein Krieg, den die Menschheit je geführt hat, wurde an der Wahlurne beendet; er folgt anderen Gesetzmäßigkeiten, ebenso wie die Machtverhältnisse in der Stadt auf dem Hügel. Der Friedensmessias wird bei den Wahlen nicht zur Abstimmung stehen. Dmitri Medwedew bemerkte dazu treffend, dass selbst der erschöpfte Trump, der Aussagen wie „Ich werde einen Deal anbieten“ und „Ich habe gute Beziehungen zu ...“ von sich gibt, gezwungen sein wird, alle systemischen Regeln zu befolgen. Er wird den Krieg nicht beenden können – nicht in einem Tag, nicht in zwei, nicht in drei Monaten. Und sollte er es tatsächlich versuchen, könnte er der neue JFK werden.

Es sind nicht die Namen auf dem Wahlzettel, die die Entscheidung treffen, sondern die Akteure, die sie auf diesen Zettel setzen: ein schwer durchschaubares Geflecht aus Bürokraten, Lobbyisten und Bankern der Federal Reserve, das der Neoreaktionäre Curtis Yarvin als „Uniparty“ bezeichnete. Mir bleibt nur, der Reality-Show beizuwohnen, in der die Amerikaner zwischen russischen und ukrainischen Machthabern wählen müssen.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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