Nach dem Umsturz in Syrien: Dominieren Muslimbrüder und Israel den neuen Nahen Osten?

Die Machtbalance in der Region ist seit dem Gaza-Krieg ins Wanken geraten. Mit dem Sturz Assads in Syrien werden die Karten in der Region neu gemischt. Wird der neue Nahe Osten von Erdoğan und Netanjahu dominiert? Der Politikwissenschaftler Seyed Alireza Mousavi versucht in einer Analyse Antworten zu geben.

12.12.2024
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Es war eine der überraschendsten Wendungen im fast 14-jährigen Syrien-Konflikt, als islamistische Milizen in den vergangenen Tagen in einer Blitzoffensive Damaskus einnahmen. Mit dem Sturz von Präsident Baschar al-Assad durch die Miliz Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) hat im Nahen Osten eine neue Ära begonnen, die gravierende Folgen für die Region und die Weltpolitik haben wird. In den vergangenen Jahren hatte die Assad-Regierung im Syrien-Konflikt mithilfe Russlands, Irans und der Hisbollah mehr als zwei Drittel des Staatsgebiets von islamistischen Rebellen und kurdischen Separatisten zurückerobert.

Innerhalb weniger Tage überrannten die Islamisten die von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiete, ohne auch nur einmal auf Widerstand der syrischen Armee zu stoßen. Die Einnahme Syriens durch von der Türkei geführte Islamisten wird in naher Zukunft unabsehbare Folgen nicht nur für die syrische Bevölkerung, sondern für die gesamte Region haben. Davon zeugen nicht nur die israelischen Panzer, die mittlerweile nur noch 20 Kilometer von Damaskus entfernt sind. Viele Beobachter spekulieren, dass der Islamismus in Gestalt der Muslimbruderschaft in der Levante eine neue Renaissance erleben könnte.

Renaissance des Islamismus im Nahen Osten

Im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 pflegte die Türkei enge Kontakte zur Muslimbruderschaft, während die ultrakonservativen arabischen Staaten auf dem Status quo in der Region beharrten. Nun will Ankara in das Vakuum vorstoßen, das die Iraner in der Levante hinterlassen haben. Die Türkei will die Muslimbruderschaft in der Region wiederbeleben und damit faktisch die vom Iran angeführte Achse des Widerstands schwächen. Die reichen Golfstaaten beobachten das Wiedererstarken der Muslimbruderschaft in der Levante bereits mit Sorge.

Der Sturz Assads dürfte für die Türkei einen erheblichen Einflussgewinn in der Region bedeuten. Zwar steht nur ein Teil der siegreichen Islamisten unter ihrer direkten Kontrolle. Aber auch zur islamistischen Gruppe HTS bestehen seit langem geheimdienstliche Verbindungen. Ein islamistisch geprägtes Regime in Damaskus käme Erdoğan ideologisch entgegen. Ankara will sich nach dem Amtsantritt des designierten US-Präsidenten Donald Trump als unverzichtbarer Ansprechpartner der USA in der Region etablieren.

Die Türkei dürfte jetzt darauf drängen, dass der quasi autonome Status der kurdisch dominierten Gebiete im Nordosten Syriens revidiert wird. Denn aus türkischer Sicht hat die dortige Selbstverwaltung auch kurdische Autonomiebestrebungen in der Türkei befeuert. Auch die Rückkehr der syrischen Flüchtlinge in der Türkei in ihre Heimat steht auf der Agenda Ankaras. Sollte Ankara die Lage in Syrien nicht in den Griff bekommen, droht allerdings eine erneute Verschärfung der Flüchtlingskrise im Land. Denn derzeit ist völlig unklar, ob die Islamisten unter Führung der HTS in der Lage wären, regierungsfähig zu agieren.

Hauptnutznießer des Assad-Sturzes sitzt in Tel Aviv

Hauptnutznießer des Assad-Sturzes ist Israel. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu hat in seiner jüngsten Rede zum Waffenstillstand mit der Hisbollah Assad vorgeworfen, mit dem Feuer zu spielen. Nach dem Einmarsch der Islamisten in Damaskus prahlte Netanjahu, Assads Sturz sei ein „direktes Ergebnis der Schläge, die wir dem Iran und der Hisbollah versetzt haben“. Dies habe eine „Kettenreaktion“ im Nahen Osten ausgelöst.

Es wird nun erwartet, dass Israel die Pufferzone zwischen beiden Staaten auf den Golanhöhen ausweitet und damit de facto weitere syrische Gebiete besetzt. Derzeit befinden sich Truppen der IDF auf dem Vormarsch in Richtung Damaskus. Vieles deutet seit langem darauf hin, dass Israel bereit ist, sich Gebiete seiner Nachbarn ohne Rücksicht auf das Völkerrecht gewaltsam einzuverleiben. Gleichzeitig bombardiert Israel seit dem Sturz Assads immer wieder Waffenlager in Syrien. Netanjahu hat bereits die fast vollständige Zerstörung der militärischen Kapazitäten des Nachbarlandes angeordnet. Die Marine des Nachbarlandes sei fast vollständig versenkt worden, so der israelische Verteidigungsminister Israel Katz. Der US-Verbündete Israel griff zudem Forschungszentren, Waffenlager, Flughäfen und Luftflotten in Syrien an.

Alles, was die syrische Armee über Jahrzehnte gehalten und aufgebaut hatte, wurde durch israelische Luftangriffe zerstört. Die Islamisten haben sich bisher weder zum Einmarsch der IDF in Syrien, noch zu den Luftangriffen auf syrische Militäreinrichtungen geäußert. Stattdessen erklärte HTS-Führer Abu Muhammad al-Dschaulani in seinem jüngsten Interview mit dem Nachrichtensender Sky News, die Gefahr für Syrien gehe von der Assad-Regierung und den pro-iranischen Milizen aus. „Ihre Beseitigung ist die Lösung“, so der Islamist.

Ende der iranischen Ordnung in der Levante

Für den Iran steht in Syrien viel auf dem Spiel. Das Land war bisher Aufmarschgebiet für die Milizen der sogenannten Achse des Widerstands, die vom Iran gesteuert werden. Syrien war Drehscheibe für Waffenlieferungen und integraler Bestandteil jenes Landkorridors vom Iran bis in den Libanon und an die Grenzen Israels, den die iranischen Revolutionsgarden in jahrelanger Arbeit für den Machtausbau des Iran geöffnet haben.

Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Iran trotz der Schwächung der Hisbollah zunächst noch in der Lage war, schiitische Milizen aus dem Irak nach Syrien zu verlegen, um den islamistischen Vormarsch gewissermaßen einzudämmen beziehungsweise zu verlangsamen. Stattdessen begann der Iran jedoch, militärisches Personal aus Syrien abzuziehen. Die Beziehungen zwischen dem Iran und Syrien haben sich in den letzten Monaten verschlechtert, da Assad sich im Zuge des Gaza-Krieges Russland angenähert hatte und nicht mehr bereit war, im Rahmen der von Teheran geführten Widerstandsachse zu agieren.

Zuletzt hatte Assad die Iraner verprellt, als er kurz nach dem Wiederaufflammen des Konflikts in Syrien ohne sein Kabinett und rein privat zu Konsultationen nach Russland reiste. Längst wird in Iran diskutiert, warum Teheran überhaupt noch für die Sicherheit Syriens sorgt und dort seine Proxys stationiert, während Damaskus sich mit den russischen Zielen in der Region arrangiert. Zudem sollen die Golfstaaten in Absprache mit den USA Assad kurz vor dem erneuten Ausbruch des Syrien-Konflikts „finanzielle Anreize“ für einen Bruch mit dem Iran angeboten haben. Doch Assad hat sich letztlich völlig verkalkuliert, dass eine Distanzierung vom Iran seine Herrschaft über Syrien retten könnte.

Angst vor libyschem Szenario in Syrien

Zwar ist der Iran derzeit weit davon entfernt, die Region zu dominieren. Er ist aber immer noch stark genug, um ein gewichtiges Wort mitzureden. Das hängt auch damit zusammen, dass die Führungsmächte wie Saudi-Arabien zwar eine iranische Vorherrschaft ablehnen, aber auch keine israelische Hegemonie in der Region wollen. Deshalb würden die Golfstaaten eine neue „Politik des maximalen Drucks“ der Trump-Administration gegen den Iran nicht mehr mittragen. Die neue Gemengelage dürfte sogar zu einer Annäherung zwischen Iran und den Golfstaaten führen. Die von Iran und Russland errichtete Ordnung in der Levante bröckelt, aber Netanjahu wird nur dann einen neuen Nahen Osten im Sinne des Westens begründen, wenn er ein alternatives Konzept anbietet, das die Golfstaaten und den Nato-Staat Türkei einbindet. Davon scheint er noch weit entfernt zu sein.

Syrien droht im Chaos zu versinken. Noch ist völlig unklar, ob die Islamisten unter Führung der HTS in der Lage sein werden, regierungsfähig zu agieren. Es wird erwartet, dass sie in Zusammenarbeit mit dem türkischen Geheimdienst in die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens einmarschieren, um die dortige Selbstverwaltung zu zerschlagen. Dagegen würden sich die Kurden wahrscheinlich wehren. Die Assad-Gegner im islamistischen Lager sind untereinander zerstritten. Die Brigaden, die aus der südlichen Provinz Daraa nach Damaskus marschiert sind, halten wenig von den islamistischen Milizen aus dem Norden. Die Islamisten und Rebellen in Südsyrien scheinen sich nicht der Herrschaft der HTS unterwerfen zu wollen, sondern wollen ihren eigenen Weg gehen. Das Chaos in Syrien wird die Sicherheitsbedenken der Türkei verstärken. Ein militärisch neutralisiertes Syrien würde jedoch die Macht Israels im Nahen Osten weiter drastisch erhöhen.

Über den Autor

Seyed Alireza Mousavi

Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.

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