Freilich #34: Am Weg zur Volkspartei?

Die AfD in der strukturellen Differenz von „Politischem Denken“ und „denkend handelnder Politik“

Wirkung entsteht nicht durch Wahrheit allein, sondern durch deren strategische Vermittlung im politischen System. Frank-Christian Hansel zeigt, warum die AfD nur dann hegemoniefähig wird, wenn sie Theorie und Taktik klug verbindet.

26.7.2025
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6 Minuten Lesezeit
Die AfD in der strukturellen Differenz von „Politischem Denken“ und „denkend handelnder Politik“

„Remigration“ ist für Hansel ein berechtigter Begriff – aber erst durch Vermittlung wird er politisch tragfähig.

© IMAGO / Emmanuele Contini

Als politischer Denker stehe ich voll und ganz hinter meinem metapolitischen Beitrag über „Remigration“, wie er im FREILICH-Magazin „Über die Sprache als Herrschaftsinstrument in der Postdemokratie“ publiziert wurde. Diese Analyse bleibt für mich unverzichtbar. Doch gleichzeitig erkenne ich als denkender Politiker die Notwendigkeit an, strategisch klug zu agieren – so wie es in dem Strategiepapier der AfD-Bundestagsfraktion deutlich wird, in dem der Begriff „Remigration“ nicht (mehr) auftaucht.

Diese Spannung zwischen metapolitischer Überzeugung und realpolitischer Klugheit soll in diesem Essay theoretisch aufgelöst werden – im Bewusstsein, dass beide Sphären ihre eigene Logik haben und nur durch eine kluge Vermittlung ihr volles Potenzial entfalten können.

Das politische Vorfeld – Zeitschriften wie Sezession, Plattformen wie FREILICH, Autoren wie Benedikt Kaiser oder Martin Lichtmesz – formulieren, was richtigerweise als wahr im emphatischen Sinne gesagt werden muss, auch wenn es im Realen der Politik nicht unvermittelt gesagt werden kann. Ihre Aufgabe ist nicht Taktik, sondern Tiefenschärfe. Die Partei hingegen muss – strategisch – gewinnen, um verändern zu können. Sie kann nicht mit Begriffen hantieren, die selbst in konservativen Milieus des Westens durch Jahrzehnte linker Diskurshoheit kontaminiert sind.

Hierin liegt nun aber eben keine Schwäche, sondern eine dialektische Stärke: Die eine Sphäre drängt auf Tiefe und Wahrheit, die andere auf Anschluss und Umsetzbarkeit. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden darf nicht als Widerspruch missverstanden werden, sondern muss als produktives Kräftefeld erkannt werden, das die Partei in lebendiger Bewegung hält.

Die produktive Differenz von Vorfeld und Partei

Die Alternative für Deutschland befindet sich – wie kaum eine andere politische Formation in der deutschen Nachkriegsgeschichte – dauerhaft in einem systemischen Doppelfeld: Sie speist sich ideell unter anderem aus einem metapolitischen Vorfeld, das Begriffe prägt, Narrative formuliert und Denkverbote auflöst. Gleichzeitig ist sie eine Partei im institutionellen Politikbetrieb, gebunden an Wahlen, Debattenregeln und mediale Anschlussfähigkeit. Daraus ergibt sich ein strukturelles Dilemma:

- Wenn sie zu sehr dem Vorfeld folgt, riskiert sie Isolation.

- Wenn sie sich zu sehr an den Spielregeln des Systems orientiert, droht Verwässerung.

Dieses Dilemma darf nicht moralisch, sondern muss strukturell verstanden werden. Es ist kein Zeichen von Zerrissenheit, von Entweder – Oder, sondern Ausdruck der Tatsache, dass zwei unterschiedliche Systeme aufeinander angewiesen sind – ohne dass sie sich vollständig überlagern können.

Das Vorfeld produziert semantische Innovation, Deutungshoheit und ideologische Tiefenschärfe – aber es generiert keine Mandate. Die Partei erringt politische Räume, Mehrheiten und institutionelle Sichtbarkeit – aber ohne geistige Orientierung droht sie dem Pragmatismus zu verfallen.

Der Schlüssel zur strategischen Wirksamkeit der AfD liegt daher nicht in der Entscheidung für das eine oder andere, sondern in der strukturintelligenten Vermittlung beider Sphären. Diese Vermittlung darf nicht zufällig, reaktiv oder individualisiert geschehen – sie muss als strategische Notwendigkeit begriffen und kultiviert werden.

Das bedeutet konkret: Theorie muss politisiert, aber nicht entkernt werden. Realpolitik muss geistig geerdet, aber nicht überfordert werden, Kommunikation muss differenzsensibel zwischen Adressaten wechseln. Beide Sphären, die jeweils für sich stehen, haben ihre eigene Logik. Und genau das zu begreifen, ist entscheidend. Nur so entsteht eine politische Kraft, die nicht nur Opposition bleibt, sondern langfristig hegemoniefähig wird – durchaus im Sinne Gramscis. 

Die strukturelle Differenz

Aus soziologischer Perspektive lässt sich die Spannung zwischen „metapolitischem Denken“ und „parteipolitischem Handeln“ nicht bloß als strategisches Problem begreifen – sondern als Ausdruck zweier strukturell unterschiedlicher, nicht kompatibler Systeme mit je eigenen Logiken und Codes. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns bietet hierfür einen aufschlussreichen Bezugsrahmen. Jedes gesellschaftliche Teilsystem – ob Politik, Recht, Wissenschaft, Wirtschaft oder Moral – operiert selbstreferenziell und stabilisiert sich durch interne Kommunikation, indem es seine Relevanz entlang eines spezifischen binären Codes organisiert:

Für die Politik lautet dieser Code: Macht / Ohnmacht.
Für die Wissenschaft: richtig bzw. wahr / falsch.
Für die Moral: gut / böse.

Was für die Wissenschaft als wahr gelten kann, ist damit nicht automatisch für das politische System relevant – es sei denn, es wird anschlussfähig unter dem Code der Macht. Und was moralisch geboten scheint, kann in der Logik des politischen Systems völlig folgenlos bleiben – oder sogar schädlich. In dieser Sichtweise ist die Metapolitik dem Wissenschaftssystem näher verwandt: Sie operiert mit Wahrheitsansprüchen, mit Deutung, mit Erkenntnis. Sie ist orientiert am Kriterium der inhaltlichen Plausibilität, der Tiefe, der Geschlossenheit des Arguments.

Die Partei- oder Realpolitik hingegen operiert unter dem politischen Code: Was erhöht Macht? Was sichert Einfluss? Was erzeugt Mehrheiten? Und das bedeutet: Wahrheit allein ist kein Kriterium für Relevanz im politischen System – wenn sie nicht zugleich mit Macht verknüpfbar ist.

Politisches Denken allein reicht nicht

Wer nur denkt, wird vielleicht bewundert – aber nicht unbedingt gewählt. Wer nur handelt, macht sich womöglich beliebt – aber verliert leicht die Richtung. Die AfD darf sich nicht entscheiden müssen. Sie muss beides können: aus der Tiefe schöpfen und in die Breite wirken. Das geht aber nur, wenn sie erkennt: Wahrheit und Wirkung sind zwei verschiedene Sprachen und Sphären. Wer das eine sagt, muss lernen, es ins Andere zu übersetzen, nicht zu verfälschen – sondern zu vermitteln.

Ein gutes Beispiel ist der Begriff „Remigration“. In der publizistischen und theoretischen Diskussion ist er sinnvoll und wichtig. Er beschreibt ein reales, drängendes Problem. Doch viele Menschen verbinden mit dem Wort etwas Abwehrendes – einfach, weil es nicht erklärt, nicht verankert, nicht vorbereitet wurde. Wenn solche Begriffe einfach „von oben herab“ in die Parteisprache eingeführt beziehungsweise übernommen werden, kann das mehr schaden als nützen. Es wirkt übergriffig, gesteuert. Und es kann der Partei den Vorwurf einbringen, sie wolle umstrittene Konzepte unmittelbar umsetzen.

Deshalb: Nicht jeder Gedanke aus dem Vorfeld gehört sofort ins Wahlprogramm. Aber jeder kluge Gedanke kann irgendwann anschlussfähig gemacht werden – durch Erklärung, durch Kontext, durch strategische Kommunikation.

Die Partei braucht Unabhängigkeit – aber keine Trennung

Die AfD muss und soll sich nicht vom metapolitischen Denken distanzieren. Aber sie muss eigenständig entscheiden, wann, wie und in welcher Sprache sie Gedanken aus dem Vorfeld aufgreift, wie im Strategiepapier der AfD-Bundestagsfraktion geschehen, in dem „Remigration“ nicht (mehr) vorkommt. Sie darf sich nicht vereinnahmen lassen – weder von außen noch von innen. Denn nur eine Partei, die aus sich selbst heraus wirkt, bleibt glaubwürdig. Zugleich aber darf sie den geistigen Fundus, den sie durch Autoren, Verlage, Institute, Aktivisten gewinnt, nicht abschneiden. Ohne dieses Fundament würde sie in Beliebigkeit und Anpassung abgleiten. Die Lösung heißt nicht Abgrenzung – sondern kluge, funktionale Vermittlung.

Politischer Erfolg entsteht durch Strukturgewinn

Die Aufgabe der kommenden Jahre lautet: Gedankentiefe übersetzen, ohne sie zu verlieren. Wenn sie das kann, vergrößert sie ihre Reichweite, ohne ihr Profil zu verwässern. Sie muss die (systemtheoretische) Differenz zwischen Tiefe und Breite, zwischen Vorfeld und Parteialltag, zwischen Analyse und Entscheidung verbinden. Darin liegt die strategische Intelligenz, die zur notwendigen strukturellen Mehrheit führen kann. Und das ist es, worauf es ankommt: Nicht nur auf Zustimmung – sondern auf Verankerung. Nicht nur auf Empörung – sondern auf Wirkung.

Epilog: Der „Fall Krah“

Maximilian Krah steht beispielhaft für das Risiko, wenn man beide Strukturebenen beziehungsweise Sphären nicht voneinander unterscheidet. Krah trat lange als Figur der Synthese auf: rhetorisch geschult, metapolitisch bewandert, eingebunden in das Vorfeldmilieu rund um Schnellroda. Er verstand sich – oder wurde verstanden – als jemand, der die diskursive Tiefe der Theorie mit dem Zugriff der Realpolitik verbinden konnte. Doch gerade in dieser Selbstinszenierung lag die Gefahr. Denn sie übersah eine fundamentale systemische Einsicht: Metapolitik und Parteipolitik gehören unterschiedlichen Sphären an. Sie folgen nicht, wie oben erörtert, denselben Spielregeln. Der Versuch, Begriffe wie Remigration direkt, ungebrochen und ohne strategische Vermittlung in die politische Kommunikation zu überführen, konnte nur scheitern.

Wenn Krah jetzt versucht, sich von diesen politische Geltung beanspruchenden Begrifflichkeiten zu distanzieren, wirkt das nicht klärend, sondern eher beschädigend. Krahs Rückzieher – in dem Moment, als der staatliche Druck stieg – war deshalb nicht nur taktisch unglücklich, sondern strategisch kontraproduktiv. Denn er ließ die Partei im Raum der Öffentlichkeit so erscheinen, als hätte sie tatsächlich geplant, einen theoretisch formulierten Ordnungsbegriff unmittelbar realpolitisch durch- und umzusetzen. Er stellt damit völlig unnötig – wenn auch ungewollt – die Partei als Ganzes unter einen (verfassungsschutzrelevanten) Generalverdacht, denn das dort Gesagte war so nie Programm. Was er übersah: Die mediale und politische Realität reagiert nicht auf Wahrheitsansprüche, sondern auf Anschlussfähigkeit im System der Macht. Was in metapolitischen Zirkeln als notwendige Begriffsschärfung gilt, wird im politischen Raum als Provokation, Angriffsfläche oder – schlimmer noch – als Indiz für eine angebliche „Absicht“ interpretiert, die nie so formuliert wurde. Darin liegt der lehrstückhafte Charakter seiner Tragik, sein Missverständnis über das Verhältnis von metapolitischer Wahrheit und parteipolitischer Wirkung. Nun sitzt er zwischen allen Stühlen. Sein Fall zeigt: Wer die Inkommensurabilität zwischen Wahrheitssystem und Machtsystem nicht anerkennt, riskiert, zum Störer beider zu werden. 

Was daraus folgt? Nicht Abschottung, nicht Abgrenzung, nicht Polarisierung – sondern Vermittlung: Zwischen Vordenkern, Vermittlern und Vollziehern, zwischen publizistischer Tiefe und taktischer Kommunikation. Zwischen dem, was notwendig ist, und dem, was zum gegebenen Zeitpunkt möglich ist.

Die Partei braucht Klarheit – und Klarheit heißt auch: Nicht jeder kann alles zugleich sein. Wer politisch wirken will, muss Strukturen verstehen und anerkennen. Und wer Verantwortung trägt, darf das Prinzip der funktionalen Differenz nicht aus Überheblichkeit oder Ungeduld außer Kraft setzen. Maximilian Krah hat diesen Punkt – vielleicht ungewollt – deutlich gemacht. Seine Tragik ist lehrreich. Nur wer Vermittlung als politisches Prinzip versteht, wird auf Dauer wirksam – und mehrheitsfähig.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Frank-Christian Hansel

Frank-Christian Hansel, Jahrgang 1964, ist seit 2016 für die AfD Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Der gebürtige Hesse studierte Politische Wissenschaften, Philosophie und Lateinamerikanistik.

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