Rezension: Entschleierung einer vorgeblichen „Herzenssache“ Österreichs

Der niederösterreichische Historiker Hubert Speckner holt in seinem vier Bände umfassenden Werk 75 Jahre der parlamentarischen Wiener Südtirolpolitik vor den Spiegel.

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Rezension: Entschleierung einer vorgeblichen „Herzenssache“ Österreichs
© Effekt!

Für Österreich sei Südtirol „kein Politikum, sondern eine Herzenssache“, und des 1918/19 von Tirol abgetrennte und Italien als Kriegsbeute zugeschlagenen südlichen Landesteils „Rückkehr nach Österreich ein Gebet jedes Österreichers“: Mit dieser emotional-patriotischen Aussage anlässlich seiner ersten Regierungserklärung setzte Leopold Figl, der erste Bundeskanzler aus der ersten Nationalratswahl nach dem Krieg, am 21. Dezember 1945 gleichsam den formalen Anspruchs- und Betrachtungsmaßstab in der Südtirolfrage. Figls „Herzenssache“ wurde, wie auch die spätere Abwandlung „Herzensangelegenheit“, zum geflügelten Wort und ist als solches nach wie vor Bestandteil des politischen Vokabulars in Österreich(s Parteien), wenngleich es seine rhetorische Kraft und magnetisierende Wirkung längst eingebüßt hat, da es leider nur mehr als stereotype Floskel in standardisierten Sonntagsreden auftaucht und keine greifbare politische Agenda mehr dahinter steht.

Äußerungen zur Südtirolfrage auf über 3000 Seiten

Wer sich aus welchem Interesse auch immer über die historische Entwicklung des Bedeutungsverlustes dieser „Herzenssache“ beziehungsweise „Herzensangelegenheit“ anhand von 75 Jahren parlamentarischer Befassung und politischer Auseinandersetzung mit der Südtirolfrage im österreichischen Nationalrat vergewissern möchte, dem steht nun ein mehr als umfassendes Kompendium zur Verfügung. Für dessen Genauigkeit und Vollständigkeit zeichnet ein vielfach ausgewiesener Historiker als Herausgeber verantwortlich. Hubert Speckner hat in den 2022 im Verlag effekt! (Neumarkt a. d. Etsch) erschienenen vier umfangreichen Bänden seiner Publikation „,Herzenssache‘ Südtirol ... Südtirol in den Nationalratssitzungen der Zweiten Republik Österreich. 1945-2020“ auf sage und schreibe 3128 (!) Seiten alle parlamentarischen Äußerungen zusammengetragen, die zwischen 1945 und 2020 im Parlament in Wien zur Südtirolfrage getätigt wurden. Was nun vorliegt, ist mit Fug und Recht ein Novum, denn in der gesamten (populär-)wissenschaftlichen Literatur zum Thema, sei sie histori(ograph)isch oder politikwissenschaftlich ausgerichtet, ist die parlamentarische Diskussion zum Thema unterbelichtet geblieben.

ÖVP, SPÖ und FPÖ sprachen am häufigsten zu dem Thema

In den 2922 Nationalratssitzungen, die in diesem Zeitraum stattfanden, wurde das Thema Südtirol in immerhin 481 Sitzungen behandelt. Speckner hat aus diesem Zeitraum 1320 parlamentarische Äußerungen (Wortmeldungen, Berichte, schriftliche und mündliche Anfragen, Beantwortung parlamentarischer Anfragen, Initiativ- und Entschließungsanträge sowie Bürgerinitiativen und Petitionen) zusammengetragen. Jedes Buch ist mit dem Konterfei jenes Politikers geschmückt, der im jeweiligen Zeitraum im Nationalrat am häufigsten zum Thema Südtirol gesprochen hat. In historischer Reihenfolge sind dies Franz Gschnitzer (ÖVP), Bruno Kreisky (SPÖ), Felix Ermacora (ÖVP) und Werner Neubauer (FPÖ).

Die Zusammenschau aller parlamentarischen Aktivitäten vermittelt ein untrügliches, verdichtetes Kontinuum der konfliktreichen Ereignisabfolge, die das Auf und Ab der österreichisch-italienischen Beziehungen prägte, und stellt eine wahre Fundgrube für die gesamte österreichische Südtirolpolitik nach 1945 und ihre Akteure dar. In der Gesamtschau lassen sich daraus einige vergröbernde Befunde ableiten.

Grundsätzlich zogen die drei traditionellen Nationalratsparteien (SPÖ, ÖVP, VdU/FPÖ) in der Südtirolpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der am 5. September 1946 in Paris zwischen dem österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide DeGasperi getroffenen vertraglichen Vereinbarung über Südtirol lange Zeit weitgehend an einem Strang. Dementsprechend pflegten sie, wenn auch in unterschiedlicher Stärke, Einfluss und ideologischer Übereinstimmung, mehr oder weniger enge/intensive Beziehungen zu der seit 1945 zwischen Brenner und Salurner Klause dominierenden Sammelpartei SVP, die christlich-soziale, katholisch-konservativ-bäuerliche, bürgerlich-liberale und sozialistisch-sozialdemokratische Strömungen unter ihrem Dach vereinte.

Die Streitbeilegungserklärung als ultima ratio

Diese mehr oder weniger konsensuale Politik hatte selbst dann noch Bestand, als es in den 1960er-Jahren gerade wegen der Südtirolfrage innerhalb der FPÖ zu rumoren begann und sich Gleichgesinnte um Norbert Burger von der FPÖ abspalteten und in der von Burger gegründeten Nationaldemokratischen Partei (NDP) zusammenfanden. Erst im Zuge des Zusammenbruchs des kommunistischen Systems und des Umbruchs in Mittel-, Südost- und Osteuropa sowie der unmittelbar damit verbundenen deutschen Wiedervereinigung zerbrach dieser Konsens, zumal diese Entwicklung mit der innenpolitischen Auseinandersetzung um die höchst umstrittene Abgabe der österreichisch-italienischen Streitbeilegungserklärung gegenüber den Vereinten Nationen (UN) verbunden war.

Die Streitbeilegungserklärung resultierte quasi als ultima ratio aus den UN-Resolutionen 1497/XV (31. Oktober 1960) und 1661 (28. November 1961), in denen Österreich und Italien aufgefordert worden waren, den Südtirolkonflikt auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Trotz dieser UNO-Mandate und der darauf folgenden zahlreichen Treffen von Außenministern und Diplomaten beider Seiten war Rom nicht wirklich zu Zugeständnissen hinsichtlich der 1946 vereinbarten Autonomie für die Südtiroler bereit und beharrte stets darauf, alle sich daraus ergebenden Verpflichtungen erfüllt zu haben. Erst das tatkräftige Aufbegehren uneigennütziger, heimatverbundener Aktivisten des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS), die spektakuläre Anschläge auf italienische Einrichtungen verübten und damit den Konflikt für alle Welt sichtbar machten, führte schließlich zu einer gewissen Korrektur der römischen Politik und zu ernsthaften Verhandlungen, an denen auch Vertreter Südtirols in Kommissionen beteiligt waren und aus denen ein Autonomie-„Paket“, bestehend aus einem Maßnahmenkatalog (137 Bestimmungen zum Schutz der Südtiroler Bevölkerung) und einem Operationskalender (Vorgaben für die Schritte zu deren Realisierung/Umsetzung) und schließlich das Zweite Autonomiestatut für Südtirol hervorging, das am 20. Januar 1972 in Kraft trat. Bis zur Umsetzung der Bestimmungen des Statuts – wobei sich die rasch wechselnden Regierungen in Rom und die prinzipielle Sturheit bzw. Schwerfälligkeit Italiens immer wieder als Hemmschuh erwiesen – sollten noch zwei volle Jahrzehnte vergehen, so dass erst am 11. Juni 1992 die erwähnte Streitbeilegungserklärung abgegeben werden konnte.

FPÖ legte immer wieder Finger in die Wunde

Sowohl Teile des Inhalts als auch die Verfahrensschritte auf dem Weg zur Erfüllung des Autonomiepakets und damit der Voraussetzungen für eine formelle Beilegung des Südtirolstreits zwischen Österreich und Italien vor den Vereinten Nationen waren höchst umstritten. Die politischen Auseinandersetzungen über die Möglichkeiten einer effektiven Durchsetzbarkeit vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) hielten an, vor allem aber blieb die grundsätzliche Frage nach der Gewährung und Ausübung des nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg verweigerten Selbstbestimmungsrechts bis heute unbeantwortet.

Während SPÖ, ÖVP und Grüne mit der Abgabe der Streitbeilegungserklärung die Südtirolfrage faktisch als gelöst betrachteten, legten insbesondere FPÖ-Abgeordnete – wie Siegfried Dillersberger, Martin Graf, Werner Neubauer – immer wieder den Finger in die Wunde der weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg gewährten Ausübung des Selbstbestimmungsrechts und der damit verbundenen Zukunftsperspektive für die Südtiroler. Auch namhafte ÖVP- und SPÖ-Politiker wie der langjährige Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (ÖVP) und sein Stellvertreter Herber Salcher (SPÖ), später Gesundheits- und Finanzminister unter den SPÖ-Bundeskanzlern Bruno Kreisky und Fred Sinowatz, äußerten sich teilweise kritisch bis ablehnend. Für die Bundes-ÖVP tat sich vor allem der renommierte Staats-, Verfassungs- und Völkerrechtler Felix Ermacora hervor, Mitglied der Europäischen und der UNO-Menschenrechtskommission, zeitweise auch deren Präsident und nicht zuletzt Autor wichtiger Publikationen zum Südtirolkonflikt.

Politische Akzente verschoben sich zuungunsten des Wunsches nach Selbstbestimmung

Nimmt man die Sonntagsreden-Floskel von der „Herzensangelegenheit Südtirol“ und legt sie gleichsam als Folie über das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler, so zeigt das gleichnamige vierbändige Opus magnum von Hubert Speckner untrüglich, wie sich die politischen Akzente zuungunsten des legitimen Wunsches nach dessen Gewährung und Ausübung verschoben haben. Der FPÖ-Nationalratsabgeordnete und Südtirol-Sprecher Werner Neubauer konfrontierte in der Plenarsitzung des Nationalrats am 21. November 2014 den anwesenden damaligen Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) mit der Frage, wie die Regierung die Rolle Österreichs als Schutzmacht gegenüber Südtirol definiere. Der vom Außenministerium vorgelegte „Außen- und Europapolitische Bericht 2013“ hält nämlich auf Seite 74 fest, „dass für Österreich kein Zweifel bestehe, dass die Südtirolautonomie völkerrechtlich auch auf dem Selbstbestimmungsrecht beruht, das als fortbestehendes Recht von Südtirol in Form weitgehender Autonomie ausgeübt werde“.

Diese Interpretation habe den Südtiroler Heimatbund (SHB) veranlasst, den renommierten Innsbrucker Völkerrechtler Peter Pernthaler mit einer „gutachterlichen Klärung dieser heiklen Interpretation der Bundesregierung“ zu beauftragen. Das Gutachten, so Neubauer, bringe „klar zum Ausdruck, dass das Recht auf Selbstbestimmung nicht nur den Staatsnationen, sondern ,jedem Volk und jeder Volksgruppe' zukommt und dass weder das ,innere' noch das ,äußere Selbstbestimmungsrecht' Südtirols durch die Autonomie aufgehoben oder verbraucht worden“ sei. Der Südtiroler Landtag habe sich in einem Beschluss vom 9. Oktober 2014 zu den UN-Menschenrechtspakten bekannt und das in Artikel 1 verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für Südtirol bekräftigt. Dieser Beschluss des Südtiroler Landtags stehe offensichtlich „im Gegensatz zur Interpretation von Autonomie und Selbstbestimmungsrecht der österreichischen Bundesregierung“, stellte Neubauer fest und brachte gemeinsam mit Abgeordnetenkollegen seiner Partei einen Antrag ein, „zur Klärung in dieser für die Südtiroler so wesentlichen Frage“.

Wie Speckners Publikation bei der weiteren Verfolgung der Causa zeigt, hat sich an der damaligen Interpretation, wie sie im Bericht des Außenministeriums von 2013 niedergelegt ist, ebenso wenig geändert wie an der Haltung des (späteren und seit 2021 ehemaligen) Bundeskanzlers Sebastian Kurz und seiner ÖVP, die (derzeit noch) in Regierungskoalition mit den Grünen steht, die Südtirol ohnehin nicht als „Herzenssache“ empfinden mögen.

Speckner, Hubert (Hrsg.), „'Herzenssache'“ Südtirol. Südtirol in den Nationalratssitzungen der Zweiten Republik Österreich 1945 bis 2020.“, Verlag Gra&Wis, Wien / Effekt! Buch, Neumarkt a. d. Etsch/Südtirol 2022; Bd. 1: 1945 bis 1966; Bd, 2: 1966 bis 1979; Bd.3: 1979 bis 1996; Bd. 4: 1996 bis 2020; insg. 3120 Seiten; zus. DE/AT 80 €. Hier beim Verlag bestellen oder bei Amazon:

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