Experten warnen vor neuer Migrationswelle aus Syrien
Zehn Jahre nach 2015 warnen Beobachter vor einer neuen Migrationswelle aus Syrien. Sollte das Land nicht stabilisiert werden, könnte die Lage erneut Hunderttausende Menschen vertreiben.
Experten zufolge könnte Europa bald erneut von einer Migrationswelle aus Syrien betroffen sein.
© IMAGO / Pond5 ImagesZehn Jahre nach der großen Migrationswelle von 2015 hatten die europäischen Regierungen gehofft, dass viele Syrer dauerhaft in ihre Heimat zurückkehren würden. Doch aktuell deutet vieles auf eine gegenteilige Entwicklung hin. Gewalt, Armut und politische Unsicherheit könnten erneut Hunderttausende Richtung Europa bewegen.
Eskalation an der Mittelmeerküste
Wie fragil die Lage ist, zeigte sich im Frühjahr an der syrischen Mittelmeerküste. Bewaffnete Kämpfer, darunter auch regierungsnahe Milizen, drangen in ein von Alawiten bewohntes Gebiet ein und töteten mehr als tausend Menschen. Innerhalb kurzer Zeit flohen daraufhin mehr als 20.000 Menschen in den Libanon. Seit dem Sturz Baschar al-Assads im Dezember sind zwar rund 174.000 Syrer in den Libanon zurückgekehrt, gleichzeitig wanderten jedoch 106.000 wieder aus.
Warnung vor neuer Migrationswelle
Kelly Petillo, Migrationsexpertin der Denkfabrik ECFR, sieht darin ein Alarmsignal: Ohne grundlegende Verbesserungen in Syrien werde Europa es schwer haben, Syrer davon zu überzeugen, sich aus der relativen Sicherheit der EU auf den Heimweg zu machen, berichtet der Trierische Volksfreund. Sollte die Stabilisierung des Landes nicht gelingen, könnte sogar eine neue Massenflucht einsetzen. Diese Einschätzung wird auch vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geteilt. Die Organisation warnt: „Jene, die sich zur Rückkehr entschließen, könnten erneut in die Flucht getrieben werden.“
Rückkehrzahlen steigen nur bedingt
Seit Dezember sind mehr als eine halbe Million Syrer aus dem Ausland zurückgekehrt, darunter etwa 410.000 aus der Türkei und einige Tausend aus Deutschland. Doch trotz aufgehobener Sanktionen und erster Investitionen bleiben die Lebensbedingungen vorerst prekär. Hinzu kommt die Unsicherheit über die neue politische Führung. Präsident Ahmed al-Scharaa und seiner islamistischen Übergangsregierung wird von Beobachtern vorgeworfen, Extremisten nicht im Griff zu haben oder diese sogar zu unterstützen.
Aktuell gibt es noch keine Anzeichen für eine Fluchtbewegung nach Europa im Ausmaß von 2015: Während damals 857.000 Menschen die griechischen Inseln erreichten, zählte das UNHCR in diesem Jahr bisher 24.000 Neuankömmlinge, darunter weniger als 500 Syrer. Experten warnen jedoch, dass diese Zahlen rasch steigen könnten.
Forderung nach langfristigem Engagement
Hilfsorganisationen fordern, dass die internationalen Partner mehr Verantwortung übernehmen. Der Norwegische Flüchtlingsrat betont, es sei an der Zeit, „Rhetorik durch Handeln zu ersetzen und die Syrer beim Aufbau einer besseren Zukunft zu unterstützen“. Auch Kelly Petillo sieht Europa in der Pflicht: „Wenn die Europäer nicht dabei helfen, die Voraussetzungen für eine Rückkehr und die Lebensbedingungen auf Dauer zu verbessern, dann könnten die Syrer ihr Land wieder verlassen.“
Europa müsse nicht nur finanziell, sondern auch politisch stärker eingreifen, beispielsweise im Verhältnis zur Türkei, die Teile Nordsyriens besetzt hält, oder gegenüber Israel, das wiederholt Luftangriffe fliegt. Zudem solle Brüssel Druck auf die Übergangsregierung ausüben, um den Minderheitenschutz zu gewährleisten.