Wehrpflicht ohne Patriotismus? Wie soll das gehen?
Die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht macht deutlich, wie sehr Deutschland die psychologischen Grundlagen der Verteidigungsbereitschaft verloren hat. Helmut Seifen macht deutlich, dass ohne Patriotismus und nationales Selbstbewusstsein kein Wehrwille entstehen kann.
Rekruten des Fallschirmjägerregiment 26 beim Marsch von der Grasrennbahn zur Niederauerbach-Kaserne in Zweibrücken.
© IMAGO / Björn TrotzkiDie Diskussion um die Wiederinkraftsetzung des Artikels 12a Grundgesetz und damit die Einführung der Wehrpflicht für alle Männer zwischen dem 18. und 27. Lebensjahr verdeutlicht die tiefe mentale Misere, in der Deutschland inzwischen steckt. Was in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts nach dem zweiten schrecklichen Krieg des Jahrhunderts verständlicherweise umstritten, aber eben doch durchsetzbar war, scheint heute von der Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland auf Ablehnung zu stoßen. Die Bereitschaft, das eigene Land gegen Feinde zu verteidigen und sein Leben für den Fortbestand der eigenen Freiheit, für die Bewahrung des Eigentums von Bürgern und Staat sowie für die Gewähr einer auch in der Zukunft garantierten selbstbestimmten Entwicklung von Staat und Gesellschaft einzusetzen, ist bei allen Bevölkerungsgruppen nur sehr gering vorhanden.
Es scheint bei weiten Teilen der Bevölkerung einfach das Bewusstsein dafür zu fehlen, wie sehr die Existenz des Einzelnen von einem wohlgeordneten Staatswesen abhängig ist, wie sehr dieses Staatswesen auch den Einsatz jedes einzelnen Bürgers benötigt und wie sehr in Extremsituationen das auch den Einsatz des eigenen Lebens bedeuten kann. Wenn dieses Bewusstsein im Kalten Krieg noch vorhanden war, so ist es in den letzten 50 Jahren verloren gegangen und auch bewusst den Deutschen ausgetrieben worden.
Vom Kalten Krieg zur mentalen Entwaffnung
Verloren gegangen ist dieses Bewusstsein durch die Entspannungspolitik seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts, durch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 und durch den Zusammenbruch der UdSSR mit ihrer Staatsdoktrin der kommunistischen Weltrevolution. Darüber hinaus konnte man sich im Ernstfall auf die Verbündeten und nicht zuletzt auf die USA verlassen, unter deren Schutz man sich sicher fühlte.
Diese Situation mündete ein in die seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts laufende Kampagne aus den sozialistischen und kommunistischen Kadern gegen alles, was mit der Wehrbereitschaft Deutschlands, nationaler Verteidigung und Patriotismus zu tun hatte. Mit dem Rückgriff auf die schreckliche Zeit des Nationalsozialismus und seiner aggressiv-kriegerischen Grundhaltung gegen andere Länder unterstellte man jedem Patriotismus imperialistische Zielsetzungen und stellte die Wehrhaftigkeit Deutschlands unter Verdacht, damit in die Fußstapfen der ehemaligen Wehrmacht treten zu wollen.
Wehrdienstverweigerung wurde fast zur Pflicht vor allem in den intellektuellen Kreisen, der Respekt vor den Soldaten der Bundeswehr schwand zunehmend und gipfelte dann in der Wiederaufnahme und Wiederverbreitung des Bonmot Tucholkys in den 80er-Jahren: „Soldaten sind Mörder“. Die Wehrmachtsaustellung in den 90er-Jahren hatte neben dem historisch-dokumentarischen Zweck eben auch den erzieherischen Auftrag, deutsches Soldatentum generell in den Ruf des Verbrecherischen hineinzuziehen. Auf jeden Fall konnten die Verteidigungsminister dieser Zeit bis heute eigentlich ihre Forderungen nach einer Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit nicht durchsetzen, selbst, wenn sie das gewollt hätten. Die Bundeswehr wurde „kaputtgespart“, mit voller Absicht unter dem Schulterzucken der Bevölkerung.
Eine verhängnisvolle Gleichsetzung
Parallel dazu wurde alles Denken in nationalen Kategorien unter den Generalverdacht der Faschismusnähe gestellt. Der Stolz auf die deutsche Nation und auf die in den letzten 200 Jahren auf ihrem Boden erschaffenen Errungenschaften im Bereich Technik, Industrie und Wirtschaft, Wissenschaft, Armutsbekämpfung und Kultur wurde stets in Relation gesetzt zu den fürchterlichen Verbrechen der nationalsozialistischen Zeit. Damit verband man völlig willkürlich und ohne jeden inneren Zusammenhang jeglichen Stolz auf diese herausragenden Leistungen vergangener deutscher Generationen mit der Wahnvorstellung der Nationalsozialisten von der Überlegenheit des Deutschen über andere Völker. Deutsche Leistungen konnten eigentlich nur noch als sportliche Leistungen gefeiert werden.
Jugend ohne nationale Identität
Die Anleitung der jungen Generation zur Identifikation mit dem eigenen Land, der Stolz auf die eigenen Vorfahren und ihre Leistungen als Triebfeder für den eigenen Einsatz und die eigene Anstrengungsbereitschaft, sich für das eigene Land und seine Menschen einzusetzen, entfielen damit weitgehend. Stattdessen wurde die europäische Idee als Identifikationsmöglichkeit für junge Deutsche angeboten. Deutschland sollte damit als Land, Staat und Nation aus dem Bewusstsein der jungen Deutschen zum Verschwinden gebracht und von einem „europäischen Gemeinschaftsbewusstsein“ abgelöst werden.
Sehr treffend ausgedrückt hat diese geistige Grundhaltung der ehemalige Wirtschaftsminister Robert Habeck in seinem 2010 erschienenen Buch „Patriotismus: Ein linkes Plädoyer“: „Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht.“ Diese Äußerung spiegelt sehr gut die absurde Vorstellung des linkspolitischen Spektrums in Deutschland über das Wesen einer gemeinschaftsstiftenden Identifikationsgrundlage. Während in allen anderen europäischen Ländern die Nation als Identifikationsgrundlage für die jeweiligen Bewohner der verschiedenen Staaten gilt, glaubt die politische Linke in Deutschland, die Nation als gemeinschaftsbildendes Element auflösen und eliminieren zu können. Weitgehend hat die Linke dabei Erfolg gehabt. Das Bewusstsein, einer deutschen Nation anzugehören und darauf in gewisser Weise stolz zu sein, hat in den letzten Jahren rapide abgenommen. Die Aussage Habecks, dass er mit Deutschland noch nie etwas anzufangen wusste, würden sich sicherlich heute eine Menge Deutscher zu eigen machen.
Beispiele für Wehrwille und Patriotismus
Und in dieser Situation einer fast völligen Aushöhlung des deutschen Nationalgefühls fordern gerade diejenigen die Wehrpflicht ein, die über 60 Jahre lang das nationale Denken verteufelt und die Wehrhaftigkeit des deutschen Staates ideologisch und politisch hintertrieben haben. Sie verstehen offensichtlich nicht, dass sie mit ihrem Kampf gegen das Nationale und gegen die Wehrhaftigkeit der deutschen Nation eben genau die Grundlage zerstört haben, auf der der Wehrwille einer Bevölkerung einzig und alleine ruht.
Dies lässt sich sehr leicht mit einem Blick auf die Entstehung der Wehrpflicht in den europäischen Völkern belegen. Es war die Sorge vor einer Niederlage Frankreichs im Ersten Koalitionskrieg 1793 gegen die absolutistisch regierten Staaten Europas, die in Frankreich eine patriotische Welle des Widerstands auslöste und die Bereitschaft bei der Mehrheit der Bevölkerung weckte, die einmal durch die Revolution 1789 errungene bürgerlichen Freiheiten gegen die ausländischen Kräfte der alten absolutistischen Ordnung verteidigen zu wollen. Es war der in der Bevölkerung entstandene Patriotismus, der die jungen Menschen zu den Waffen strömen ließ, auch wenn diese innere Bereitschaft durch ein Gesetz des Nationalkonvents und des Wohlfahrtsausschusses im August 1793 in eine Verpflichtung für alle gegossen werden musste.
Patriotismus als Quelle der Wehrpflicht
Diese Levée en Masse war dann das Vorbild der europäischen Völker, für Ihren Befreiungskampf gegen die französischen Besetzungen die Wehrpflicht in ihren Staaten einzuführen. Dieses Ansinnen wurde von der breiten Masse in allen Ländern mitgetragen, war man sich doch dessen bewusst, dass es sich auch unter Einsatz des eigenen Lebens lohnt, die Freiheit des eigenen Landes von der Tyrannei napoleonischer Fremdherrschaft zu befreien und ein national eigenständiges Staatswesen entwickeln zu können.
Der deutsche Nationalismus ist letztlich das Ergebnis eines Freiheitswillens, der sich besonders aufgrund französischer Fremdherrschaft auf deutschem Boden entwickelt hat. Und es brauchte weiterhin die Bestandsgefährdung der deutschen Klein- und Mittelstaaten durch die imperialistische Grundhaltung europäischer Großmächte im 19. Jahrhundert sowie die politische Rückständigkeit der deutschen Kleinstaaterei, um dann in Deutschland das nationale Bewusstsein wachsen zu lassen. Die Kriegserklärung Napoleons III. 1870 gegen Preußen ließ dann den gemeinsamen Abwehrkampf aller deutschen Staaten unter der Führung Preußens gegen ein übergriffiges Frankreich zu einer Selbstverständlichkeit werden.
Zwischen Angst, Schuld und Wehrlosigkeit
Heute sind wir meilenweit von solch einem Patriotismus entfernt. Man traut sich kaum, die deutsche Nationalflagge öffentlich zu zeigen. Selbst Frau Merkel nahm als Wahlsiegerin ihrem Parteifreund die deutsche Nationalflagge angewidert aus der Hand und pfefferte sie in die Ecke. Mag man in den letzten 50 Jahren zu Recht deutschem Patriotismus skeptisch gegenüber gewesen sein und ihn unbedingt herunterdimmen wollen, da er in den letzten beiden Weltkriegen missbraucht wurde und millionenfache Opfer mitzuverantworten hat, so ist er doch ein wichtiger Bestandteil der deutschen Identität. Aber die völlige Eliminierung patriotischer, nationaler Einstellungen, wie wir sie in Deutschland erleben mussten und müssen, öffnet ebenso einem anderen Übel Tür und Tor: der Unterwerfung eines Staates und seiner Bevölkerung aufgrund eines Mangels an Verteidigungswillen und Wehrhaftigkeit.
Die deutsche Regierung und Teile der Regierungsparteien beschwören deshalb nun die russische Gefahr herauf, um in der Bevölkerung so etwas wie einen Verteidigungswillen neu zu beleben. Dieses Heraufbeschwören einer „russischen Gefahr“ zieht nach all den Jahrzehnten friedlicher Koexistenz einfach nicht mehr, sondern wird doch von den meisten eher entlarvt als ein Popanz, der die Bereitschaft zur Entsendung deutscher Truppen in die Ukraine vorbereiten soll. Und solche Formen des Missbrauchs patriotischer Floskeln durchschaut eine Bevölkerung, die in den letzten Jahrzehnten von den politisch-medialen Eliten eher herabwürdigende Kommentare zu Deutschland als Nation zu hören bekam.