Exklusiv: Abschiebungen in Berlin – ein System ohne Zähne
Ein Drittel aller gescheiterten Abschiebungen in Deutschland entfiel 2024 auf Berlin – das offenbart eine alarmierende Schwäche des Systems. Doch die dortige Innenbehörde relativiert die Zahlen, und damit das Problem.
Während Kritiker in den Zahlen der gescheiterten Abschiebungen in Berlin ein Systemversagen sehen, relativiert die Innenverwaltung die Daten.
© IMAGO / Andreas FrankeIm Jahr 2024 sind in Deutschland zehntausende Abschiebungen gescheitert. Das geht aus offiziellen Zahlen der Bundesregierung hervor. Konkret waren es 33.717 geplante Abschiebungen, die nicht vollzogen werden konnten. Doch was sagt das über die Durchsetzungsfähigkeit des Rechtsstaates aus – insbesondere in bestimmten Ländern mit einer besonders hohen negativen Quote? Denn während etwa in Bremen, dem Saarland oder Thüringen mit rund hundert bis einigen hundert noch eher wenige Abschiebungen scheiterten, fällt Berlin im Vergleich mit einer bemerkenswert hohen Zahl auf.
Rund 35 Prozent der über 33.000 gescheiterten Abschiebungen, konkret 11.419, entfallen allein auf Berlin. Besonders brisant: 11.384 dieser Maßnahmen scheiterten hier bereits vor der Übergabe an die Bundespolizei. Zahlen, die stutzen lassen – handelt es sich um Verwaltungsversagen, bewusste Zurückhaltung oder schlicht strukturelle Überforderung?
Gescheiterte Abschiebungen nach veranlassendem Land
im Jahr 2024, in absoluten Zahlen
Denn auch der Blick auf die erfolgreiche Seite der Bilanz relativiert wenig: Zwar hat Berlin im Jahr 2024 insgesamt 1.290 Rückführungen durchgeführt – nach Angaben der Berliner Senatsverwaltung eine überdurchschnittliche Zahl gemessen am Königsteiner Schlüssel. Doch was nützt eine überdurchschnittliche Quote, wenn das System in der Praxis durchlöchert scheint wie ein Schweizer Käse?
Die hohe Zahl gescheiterter Abschiebungen bleibt ein markantes Problem. Vor allem, weil der CDU-geführte Senat unter Kai Wegner vor Jahren gerade wegen der Ankündigung gewählt wurde, in Sachen Zuwanderung durchzugreifen. Wirkliche Effekte sind nicht eingetreten, wenn man sich die Zahlen anschaut.
Senatsverwaltung sieht „irreführende“ Zahl
Auf Anfrage von FREILICH nahm die Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport unter der Leitung von Iris Spranger (SPD) zu den Zahlen Stellung. Aus Sicht des Senats ist die genannte Zahl der gescheiterten Maßnahmen „irreführend“, da sie sich auf den Vergleich zwischen der Zahl der „potenziell angemeldeten Rückzuführenden“ und der Zahl der tatsächlich durchgeführten Abschiebungen beziehe.
Ein zentrales Problem sei, dass Abschiebetermine über Apps und Soziale Medien wie „deportation alarm“ in Migrantennetzwerken kursierten. Dies führe dazu, dass Ausreisepflichtige zum Zeitpunkt der Maßnahme oft nicht auffindbar seien. Über eigene Gruppen, Chats oder anderer Kommunikationswege scheinen sich die Rückführungstermine damit also schneller zu verbreiten, als die Behörden reagieren können.
Wie kommt es nun aber zu der laut dem Senat „irreführenden“ Zahl? Um Charterflüge für Rückführungen effizient nutzen zu können, würden diese in Berlin regelmäßig „um ein Vielfaches überbucht“. Es sei jedoch „klar, dass die jeweils für einen Charterflug gemeldete Zahl der Ausreisepflichtigen nicht tatsächlich mit dieser Maßnahme rückgeführt werden kann“, heißt es gegenüber FREILICH weiter. Daher sei es „irreführend“, die Zahl der gebuchten, aber nicht durchgeführten Rückführungen ausnahmslos als gescheiterte Maßnahmen zu erfassen.
Stadtstaat mit besonderen Herausforderungen
Darüber hinaus verweist der Senat auf die besonderen Bedingungen eines Stadtstaates wie Berlin. Die Vernetzung unter Ausreisepflichtigen sei hier besonders hoch, was zu einer schnellen Verbreitung von Informationen über Rückführungen führe. Tatsächlich spielt Berlin mit seiner dichten sozialen Infrastruktur, den entsprechenden Szenen und migrantischen Communities in dieser Frage in einer eigenen Liga. Um dem Problem Herr zu werden, setze sich der Senat gegenüber dem Bund „nachdrücklich“ dafür ein, „die Weitergabe von Charterterminen durch rechtliche und praktische Maßnahmen zu unterbinden und die Geheimhaltung dieser Daten sicherzustellen“.
Warum Abschiebungen scheitern, ist im Einzelnen unklar. Eine detaillierte statistische Erfassung der Gründe für gescheiterte Abschiebungen findet nicht statt, wie es seitens des Senats hieß. Ein Umstand, der auffällt: In einem Staat, der bei vielen internationalen, aber auch nationalen Beobachtern wegen seiner ansonsten oft hochbürokratischen Vorschriften, Verfahren und Abläufe für Kopfschütteln sorgt, scheint ausgerechnet ein so politisch aufgeladenes Thema wie die Rückführung keine besondere Priorität zu genießen. Die Behörde nennt aber immerhin beispielhaft fehlende Reisedokumente, ungeklärte Identität, medizinische Hindernisse, mangelnde Kooperation der Herkunftsstaaten, Widerstand der Betroffenen oder deren Abwesenheit am Tag der Abschiebung als häufige Gründe.
Auf die Frage nach möglichen strukturellen Defiziten antwortet die Senatsverwaltung unterdessen ausweichend. Die Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie der Bundespolizei sei grundsätzlich eng, eine klare Aussage zu konkreten Optimierungsmöglichkeiten blieb jedoch aus. Auch die Frage, wie Berlin mit nicht auffindbaren Personen oder unkooperativen Herkunftsländern umgeht oder in welche Länder die meisten Abschiebungen scheitern, wurde nicht beantwortet. Stattdessen betont der Senat seine Bemühungen, Rückführungen von Straftätern und Gefährdern „mit besonderer Priorität“ zu behandeln.
AfD sieht andere Gründe
Deutlich kritischer bewertet die Berliner AfD die Zahlen und die Situation vor Ort. „Wenn es nicht klappt, mehr Abschiebungen durchzuführen, gibt es als Ursache ja nur zwei Möglichkeiten: man kann nicht oder man will nicht“, erklärte der integrationspolitische Sprecher der Hauptstadtfraktion, Thorsten Weiß, gegenüber FREILICH. „Der schwarz-rote Berliner Senat verbindet beides: er kann nicht und er will nicht“. Das sei angesichts der schrecklichen Taten von ausreisepflichtigen Ausländern in Berlin, der stark zunehmenden Anzahl von Gewalttaten, Messerangriffen und Vergewaltigungen, eine „Katastrophe“, so Weiß. „Von den gigantischen Kosten der ungeregelten Massenmigration“ – letztes Jahr seien es 2,1 Mrd. Euro gewesen – „einmal ganz abgesehen“. In diesem Zusammenhang verwies er auch auf die Ankündigung Berlins, einen „Notfallkredit für die Geflüchteten-Kosten“ aufzunehmen, um die Ausgaben in diesem Bereich bewältigen zu können.
„Versagen mit Vorsatz“
Der AfD-Abgeordnete sieht in Anbetracht der Zahlen zu den Abschiebungen jedenfalls ein strukturelles Versagen der Landespolitik. Berlin ordne bei Ausreisepflicht „sehr selten“ Abschiebehaft an. Zu den Zahlen der Abschiebehaft hat FREILICH kürzlich eine eigene Recherche veröffentlicht. Auch dort fiel Berlin negativ auf. Aufgrund der nicht verhängten Abschiebehaft treffe die Polizei die Ausreisepflichtigen am Tag der Abschiebung also oft gar nicht an, wie auch der Senat selbst schon einräumte. Ein Phänomen, das eine ketzerische Frage aufwirft: Wird hier bewusst auf Wirksamkeit verzichtet – oder ist es nur organisatorische Resignation?
Weiß kritisierte auch, dass Berlin als Stadt mit fast vier Millionen Einwohnern und mindestens 14.000 Ausreisepflichtigen grundsätzlich zu wenig Abschiebehaftplätze habe. Die Situation der Abschiebehaft in Berlin ist derzeit aber ohnehin schwierig. Denn diese wird aufgrund von Sanierungs- und Baumaßnahmen an der eigentlichen Abschiebungshaft für Gefährder Berlin (AHEG BE) momentan in der JVA Tegel mit nur zwei Plätzen vollzogen. Zwei Plätze – das klingt eher nach Symbolpolitik als nach handfester Migrationssteuerung.
Nach Fertigstellung der Arbeiten im Oktober 2025 – woran Weiß aufgrund des „bekannten Berliner Schneckentempos“ jedoch so seine Zweifel hat – soll die Einrichtung schließlich wieder eröffnet werden. Dann allerdings auch nur mit zehn Plätzen. Nach dem Attentat in Solingen hätte die Berliner CDU zwar noch gefordert, die Zahl der Plätze zu erhöhen. Seitdem sei das Vorhaben, „wie üblich bei den Sprücheklopfereien der Union“, aber wieder im Sande verlaufen, so Weiß. Die ganze „Pseudoabschiebepolitik“ des Senats könne man mit der Formel „Versagen mit Vorsatz“ zusammenfassen.
Überlastung von Behörden als Dauerproblem
Der AfD-Abgeordnete warf anderen Regierungen wie Schwarz-Rot, Schwarz-Grün oder der schwarz-roten Landesregierung in Berlin vor, Abschiebungen aktiv zu verhindern. Zudem kritisierte er die permanente Überlastung der Landespolizei und des BAMF. Letzteres versäume es häufig, die Ausländerbehörde rechtzeitig zu informieren, sodass Dublin-Rücküberstellungen nicht mehr fristgerecht durchgeführt werden könnten. Die Folge sei, dass Asylbewerber in Berlin blieben – Menschen, die rechtlich gesehen längst hätten ausreisen müssen.
Dass das Dublin-System zur Überstellung von Asylbewerbern ohnehin weitgehend wirkungslos ist, zeigten zuletzt ebenfalls offizielle Zahlen der Regierung. Aus diesen geht hervor, dass von den insgesamt 74.583 Übernahmeersuchen, die Deutschland im Jahr 2024 an andere EU-Staaten gestellt hat, gerade einmal in 44.431 Fällen eine Zustimmung erfolgte, von denen wiederum nur 5.827 Überstellungen tatsächlich vollzogen wurden. Ein System, das auf Kooperation setzt – in einer Realität, in der jeder EU-Staat eigene Prioritäten in den Mittelpunkt stellt.
Lösungen aus Sicht der AfD
Eine Lösung der aktuellen Situation sieht Weiß in der Einrichtung einer zentralen Abschiebeeinrichtung beziehungsweise eines vom Bund eingerichteten und betriebenen Remigrationszentrums unter Federführung der Bundespolizei. „Der Bund muss hier dringend ein- und durchgreifen, denn der Berliner Senat versagt auch in dieser wichtigen Aufgabe der Durchsetzung des Aufenthaltsgesetzes fundamental“, so die Kritik, die sich auch auf die bereits vom Senat erwähnte Tatsache bezieht, dass Abschiebetermine regelmäßig durchsickern.
Um Abschiebungen also tatsächlich zum Erfolg zu führen, müsse es laut Weiß erstens möglich sein, Ausreisepflichtige in Abschiebehaft zu nehmen, um ein Untertauchen zu verhindern. Darüber hinaus wäre für den AfD-Abgeordneten eine Umstellung der Sozialhilfe auf Sachleistungen sinnvoll.
Zweifel an Wandel in der Migrationspolitik
Angesichts des Regierungswechsels befürchtet Weiß allerdings, dass es keine Kehrtwende in der Migrationspolitik geben wird: „Deutschland schaltet den 'Migrationsmagneten' nicht aus, mit allen Auswirkungen für die Gesamt-EU, und natürlich auch für Österreich“. Die Sozialleistungen für Migranten seien nach wie vor viel zu hoch, Abschiebungen viel zu selten und die Grenzen nach wie vor unkontrolliert. Berlin versage bei der rechtsstaatlichen Durchsetzung von Abschiebungen. „Wir machen uns als Rechtsstaat intern und auch extern unglaubwürdig und lächerlich.“ Die kommenden Monate werden nun zeigen, ob sich unter dem am Dienstag im zweiten Anlauf gewählten CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz in der Migrationspolitik etwas bewegen wird oder ob die neue Regierung, die schon vor Amtsantritt an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, weiter an Glaubwürdigkeit verlieren wird.