EU-Wahl 2024: Gelingt die Zähmung des Monstrums?

Von 06. bis 09. Juni 2024 findet die nächste Europawahl statt. Darauf haben sich die Botschafter der EU-Staaten in Brüssel geeinigt. In seinem Kommentar für FREILICH löst Gert Bachmann den Knoten des EU-Parlaments als supranationale Legislatur.

Kommentar von
27.5.2023
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7 Minuten Lesezeit
EU-Wahl 2024: Gelingt die Zähmung des Monstrums?
Gert Bachmann

Was den Amerikanern „Super Bowl“ und „Mid Terms“, sind dem Europäer Fußball-EM und EU-Wahlen. Wobei sich die Gewichte zwischen Bedeutung und Folklore unterscheiden. Betrachtet man Statistiken über die Zusammensetzung des europäischen Parlaments und der Fraktionen, kommt einem unweigerlich der Vergleich von Hans Magnus Enzensberger mit einer Chimäre in den Sinn. Dieser lehnte sich wiederum an Samuel Pufendorf an, welcher im Zusammenhang mit dem Sacrum Imperium von einem Monstrum gesprochen hat, jedoch nicht im populärkulturellen Sinne, wo die Bilder von dinosaurierähnlichen Wesen erstehen, sondern als komplexes, außergewöhnliches, von der Norm abweichendes Gebilde.

Assoziationen werden zudem im Hinblick zum k. k. Reichsrat geweckt. Der legislativen Vertretung Cisleithaniens, also der österreichischen Reichshälfte, in der Reichshaupt- und Residenzstadt zu Wien. Dort tummelten sich Deutsche, Polen, Tschechen, Italiener, Ukrainer – damals Ruthenen – Slowenen und Kroaten aus denen im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder. Ungarn, Kroaten, Slowaken und Rumänen waren im k. u. Reichstag in Budapest vertreten. Bosniaken, Kroaten und Serben in der Herzegowina unterstanden dem k. u. k. Finanzministerium. Konservative, kaisertreue Polen, deutsch-nationale Österreicher, sozialdemokratische Tschechen und sozialdemokratische Deutschösterreicher. Irridentistische Italiener, panslawistische Serben und italophobe Slowenen.

In Brüssel wie Straßburg hat sich ein ähnlich unübersichtlich anmutendes Gebilde herauskristallisiert. 705 Mitglieder des Europäischen Parlaments, MdEP, aus 27 Mitgliedsstaaten finden sich zu sieben Fraktionen zusammen. Hinzu kommen 47 Fraktionslose aus 13 Ländern. Der Urnengang zum Europäischen Parlament findet alle fünf Jahre statt und ist die weltweit größte länderübergreifende Wahl. Lediglich indische Kongresswahlen zählen mehr Stimmberechtigte. Die Anzahl der Abgeordneten orientiert sich proportional zur Einwohnerzahl, wobei kleinere Länder gegenüber größeren Ländern bevorzugt werden. Ähnlich wie bei den Bundesstaaten in den USA. Und um aus diesem Parlament ausscheiden zu können, mussten die Briten nochmals teilnehmen und die Brexit-Partei wählen.

Das EU-Parlament verstehen

Bundeskanzler Fred Sinowatz hätte gemeint, dass das alles sehr kompliziert sei. Und um diesen gordischen Knoten supranationaler Legislatur zu lösen, ist es hilfreich, sich der Deutungslinien des israelischen Historikers Dan Diner zu bedienen. In seinem Werk „Das Jahrhundert verstehen“ gebrauchte Diner wahlweise das nationale und das ideologische Erklärungsmuster. Um das Ringen der Groß- und Weltmächte einerseits und die Konflikte der Ideologien Faschismus, Kommunismus und Kapitalismus andererseits ausreichend erfassen zu können.

Die größte Fraktion bildet die Europäische Volkspartei, EVP, als Zusammenschluss christdemokratischer und klassisch, konservativer Parteien. Diese zählt derzeit 177 Abgeordnete aus allen 27 Mitgliedsstaaten. Damit ist die EVP nicht nur die größte, sondern auch die einzige Fraktion, welche aus allen Ländern Repräsentanten versammeln kann. Mit großem Abstand dominieren die Abgeordneten aus Deutschland, welche durch CDU und CSU entsandt werden. Sie zählen derer 30. Auf Rang zwei und drei folgen überraschenderweise Polen und Rumänien mit 16 beziehungsweise 14 Vertretern.

Erst dann folgen Spanien und Italien, wo die Volkspartei und die Forza Italia von Silvio Berlusconi 13 und elf Sitze beisteuern. Abgeschlagen liegt Frankreich mit acht Mandaten der Les Républicains, den vormals mächtigen Gaullisten. Österreich kann immerhin mit sieben Entsendeten der ÖVP auftrumpfen. Der Rest setzt sich nach dem Prinzip: „Pecunia non olet“, also „Kleinvieh macht auch Mist“ zusammen. Ohne die beiden deutschen Unionsparteien läuft, salopp formuliert, nichts, auch wenn diese im „Mutterland“ knapp 29 Prozent bei der letzten Wahl erzielt haben und damit das schlechteste Ergebnis seit Abhaltung von Wahlen zum Europäischen Parlament.

Wohingegen die Sozialdemokratische Partei Europas, die SPE, durch ein Triumvirat dominiert wird. Spaniens 21 Abgeordnete teilen sich die Spitze mit Italiens Partito Democratico und Deutschlands SPD mit jeweils 16 Mandaten. Auch hier stechen Rumänien und Polen mit zehn beziehungsweise sieben Sitzen hervor. Und Frankreichs ehemals mächtige Parti Socialiste, die Partei von Mitterrand, liegt lediglich zwei Mandate vor Österreichs SPÖ mit fünf Abgeordneten. Insgesamt rekrutieren sich die 143 Vertreter der „Arbeiterschaft“ aus 26 Staaten der EU. Lediglich Irland mit einer Parteienlandschaft sui generis stellt keine „Sozialdemokraten“.

Macron-Wahlverein und „Beutegrüne“

Die Frage bezüglich des „Auslassens“ von Frankreich bei EVP und SPE ist bei einem Blick auf die Fraktion der Liberalen Europas beantwortet. Schließlich hat sich der drittstärkste Block im EU-Parlament mit 101 Repräsentanten aus 24 Staaten nicht ohne Grund in „Renew Europe“ umbenannt. Der „Wahlverein“ für den französischen Präsidenten Macron, „Republique en Marche“ bezieungsweise „Renaissance“, fungierte als unabsichtlicher Geburtshelfer oder besser Wiedergeburtshelfer. Nachdem Gaullisten und Sozialisten  entweder marginalisiert oder eingebunden wurden, verblieb für die europäische Ebene nurmehr die liberale Fraktion. Dort dominiert Frankreich mit 23 Sitzen, während Spanien und Deutschlands FDP mit neun beziehungsweise sieben Abgeordneten weit abgeschlagen liegen. Rumäniens sieben Sitze firmieren wohl wieder unter dem Prinzip „Do not ask, do not tell“.

Der Ausdruck „Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen“ entspringt zwar dem Euro-Krisen-Management der CDU, scheint aber wie geschaffen zu sein für die Fraktion der europäischen Grünen. Während Deutschlands Union und Frankreichs Renaissance mit außerordentlich schlechten Ergebnissen noch immer ihre jeweiligen Fraktionen dominieren, können die deutschen Grünen mit 20 Prozent und 25 Sitzen ihre europäischen Partner in den Schatten stellen. Um auf 73 Mandate zu kommen, benötigte es noch einige „Beutegrüne“. Unabhängige aus Italien, Piraten aus Tschechien, Katalanen aus Spanien und die sozialistische Volkspartei aus Dänemark. Frankreichs Ökologisten stellen immerhin zwölf Abgeordnete. Somit mehr als für EVP oder SPE.

Für gewöhnlich wird den national-konservativen und EU-skeptischen Parteien nachgesagt, dass man keine allzu hohen Ansprüche stellt, um ausreichend Abgeordnete aus ausreichend Staaten in einer Fraktion vereinen zu können. Jedoch war die EVP im Hinblick auf Berlusconis Forza Italia nicht wählerisch. Man hat den Cavaliere via EZB neutralisiert. Und bei Orbáns Fidesz reichte der Langmut nicht mehr aus. Ansonsten sind Separatisten, Eintagsfliegen und folkloristische Wahlvereine gerne gesehen.

Periphere Skeptiker

Von den ursprünglich drei EU-skeptischen Fraktionen sind nurmehr zwei verblieben. Nicht ob einer Abnahme der Zustimmung bei der Wählerschaft, sondern vielmehr aufgrund des großen Erfolgs. Denn mit Hilfe der Wahlerfolge der „United Kingdom Independence Party“, UKIP, und später der Brexit-Partei, konnte das Vereinigte Königreich aus der EU ausscheiden. Und somit auch Labour aus der SPE, die LibDems aus der liberalen Fraktion, die Torys aus einer EU-skeptischen Fraktion – da sie bereits zuvor die EVP verlassen hatten – und die UKIP aus einer weiteren Skeptiker-Fraktion.

Die Fraktion der europäischen Konservativen und Reformer wird durch die polnische Regierungspartei PiS, Recht und Gerechtigkeit, dominiert. 27 der 66 Abgeordneten aus 17 Ländern stellt die PiS. Italiens Regierungspartei, die Fratelli d’Italia, folgen mit neun Sitzen. Schwedendemokraten, Wahre Finnen, Vox – Spaniens Rechtspopulisten – und die neue flämische Allianz haben sich hier zusammengefunden. Nach den Wahlerfolgen in den jeweiligen nationalen Parlamenten, kann mit einem Nachziehverfahren bei der nächsten Wahl zum Europäischen Parlament gerechnet werden. Vor allem bei den Fratelli der italienischen Ministerpräsidentin, deren Partei 2019 noch hinter Salvinis Lega gelegen ist.

Die Lega stellt noch den größten Part der zweiten rechtspopulistischen Fraktion. 25 Repräsentanten aus Italien teilen sich mit 18 Abgeordneten von Frankreichs Rassemblement National von Marine Le Pen die Dominanz über die Fraktion Identität und Demokratie mit 62 Sitzen. Hier sind auch die Vertreter Österreichs und Deutschlands von FPÖ und AfD mit drei beziehungsweise neun Mandaten beheimatet. Hinzu kommen noch drei Sitze vom Vlaams Belang – vormals Vlaams Block – und ein Sitz der dänischen Volkspartei. Absehbare Verluste von Salvinis Lega – die zugunsten Melonis Fratelli gehen werden – dürften sich durch erwartbare Gewinne für Rassemblement National, AfD und FPÖ ausgleichen. Oder sogar darüber hinaus kompensieren.

Schwarzfüße und Tierschützer

In Spe, also in guter Hoffnung, kann sich zudem die europäische Linke befinden. Derzeit prägen Frankreich mit sechs, Deutschland mit fünf und Spanien ebenfalls mit fünf Sitzen die 37-köpfige Fraktion der Kommunisten, auch wenn sich viele mittlerweile Linke, Progressive oder Tierschützer nennen. Frankreichs Insoumise von Melenchon – einem Pied Noir, die für gewöhnlich rechts wählen – können analog zu den Ergebnissen des Mutterlandes mit Zugewinnen rechnen. Irlands vier Repräsentanten der Sinn Fein dienen wohl als Ärgernis für das Vereinigte Königreich.

Die Fraktionslosen setzen sich aus Zemmours französischen Rechtskonservativen, Grillini – also Cinque Stelle – aus Italien, katalanischen Separatisten und anderen zusammen. Ungarns zwölf Abgeordnete von Orbáns Fidesz dürften sich wohl als im Warteraum befindlich definieren. Denn mit der neuen Zusammensetzung nach dem Urnengang Anfang Juni 2024 werden zunächst die Karten durch den Wähler neu verteilt und in weiterer Folge die Karten für die Verhandlungspoker zur Bildung der Fraktionen.

Johnson und Farage als Karlspreisträger

Seit der Europawahl 2004 – nach der großen Erweiterung um die osteuropäischen Länder – ist der Trend für die EVP und die SPE negativ. Diese sanken ab von 37 beziehungsweise 27 Prozent auf 25 beziehungsweise 20 Prozent ab. In Mandaten stellt dies eine Verringerung von 288 auf 177 dar beziehungsweise von 217 auf 143. Liberale, Grüne, Linke und EU-skeptische Parteien haben im entsprechenden Zeitraum an Sitzen gewonnen.

Zählt man Konservative, Liberale und EU-Skeptiker zu Mitte-Rechts und Sozialdemokraten, Grüne und Linke zu Mitte-Links steht es in etwa 53:37 zugunsten der Rechten. Der Rest entfällt auf Fraktionslose. Fasst man EVP, SPE, Liberale und Grüne zusammen – deren Abstimmungsverhalten sich größtenteils deckt – als pro-EU-Fraktionen gegenüber Rechten, Linken und Fraktionslosen als EU-Skeptiker steht es etwa 70:30.

Analog hierzu dominiert Deutschland sowohl die EVP einerseits wie die Grünen andererseits. Frankreich beherrscht die Liberalen, obwohl es sich um ein ebenso zentralistisches wie etatistisches Land handelt. Die SPE verteilt ihre Machtzentren auf Spanien, Deutschland und Italien. Eigentlich hätte der aktuelle Karlspreis an Boris Johnson und Nigel Farage verliehen werden müssen.

Der Widerpart formiert sich an der Peripherie. Polen und Italien bilden den Kern rund um die beiden EU-skeptischen Fraktionen. Frankreich könnte angesichts der Mittekonzentration sowohl Links wie Rechts nachziehen. Mit Le Pen und Melenchon. Die Konzentration auf die europäische Mitte wie die ideologische Mitte könnte die Fliehkräfte der Peripherie national wie ideologisch erhöhen.


Zur Person:

Gert Bachmann, 42-jähriger Historiker mit Interesse an Geo- und Sicherheitspolitik. Trotz Studiums in Wien hat ihn die Heimatstadt Villach nie losgelassen. Das Herz des dreifachen Vaters und ehemaligen FPÖ-Landesparteisekretärs von Oberösterreich schlägt für ein freiheitliches Österreich und ein vitales, freies Europa der Vaterländer.

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