Freilich #34: Am Weg zur Volkspartei?

Revierkampf Eurasien – Wenn Clan, Staat und Show verschmelzen

Statt Integration herrschen Erpressung, Mord und mafiöse Strukturen: Der Fall der Familie Safarow zeigt, wie stark kriminelle Clans in Russland verankert sind. Ilia Ryvkin beschreibt gewaltsame Razzien, politische Seilschaften und die unheimliche Allianz zwischen Verbrechen, Kulturvereinen und Macht.

Kommentar von
12.7.2025
/
6 Minuten Lesezeit
Dieses Beitragsbild ist in deinem Land leider nicht verfügbar.

Ein schwarzer G-Klasse-Luxuswagen rast durch die Straße – drinnen der Baron der aserbaidschanischen Diaspora. Neben ihm sein Sohn, am Steuer – auf der Flucht vor dem Zugriff des Staates. Plötzlich kracht ein ziviles Einsatzfahrzeug quer von vorn – blockiert den Weg. Schüsse fallen. Die Türen fliegen auf. Aus dem Wagen stürmt eine maskierte Einheit – Tarnuniform, Hämmer in der Hand. Ohne Vorwarnung zertrümmern sie die getönten Scheiben des Luxuswagens.

„RAUS, DU SCHWEIN!“ – „FENSTER AUF!“ – gellen die Befehle. Sekunden später liegt der stämmige Herr mit dem Gesicht auf dem Asphalt. Die Hände verdreht, keine Chance. Sein Sohn soll laut Presseberichten beinahe einen der Beamten überfahren haben – ein letzter, verzweifelter Befreiungsversuch, gescheitert am russischen Beton. „Wenn unsere Jungs loslegen, dann mit Seele!“ – kommentiert ein russischer Telegramnutzer.

Macht, Blut und Beton

Der Patriarch der örtlichen aserbaidschanischen Kulturgemeinde darf im aktuellen Prozess als Zeuge auftreten – eine groteske Randnotiz in einem Verfahren, das Jekaterinburg erschüttert hat. Im Fokus steht die Großfamilie Safarow – ein Name, der in der Region seit Jahren als Synonym für organisiertes Verbrechen galt. Die Brüder Safarow, aserbaidschanische Staatsbürger mit festen Strukturen vor Ort, herrschten über das berüchtigte Restaurant ‚Kaspij‘ – in der Stadt längst bekannt als die Mafia-Schaltzentrale.

Verhaftungen? Alltag. Schießereien? Fast schon Folklore. Erpressung? Gehört zur Visitenkarte. Die Anklageschrift liest sich wie das Drehbuch eines Tarantino-Films: Mord, Entführungen, Revierkämpfe – und das konsequent über ein ganzes Jahrzehnt hinweg, von 2001 bis 2011.

Der Gegenschlag aus Baku

Die Zeiten änderten sich allmählich, bis es zu einem großen Einsatz der Bereitschaftspolizei kam, bei dem die berüchtigten Brüder Safarow, Ziyaddin und Gusein, nicht überlebten. Die russische Ermittlungskommission spricht von „Herzversagen“. Die Leichen wurden nach Aserbaidschan überführt, wo die Beisetzung stattfinden soll. Der Gegenschlag aus Baku kam schnell – und laut, doch damit enden auch schon ihre Stärken. 

Mehrere europäisch aussehende Männer stehen mit dem Gesicht zur Wand. Einige zittern, einer blinzelt ins grelle Licht. Sekunden später stößt ihn ein Beamter mit dem Knie zu Boden. Er ruft einen Befehl auf Aseri-Türkisch – doch der Tonfall ist eindeutig: „Auf den Boden! Hände hinter den Rücken!“

Einer nach dem anderen wird in den Asphalt gedrückt, Gesichter in den Staub, Arme nach hinten verdreht. Handschellen klicken. Blut sickert aus der Lippe eines Festgenommenen. Ein anderer trägt bereits ein blaues Auge. Die Kamera zoomt heran – kein Zufall. Dieses Bild soll sich einbrennen.

Justiz oder Inszenierung?

Was auf den Videos zu sehen ist, erinnert weniger an Rechtsstaatlichkeit als an Schauprozesse in Kalaschnikow-Ästhetik. Den Festgenommenen – russischen Journalisten, Touristen und jungen IT-Spezialisten, die vor Krieg und drohender Mobilmachung geflohen waren – wurden zunächst drei Monate Untersuchungshaft angekündigt. Die Vorwürfe? Drogenhandel aus dem Iran, Online-Vertrieb verbotener Substanzen, Cyberkriminalität. Konkrete Beweise? Fehlanzeige. Was zählt, ist das Spektakel. 

„Alijew hat dem Kreml eins ausgewischt – indem er Russlands Oppositionelle windelweich prügeln ließ, noch bevor Putin selbst dazu kam“, höhnt man in einigen patriotischen Chatgruppen. Doch für Häme ist hier kein Platz. Wer zusieht, wie Landsleute im Ausland von fremden Diensten schikaniert, geschlagen und ohne Verfahren eingesperrt werden, darf nicht nach dem Parteibuch fragen. In solchen Momenten zählt nur eines: Solidarität – bedingungslos.

Die Jagd auf die Paten beginnt

Die Reaktion aus Baku auf den Tod zweier Killer erscheint mir überzogen und hysterisch. Zugleich zeigen die jüngsten Entwicklungen, dass die Maßnahmen gegen die Clans weit über die Region Jekaterinburg hinauswirken. Die „Paten“ des aserbaidschanischen Verbrechermilieus – sofern man den Begriff „Pate“ auf Nichtchristen überhaupt anwenden möchte – wurden in den vergangenen Tagen in Orenburg und Moskau festgenommen. Zuvor klickten die Handschellen in Woronesch, wo der Besitzer des größten Marktes der Stadt, ebenfalls ein Aserbaidschaner, verhaftet wurde.

Doch das war nur der Auftakt: Elshan Ibragimow, Vorsitzender der Regionalen national-kulturellen Autonomie der Aserbaidschaner im Moskauer Umland, wurde kurzerhand seiner russischen Staatsbürgerschaft beraubt und des Landes verwiesen. Jener honorige Herr, der sich zuvor gern rühmte, über Kontakte zu verfügen, mit denen sich „jede Frage lösen“ lasse, erlebte nun die Grenzen solcher Freundschaften.

Wenn Autonomie zur Fassade wird

Vorausgegangen war eine Razzia auf einem von ihm kontrollierten Markt, bei der Hunderte illegale Migranten ohne Arbeitserlaubnis entdeckt wurden. Ihr „Arbeitgeber“: ein Verein aus dem Dunstkreis der selben „kulturellen Autonomie“. In einem Hinterhof stießen die Ermittler auf ein improvisiertes „Wohnheim“ – und eine illegale Moschee. Wer bislang annahm, die russische Rechte übertreibe mit ihren Warnungen vor mafiösen Parallelstrukturen unter dem Deckmantel „kultureller Autonomie“, wird jetzt eines Besseren belehrt: die Fakten sprechen eine klare Sprache. 

Doch selbst dieser Schlag gegen die Parallelstrukturen offenbarte nur die Spitze des Eisbergs. Laut der Website des Bezirksgerichts Presnenski in Moskau leitete ein Gerichtsvollzieher ein Vollstreckungsverfahren gegen den aus Aserbaidschan stammenden Multimilliardär, Bauunternehmer und Chef der Crocus Group, Aras Agalarow, ein – und das ausgerechnet einen Tag vor den Großrazzien gegen Mitglieder der aserbaidschanischen Diaspora in Jekaterinburg.

Das Netzwerk des Aras Agalarow

Obwohl die Familie Agalarow zu den Bergjuden zählt, scheint der liebe Gott, wenn Liebe und Macht sich die Hände reichen, das Gebot der Blutsreinheit gern mal beiseitezuschieben. Emin, der Sohn des Multimiliardärs, heiratete Lejla Alijewa, die Tochter des aserbaidschanischen Oberhaupts, der angeblich Muslim ist. Gleichzeitig pflegt Aras Agalarow freundschaftliche Kontakte zu Jared Kushner, dem Schwiegersohn eines US-Präsidenten – offenbar kennt man sich einfach gern, egal wie weit der Atlantik ist. 2013 brachte Agalarow die Miss Universe nach Moskau – womöglich ein unterschätztes politisches Gipfeltreffen. Dass zum Familienimperium auch die Crocus City Hall gehört, an der vor eineinhalb Jahren 144 Menschen starben, sorgt immerhin für unerwartetes Aufsehen – ein Sujet, das bis heute mehr Fragen als Antworten hinterlässt.

Wenn man tiefer gräbt, stößt man auf eine Kette von Absonderlichkeiten: Ein millionenschweres Veranstaltungszentrum – doch ohne funktionierenden Brandschutz, mit blockierten Notausgängen und veralteten Sicherheitszertifikaten. Die Täter marschierten ungehindert ein, als hätten sie einen Generalschlüssel – während die Security im entscheidenden Moment spurlos verschwand. Augenzeugen berichten von verriegelten Türen, versagender Löschtechnik und einem Feuer, das sich wie von Geisterhand ausbreitete.
Jetzt trifft es einige kleine Angestellte – Bauernopfer in einem Schachspiel, dessen Großmeister weiterhin unbehelligt bleiben. Wer schützt hier wen? Fahrlässigkeit? Vertuschung? Oder war der Terroranschlag vielleicht Teil eines viel tieferliegenden Deals?

Der wahre Zustand der Gesellschaft

Was auch immer die jüngste Krise tatsächlich ausgelöst hat – gerade die scheinbar unbedeutenden Ereignisse offenbaren den wahren Zustand der Gesellschaft hinter dem Lärm offizieller Schlagzeilen. Der Mord an dem jungen russischen Biker Kirill Kowalew am 17. April 2024 blieb von den großen Medienhäusern nahezu unbeachtet.

Der junge Mann kam mit seinem Motorrad zum Haus seiner Verlobten und entdeckte einen weißen Toyota, der den Hauseingang blockierte. Als er den danebenstehenden Mann namens Shahin Abbasov darauf ansprach, rief dieser Verstärkung aus seiner Großfamilie. Als seine Leute eintrafen, zog der Aserbaidschaner heimlich ein Messer und stach Kirill hinterrücks in den Bauch.

Der Messerstecher wurde festgenommen und steht derzeit vor Gericht. Zuvor hatte das Bezirksgericht das Verfahren wegen „Mordes mit erschwerenden Umständen“ eingestellt – ein Tatvorwurf, der ihm bis zu 20 Jahre Haft hätte einbringen können. Vermutlich geschah dies, um die Anklage auf fahrlässige Tötung herabzustufen – ein Delikt, das mit maximal zwei Jahren Freiheitsstrafe geahndet wird. Unter Berücksichtigung der bereits in Untersuchungshaft verbrachten Zeit könnte der Täter den Gerichtssaal sogar als freier Mann verlassen.

Ein Mord, ein Video, ein Skandal – und ein fast freier Mann

Die Tat wurde von einer Überwachungskamera dokumentiert – die Aufnahmen lassen keinen Zweifel an ihrem Charakter. Den Unterschied zwischen Vorsatz – also dem Handeln „mit Wissen und Wollen“ – und Fahrlässigkeit – dem Mangel an gebotener Sorgfalt – sollte jeder Jura-Erstsemestler kennen. Eine fahrlässige Tötung durch Messerstich ließe sich allenfalls dann vorstellen, wenn der Täter Brot auf dem Bauch des Opfers geschnitten und versehentlich die Bauchdecke geöffnet hätte.

Für das drohende Urteil im Stil von Absurdistan gibt es nur eine plausible Erklärung: Korruption. Der große aserbaidschanische Denker Gejdar Dschemal nannte das einst im Gespräch mit meiner Wenigkeit eine „eurasische Art zu wirtschaften“.

Auch Genosse Stalin, dessen Karriere bekanntlich als georgischer Kleinkrimineller begann, folgte dieser alten kaukasischen Weisheit: Er ließ Lehrer und Ärzte für Hungerlöhne schuften – mit der Begründung: „Diese Berufe werden vom Volk gebraucht, also wird das Volk sie schon mit seinen Gaben ernähren.“ Man wird wohl annehmen dürfen: Die ehrwürdigen Herren der „national-kulturellen Autonomie“ haben gezahlt – und sich das Urteil gleich mitgekauft. Gerade dieser scheinbar unspektakuläre Fall könnte entscheidend dafür sein, wie viele Russen künftig zu ihrem eigenen Staat stehen.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

Kann FREILICH auf Ihre Unterstützung zählen?

FREILICH steht für mutigen, konservativ-freiheitlichen Journalismus, der in einer zunehmend gleichgeschalteten Medienlandschaft unverzichtbar ist. Wir berichten mutig über Themen, die oft zu kurz kommen, und geben einer konservativen Öffentlichkeit eine starke Stimme. Schon mit einer Spende ab 4 Euro helfen Sie uns, weiterhin kritisch und unabhängig zu arbeiten.

Helfen auch Sie mit, konservativen Journalismus zu stärken. Jeder Beitrag zählt!