Wie die US-Politik in der Ukraine und in Gaza die Sicherheit in Europa gefährdet

Die ukrainische Gegenoffensive hat ihre Ziele weitgehend verfehlt, die wehrfähigen Ukrainer fliehen nun vor der eigenen Armee. Auf dem anderen Kriegsschauplatz hat die brutale Angriffsoperation der IDF in Gaza mit Unterstützung der USA keine militärische Wirkung zur Zerschlagung der Hamas erzielt. Die transatlantisch orientierte Politik der westlichen Eliten gefährdet nun die Sicherheit Europas, schreibt der Politikwissenschaftler Dr. Seyed Alireza Mousavi.

25.11.2023
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Wie die US-Politik in der Ukraine und in Gaza die Sicherheit in Europa gefährdet
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu begrüßt den US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden.© IMAGO / ZUMA Wire / Seyed Alireza Mousavi

Während die Öffentlichkeit derzeit dem Gaza-Krieg große mediale Aufmerksamkeit schenkt, werden immer mehr Informationen über die miserable Lage der ukrainischen Soldaten auf dem Schlachtfeld durchgestochen. Rund 190.000 Ukrainer im wehrfähigen Alter leben laut WELT-Informationen in Deutschland. Angesichts der massiven Verluste an der Front, zu denen die Regierung in Kiew keine Angaben macht, ist die Zahl der ins Ausland geflüchteten Männer sehr hoch. Das ist im Grunde eine beachtliche Zahl, mit Blick auf die jüngste Aussage des neuen ukrainischen Verteidigungsministers Rustem Umjerow, wonach die reguläre Armee des Landes insgesamt aus 800.000 Soldaten besteht.  Bei der Gegenoffensive ging es darum, Gebiete im Süden zurückzuerobern. Doch nun, Monate später, ist Enttäuschung eingekehrt. Die Frontlinie hat sich kaum verschoben. Eigentlich wollte die ukrainische Armee in wenigen Wochen bis zur Schwarzmeerküste vorrücken. Die Ukrainer haben sich jedoch in den aufgehäuften Minenfeldern und den starken Verteidigungsstellungen der Russen festgelaufen, so die Militärexperten. Rund 100.000 ukrainische Soldaten sollen bei der Gegenoffensive getötet worden sein, wobei von einem Vielfachen an körperlich und seelisch Verwundeten seit Beginn des Ukraine-Krieges gesprochen wird.

Zudem hält Washington seine Finanzhilfen für Kiew zurück und verweist auf den Shutdown der US-Regierung.. Derzeit deuten die Entwicklungen darauf hin, dass die USA an einem Konzept arbeiten, um einen Waffenstillstand zwischen Kiew und Moskau zu erzielen. Dazu gehören Ideen, wie sie der frühere NATO-Generalsekretär Anders Rasmussen kürzlich ins Gespräch brachte: Die Ukraine könne dem NATO-Bündnis ohne besetzte Gebiete beitreten. Damit ist der Gedanke ausgesprochen, dass Kiew faktisch einen Teil seines Staatsgebiets preisgeben müsse. Es ist dabei auch entscheidend zu erkennen, dass die US-Amerikaner einen Waffenstillstand in der Ukraine brauchen, um ihren Vasallen neu aufzurüsten und zu bewaffnen – und um ihn irgendwann wieder in die Schlacht gegen Russland zu schicken. Für die Ukrainer gibt es aus der Sicht Washingtons keine andere Verwendung. So wächst derzeit der Druck auf Kiew, mit Russland zu verhandeln.

Die US-Amerikaner halten sich bedeckt

Auf dem anderen Schlachtfeld hat die brutale Angriffsoperation der IDF in Gaza mit Rückendeckung der USA bisher keinen militärischen Erfolg zur Zerschlagung der Hamas erzielt. Der jüngste Deal zum Gefangenenaustausch zwischen der Hamas und Israel sowie die mehrtägige Feuerpause waren ein schwerer Rückschlag für die israelische Armee und Netanjahu, die nach der Umzingelung der Stadt Gaza versucht hatten, eine Botschaft des militärischen Sieges Israels in Gaza sowie die Zerschlagung der Hamas-Strukturen an die Öffentlichkeit zu vermitteln. Dazu gehörten die Propagandabilder von der Einnahme des angeblichen „Hamas-Parlamentsgebäudes“ in der Stadt Gaza durch israelische Truppen. Nach langwierigen Verhandlungen einigten sich Israel und die Hamas auf eine Vereinbarung, welche die Freilassung von in den Gazastreifen verschleppten Geiseln im Gegenzug zur Freilassung von palästinensischen Gefangenen sowie eine mehrtägige Feuerpause vorsieht. Auf beiden Seiten handelt es sich bei den Gefangenen um Kinder, Jugendliche und Frauen. Der israelischen Armee ist es in den vergangenen Wochen nicht gelungen, irgendeine Spur von den Geiseln in Gaza zu finden.

Etwa 30.000 Hamas-Kämpfer haben sich schon längst in Tunneln in Gaza verschanzt, wo sie von Angriffen der israelischen Armee verschont geblieben sind und für die Straßenkämpfe einsatzbereit sind. Insgesamt soll das Netz laut Schätzungen etwa 1300 Tunnel mit einer Gesamtlänge von rund 500 Kilometern umfassen. Einige reichen demnach bis zu 70 Meter tief in die Erde. Es wird auch spekuliert, dass die Hamas durch die Tunnel weiterhin militärischen Nachschub bekommt. Die israelische Armee hat sich bisher keinen Zugang zum Spinnennetz von Tunneln der Hamas in Gaza verschaffen können. Außer der wahllosen Bombardierung Gazas und der Zerstörung der Infrastruktur hat die IDF bisher keinen militärischen Erfolg verbuchen können.  Die Kosten für den Krieg und für die Verteidigung in Israel sind zudem hoch. Jede Rakete, die der Iron Dome abfängt, kostet zwischen 40.000 und 50.000 Dollar. Für Israels Wirtschaft birgt der Krieg noch weitere Probleme. Beobachter fürchten, dass Israel 2024 in die Rezession abrutschen könnte. 

Israel verfehlt gesteckte Ziele

Nach dem Versagen des Geheimdienstes am 7. Oktober ist aber Netanyahus politisches Überleben an eine langfristige Kriegsführung gegen Gaza gebunden. Netanjahu hatte kürzlich versucht, die Verantwortung von sich zu weisen, indem er die Geheimdienst- und Militärchefs für die Sicherheitsmängel verantwortlich machte, die zu den erfolgreichen Hamas-Angriffen führten. Ein Waffenstillstand wird am Ende die Absetzung Netanyahus zur Folge haben und die derzeitige Waffenpause zwischen der Hamas und Tel Aviv ist der erste Schritt zum Ende der Ära Netanyahu in Israel.

Israel zielt derzeit nach der Zerstörung von Gaza-Stadt darauf ab, die Umsiedlung der staatenlosen Palästinenser in den Westen zu ermöglichen. Die israelische Geheimdienstministerin Gila Gamliel hat die internationale Gemeinschaft dazu aufgerufen, anstelle eines Wiederaufbaus des Gazastreifens eine „freiwillige Umsiedlung“ der Palästinenser aus dem Küstengebiet in andere Länder zu fördern. Der Westen sollte Gaza-Flüchtlinge willkommen heißen, hieß es auch kürzlich im Wall Street Journal (WSJ). In einem Meinungsartikel forderten die israelischen Knesset-Abgeordneten Danny Danon und Ram Ben-Barak, dass die westlichen Länder den mehr als zwei Millionen Palästinensern, die seit fast zwei Jahrzehnten in dem „größten Gefängnis der Welt“ – also dem Gaza-Streifen – leben, einen „Zufluchtsort“ bieten sollten. Die Gefahr besteht nun darin, dass Deutschland vor allem wegen seiner sogenannten „historischen Verantwortung“ gegenüber Israel die große Last am Ende tragen sollte, um Israels stets empfundene existenzielle Bedrohung zu entschärfen.

Zukunft der Menschen in Gaza ungewiss

Derzeit intensivieren sich zudem die Angriffsoperationen der Stellvertreter Irans gegen Israel und die USA in der Region. Vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges kaperte die Huthi-Bewegung im Jemen kürzlich ein Schiff mit Verbindungen zu Israel und nahmen dessen Besatzung als Geiseln. Die Operation zeigt, dass Irans Verbündete nicht nur einen Mehrfrontenkrieg gegen Israel starten, sondern auch versuchen, auf US-Interessen in der Region zu zielen. Und das zeugt von einer globalen Dimension des Gaza-Krieges. Dass ein israelischer Militärsprecher die Huthi-Aktion als „gravierendes Ereignis“ bezeichnete, dürfte eher damit zu tun haben, dass solche Angriffe die Lieferketten unterbrechen könnten und die Ölpreise in die Höhe schnellen lassen.

Der Jemen liegt direkt an der Einmündung in das Rote Meer und fungiert damit als Vorposten zum Suezkanal, einer der am stärksten befahrenen Routen der Welt. Solche Angriffe könnten dem Welthandel massiven Schaden zufügen und sind damit ein wirksamer Hebel gegen die US-Politik in der Region. Der Seeweg durch den Bab al-Mandab verbindet das Rote Meer mit dem Golf von Aden. Die meisten Tanker mit Öl oder verflüssigtem Erdgas, die vom Golf kommend den Suezkanal nutzen, müssen die Meerenge zwischen dem afrikanischen Dschibouti und der jemenitischen Küste passieren.  Hinzu kommt: Iran könnte zahlreiche Schiffe, die täglich die Straße von Hormus durchqueren, ins Visier nehmen, falls sich der Krieg in Gaza in die Länge zieht. Jeden Tag nutzen ein Fünftel der weltweiten Ölversorgung und ein Viertel des weltweiten Flüssiggashandels, insbesondere aus Katar, diesen Seeweg. Sollte der Transit unterbrochen werden, hätte dies dann erhebliche Auswirkungen auf die weltweiten Öl- und Gaspreise – wovon wiederum Lieferanten wie Russland und Iran im Globalen Süden profitieren.

Ein Diplomat der US-Botschaft in Oman warnte kürzlich Washington davor, dass seine kontinuierliche Unterstützung der israelischen Militäraktion im Gazastreifen den Zorn der arabischen Welt hervorruft. Dies ging aus einem diplomatischen Telegramm hervor, das CNN vorliegt. Die USA „verlieren die arabische Öffentlichkeit für eine Generation“. Der Hauptrivale der USA, nämlich China, betrachtet diese Lage durch das Prisma des Großmachtkonflikts mit Washington. Als selbsterklärte Stimme des „Globalen Südens“ tritt nun Peking für die Rechte der Palästinenser ein, um damit dem Einfluss des Westens im ressourcenreichen Orient für immer ein Ende zu setzen, wobei Europa im Zuge der neuen Kriege droht, mit einer neuen Flüchtlingswelle überzogen zu werden.


Zur Person:

Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.