Günter Scholdt: „Krisen erweisen sich als wichtige Herrschaftsmittel“

In seinem Buch „Reden wir über Postdemokratie“ zeigt der Historiker und Literaturwissenschaftler Günter Scholdt, wie unsere Demokratie immer mehr in einen Totalitarismus abrutscht. Jetzt ist das Buch neu aufgelegt worden. Im Interview mit FREILICH erklärt er, warum einige Änderungen an seinem Text notwendig waren.

Stefan Juritz
Interview von
25.9.2023
/
7 Minuten Lesezeit
Günter Scholdt: „Krisen erweisen sich als wichtige Herrschaftsmittel“
Prof. Dr. Günter Scholdt© Privat

FREILICH: Herr Scholdt, es ist noch kein Jahr vergangen, und schon ändern Sie Ihren Text für die Neuauflage. War schon alles revisionsbedürftig?

Günter Scholdt: Zunächst einmal freue ich mich, dass der Band kein Ladenhüter ist, sondern offenbar von den Lesern angenommen wurde. Sonst gäbe es jetzt keine Notwendigkeit zum Nachdruck. Was Ihre Frage nach der Revision betrifft, muss ich etwas ausholen, beginnend mit der Feststellung: Für einen selbstkritischen Verfasser ist kaum ein Werk jemals abgeschlossen oder perfekt. Er merkt das besonders bei Buchvorstellungen, von denen ja nicht nur das Auditorium profitiert.

Eine solche Veranstaltung dient als Nagelprobe dafür, ob man etwas richtig beurteilt, umfassend begründet beziehungsweise anschaulich und unmissverständlich formuliert hat. Ich mag solche Kontrollen. Besonders wenn man aus einer Diskussion schlauer herauskommt, als man hineingegangen ist. Und im günstigsten Fall verhilft die Resonanz, das Geschriebene zu verbessern.

Und das war also nötig?

Als fehlerhaft oder bedürftig, Grundsätzliches in Frage zu stellen, erscheint mir mein Text auch nach etlichen Diskussionen nicht. Änderungsbedarf bestand lediglich, insofern man gern auf dem neusten Stand argumentiert. Manche Ereignisse sind bereits vergessen, andere abgeschlossen, während bei Redaktionsschluss der Ausgang noch offen war. Oder es finden sich noch einprägsamere, drastischere, anschaulichere Beispiele. Auch gab es Passagen, die es nach Fragen von Diskutanten nahelegten, Details stärker auszuführen. Ausnahmsweise war auch eine Differenzierung angebracht.

Welche?

In einer Berliner Diskussion monierte Erik Lehnert vom Institut für Staatspolitik, ich hätte die größere Meinungsäußerungsfreiheit der Bundesrepublik im 20. gegenüber der Entwicklung im 21. Jahrhundert etwas zu kontrastreich gezeichnet. Gegenüber „rechts“ hätte es in diesem Staat nie echte Toleranz gegeben. Das stimmt natürlich, und mir war dies bei meiner Gegenüberstellung auch bewusst. Nur beharre ich darauf, dass das Overtone-Fenster damals erheblich weiter geöffnet und von der Mehrheitsmentalität her Duckmäusertum nicht die Norm war. Zu den größten geistigen Verlusten der gegenwärtigen Generation gehört schließlich das freiheitliche Rechtsbewusstsein, das, was einem auf der Seele brennt, auch öffentlich angstfrei äußern zu dürfen.

Gleichwohl gab es auch unter Adenauer, den folgenden Kanzlern und dem Einfluss der Besatzungsmächte Zensur und Repression. Die (in NS-Nachfolgeverdacht stehende) Sozialistische Reichspartei und die KPD wurden 1952 beziehungsweise 1956 verboten. Auch spätere rechte Parteien hat man nie als „demokratisch“ akzeptiert, wobei anfangs allerdings noch etliche nationalbewusste Positionen durch die CSU vertreten wurden. Die Revision der Zweitauflage beschreibt die Vorgänge nun differenzierter, ohne die Kontur zu verwischen.

Und ein Beispiel für mangelnde Ausführlichkeit.

Ich habe den Schulterschluss von links mit Big Money nun etwas breiter dargestellt. Insbesondere die anschauliche Problemskizze im April-Heft von FREILICH durch Kevin Dorow („Diversity, Klima und Antirassismus: Wie sich ‚Wokeness‘ und Kapitalismus heute verbünden“, Anm. d. Red.) hat mich dazu veranlasst. Es galt das Bewusstsein zu schärfen für die Freiheitsgefahren durch „Woke Capitalism“, der zugleich ein Lebensgefühl verkauft, indem er die früher offen proklamierten Gewinnmaximierungsziele inzwischen mit Weltrettungsagenden verknüpft. Im Kern läuft hier zwar ein Ablenkungsmanöver angesichts von skandalösen Wirtschaftsschäden durch Bankenkrise und „kreatives Steuersparen“. Doch identifiziert sich damit eine gleichgestimmte universitätsverseuchte Pseudoelite in Management, Marketing und bei etlichen gehirngewaschenen Kunden.

Zudem üben die bigotten Strippenzieher durch massive Personalschübe in ihren Konzernen und Druck auf andere Firmen oder Sozialgruppen ideologische Kontrolle aus. Ihr unmittelbarer Einfluss auf die aktuelle Politik ist immens. Allein finanziell sind die Soros, Rockefeller, Sam Brinkman-Fried, Warren Buffet, Mark Zuckerberg, MacKenzie Scott, Jeff Bezos e tutti quanti zu fürchten. Und wer hält eine Kampagne von Amazon, Coca-Cola, Adidas, Nike oder Blackrock schon aus?

Rechnet sich das denn für die Firmen und Staaten? Die „Wahrheit“ zu statuieren, zu verwalten und gegen alle Kritik dogmatisch zu verteidigen, hat doch ihren hohen Preis.

Und ob. Die heute gängige polittheokratische Tendenz bleibt natürlich nicht ohne Erkenntnis- oder Wohlstandsverluste. Machtgestützte „Wissenschafts“-Dogmen – aus Geschichte oder Politik, über Klima-, Rassismus-, Corona- oder Identitätskonzeptionen – verhindern analytischen Fortschritt. Denn der ist nur durch ständigen Zweifel zu haben. Erwünscht ist zur Zeit jedoch nur mehr Bestätigungsforschung zur Rechtfertigung politisch Führender, die inzwischen mit Billionen statt Milliarden jonglieren und Staatsbankrotte per uferloser Geldschöpfung hinauszuzögern.

Immerhin besitzen unsere gigantischen „Eliten“-Projekte wie seit Jahrtausenden ihren herrschaftsstabilisierenden Effekt. Selbst die ungeheuren ökonomischen Opfer des ägyptischen Volks für so egozentrische Maßnahmen wie den Pyramidenbau „lohnten“ sich für die Führungscliquen. Unterwarfen sie die Gesellschaft doch einer gemeinsamen Idee, die allein ihrer staunenswerten Größe wegen Erhabenes zu verbürgen schien. Auch heute, wo gleich die ganze Welt oder deren Klima „gerettet“ wird, scheinen die uns Dominierenden quasi in höherem Auftrag zu handeln.

Seit mehreren Jahren befinden wir uns unübersehbar in einer Art Dauerkrisenmodus. Mir fiel auf, dass sie in der Zweitauflage die Funktion der Krisen noch stärker betont haben. Wirken sie als Katalysator auf dem Weg in die Postdemokratie?

Zweifellos. Massenfurcht, geschickt kommunizierte Krisen wie die schamlose Ausbeutung des Generationenkonflikts erweisen sich als wichtige Herrschaftsmittel. Entsprechende auf Emotionen gestützte Manipulationserfolge gerade in letzter Zeit sind kaum zu übersehen. Allenfalls lässt sich darüber streiten, ob Ängste und Krisen bewusst ausgelöst oder nur agitatorisch genutzt werden. Der Finanzwissenschaftler Fritz Söllner erläuterte 2022 in seiner Studie Krise als Mittel zur Macht, wie sich unverhältnismäßige Eingriffe in Bürgerrechte und Ökonomie in diesem Sinne auswirken. Die Studie enthält entsprechende Zitate: So äußerte etwa Angela Merkel, man werde Recht und Gesetz einhalten, „wo immer das notwendig ist“. Die EZB-Präsidentin Lagarde gestand, „alle Regeln gebrochen“ zu haben, „weil wir die Eurozone retten wollten“. Und Schäuble jubelte 2020: „Die Corona-Krise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderungen wird in der Krise geringer. Die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben, können wir jetzt hinbekommen.“

Was dergleichen für Wohlstandsverluste beziehungsweise Geldwertstabilität bedeutet, hat Söllner übrigens auch beziffert. Aufgrund der EZB-Politik ist die Menge des Zentralbankgelds von 2010 bis 2021 um 392 Prozent gestiegen, unser reales Bruttoinlandsprodukt aber nur um 16. Ergänzend erläuterte kürzlich der Bundesrechnungshofpräsident, der Staat habe in der kurzen Frist von drei Jahren 850 Milliarden Euro Schulden gemacht, gegenüber lediglich 1,3 Billionen in sieben Jahrzehnten zuvor.

Auch in Sachen Freiheitsverluste und öffentlicher Zensur war offenbar noch einiges nachzutragen.

Stimmt. Als letzter Schrei postdemokratischer Verpetzkultur kam die „Meldestelle Antifeminismus“ hinzu, bezeichnenderweise finanziert aus dem grünen Familienministerium und betreut von der Amadeu-Stiftung, die eine ehemalige Stasi-Spitzelin leitet. Dort möge man Personen oder Medien melden, die ‚antifeministische Narrative‘ veröffentlichen, sich kritisch über gendergerechte Sprache äußern oder dieses in ihren Räumen dulden. Das Ganze firmiert übrigens unter „Demokratie stärken“, was den Kolumnisten Harald Martenstein zum Vorschlag veranlasste, unser Land offiziell in „Deutsche Demokratische Republik“ umzubenennen.

Nachzutragen waren auch Details zur skurrilen „Reichsbürger“-Hatz, die etliche Satiriker nicht schöner erfinden könnten. Desgleichen zur politisch motivierten Ungleichbehandlung vor Justiz und „Verfassungsschutz“, dessen Agitation gegen die AfD in dem Maße zunimmt, wie deren Umfragewerte steigen. Es lässt sich kaum noch übersehen, dass das Establishment einen Konkurrenten beim Wähler am liebsten verbieten will. Dazu passt die Indizierung der Jungen Alternative und diverser Landesverbände als „erwiesen extremistisch“, weil sie am traditionellen Volksbegriff festhalten. Eine erschreckend-abstruse Rechtspraxis, die Martin Wagener auch andernorts diagnostizierte: Kulturkampf um das Volk. Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen.

Gerade wurde im Vorfeld einer schlechterdings absurden Anklage zum siebten Mal Björn Höckes Immunität aufgehoben. Er hatte in einer Wahlrede tatsächlich proklamiert: „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland!“ Und das muss für „Demokratieschützer“ – aber nur für sie allein – etwas ganz Erschröckliches sein. Auch die Parteilichkeit der öffentlich-rechtlichen – nominell zur Regierungsferne verpflichteten – Medien hat nochmals zugenommen. 2022 wurden in ihren Talkshows unter 457 Gesprächsgästen der Bundestagsparteien gerade mal zwei aus der AfD eingeladen. Ganze vier Promille.

Auch in Sachen Corona haben Sie nochmals nachgelegt.

Ja. Und ich glaube, zu Recht. Denn wir sollten nicht völlig vergessen, zu welchen nicht nur verbalen Ungeheuerlichkeiten sich etliche Vertreter der höheren Regierungsmoral seinerzeit verstiegen. Nur so lässt sich im Nachhinein auch die Standhaftigkeit von Kickls FPÖ angemessen würdigen. Andererseits erinnere man sich daran, was in Deutschland so alles empfohlen wurde. Boris Palmer drohte mit Beugehaft für Impfverweigerer. Der „subtile“ Joachim Gauck sprach von „Bekloppten“. Der Schwabe Winfried Kretschmann entdeckte bei Coronademonstranten „Aasgeier der Pandemie“. Der Pöbel-Clown im Solde des Staatsfunks, Jan Böhmermann, konstatierte: „Was Ratten in der Zeit der Pest waren, sind Kinder zurzeit für Covid-19.“

Dutzende weiterer Unappetitlichkeiten dieser Art dokumentieren die Internetseite „ich-habe-mitgemacht.de“ beziehungsweise Marcus Klöckner und Jens Wernicke mit dem Buch „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Das Corona-Unrecht und seine *Täter. Darin finden sich Zitate zum „Aufbewahren für alle Zeiten!“. Denn schon droht die WHO per Pandemievertrag mit weiteren Beschneidungen von Bürgerrechten und nationaler Souveränität bei von ihr definierten Seuchen.

Solche Aktualisierungen werfen zwei Fragen auf: Wird ihr Buch, wenn’s zu einer dritten Auflage kommen sollte, noch dicker? Und wäre auch der Text nicht schon veraltet, wenn er gerade neu gedruckt wird?

Die Gefahr, dass Reden wir über Postdemokratie je zum dickbauchigen Schinken wird, ist gering, obwohl mir das Material dazu nicht ausginge. Meine private Datei allein zu den (Widerspruch behindernden) „Waffen der Postdemokratie“, ist drei bis viermal so lang wie dieses Bändchen. Doch was dessen Umfang betrifft, gibt‘s für mich Grenzen. Die dürfen nicht überschritten werden, wenn es seinen Charakter als Vademecum zur Beschreibung der heutigen Lage behalten soll. Daher habe ich im Text auch gestrichen beziehungsweise manches nur durch aktuellere Belege ersetzt. Das Anwachsen von 94 auf 101 reine Textseiten bei großzügigem Druck sollte für Leser verkraftbar sein.

Die Aktualisierungen wiederum dienen der Verständlichkeit – natürlich im Bewusstsein, dass ein politisches Buch den Kampf gegen eine ständig fortschreitende Entwicklung nie gewinnen kann. Allerdings setzt er mit einigem Recht auf ein verständnisvolles Lesepublikum, das vornehmlich den Kern einer Sache im Auge hat und den Text für sich selbst durch jeweils neuere Beispiele des eigenen Umfelds ergänzt.

Vielen Dank, Herr Scholdt!


Zur Person:

Günter Scholdt wurde 1946 in Mecklenburg geboren. Der Germanist und Historiker lehrte an der Universität Saarbrücken und leitete bis 2011 das „Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass“. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte betreffen neben der Literatur des Dritten Reiches und der Inneren Emigration aktuelle gesellschaftliche und politische Deformationen.

Im Netz: scholdt.de