Beispiel Dänemark

Die „rechte Sozialdemokratie“ als Erfolgskonzept?

In seiner Analyse beleuchtet Daniel Fiß die Entwicklung der dänischen Sozialdemokratie und erklärt, wie der Vorsitzenden der Sozialdemokraten die strategische Meisterleistung gelungen ist, sowohl ihre linken Koalitionspartner als auch die rechtskonservativen Wählerschaften für sich zu gewinnen.

Daniel Fiss
Analyse von
18.4.2023
/
6 Minuten Lesezeit
Die „rechte Sozialdemokratie“ als Erfolgskonzept?
Daniel Fiß

Die Analysen über den Niedergang der europäischen Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert füllen inzwischen wohl einige kleine Bibliotheken. Während sozialdemokratische Parteien im 20. Jahrhundert in den meisten westlichen Parteiensystemen die dominierende politische Kraft waren, haben sich die wahlpolitischen Gewichte heute deutlich verschoben und sind wesentlich flüchtiger und dynamischer geworden. Der kulturelle Wertewandel und die Transformationsprozesse hin zu postindustriellen Ökonomien haben die Sozialdemokratie in ein strategisches Dilemma gebracht. Ihr früheres traditionelles Kernmilieu der Arbeiter („blue collar workers“) ist zunehmend geschrumpft und stellt dementsprechend zu wenig potenzielle Masse für wirkliche Wahlerfolge dar. Gleichzeitig ist diese Arbeiterschicht im Durchschnitt konservativer bis rechter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Auf der anderen Seite ist ein wachsendes neues Bürgertum entstanden, das sich vor allem durch Urbanität, Akademisierung, Kosmopolitismus und progressive Einstellungspräferenzen auszeichnet.

Die sozialdemokratischen Parteien können für keines der beiden Milieus eine exklusive Zielgruppe beanspruchen. Von links wurde die Sozialdemokratie von den grünen und sozialistischen Parteienfamilien bedrängt, von der konservativen Flanke brach der Rechtspopulismus ein. Bereits mit dem Aufstieg der Republikaner in Deutschland beziehungsweise der FPÖ unter Jörg Haider in Österreich in den 1990er-Jahren sprachen einige politische Beobachter von einer Proletarisierung des rechten Wählerpotenzials. Auch in anderen Ländern wie Frankreich zeigte sich schon früh, dass der Zugang zu einfachen Arbeitern und unteren Mittelschichten nicht mehr ausschließlich sozialdemokratischen Parteien vorbehalten war.

Die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa, insbesondere in Deutschland und Frankreich, haben sich schließlich bewusst gegen die Pflege ihrer traditionellen Wählermilieus entschieden und stattdessen den Überzeugungskampf um die linke Mitte aufgenommen. Die Erfolge in diesen Wählermilieus waren für die Sozialdemokraten allerdings eher mäßig, so dass in einem Land wie Dänemark ein neuer strategischer Ansatz erprobt wurde, der auch bei einigen alten SPD-Kadern in Deutschland auf Interesse stieß.

Dänemark und die „rechte“ Sozialdemokratie

Nach der Jahrtausendwende erlebte die dänische Sozialdemokratie eine lange Durststrecke. Eine liberal-konservative Minderheitsregierung mit der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei konnte zunächst über ein Jahrzehnt die dänische Politik prägen. Der „rote Block“ der Mitte-links-Parteien war weitgehend abgemeldet, während das liberal-konservativ-rechte Bündnis des „blauen Blocks“ durch eine pragmatische Allianz vor allem in der Migrationspolitik einige Akzente setzen konnte.

Seit 1920 waren die dänischen Sozialdemokraten stets mit Wahlergebnissen von über 30 Prozent verwöhnt worden, 2015 kam dann der historische Absturz auf nur noch 25 Prozent der Wählerstimmen. Sicherlich ein Ergebnis, von dem manche sozialdemokratische Partei in Europa heute nur träumen kann, aber für die außerordentlich starke sozialdemokratische Parteienfamilie in den skandinavischen Ländern war dieses Ergebnis eine Zäsur. Die Dänische Volkspartei wurde bei diesen Parlamentswahlen stärkste Kraft innerhalb des blauen Blocks. Nach mehr als zehn Jahren in der Rolle des Mehrheitsbeschaffers für die bürgerlich-liberale Allianz zeigte sie sich jedoch nicht bereit, in eine Regierungskoalition einzutreten. Diese Entscheidung wird sich bei den nächsten Parlamentswahlen 2019 letztlich als Genickbruch für die Rechtspopulisten erweisen.

Rechte Einwanderungspolitik – Linksprogressive Umwelt- und Sozialpolitik

Für die Sozialdemokraten und ihre neue Parteivorsitzende Mette Frederiksen war ab diesem Zeitpunkt klar, dass ihre Partei nur eine Zukunft haben würde, wenn sie ihre migrationspolitischen Forderungen und ihr kultur- und wertepolitisches Profil an den Interessen ihrer alten Kernmilieus in der Arbeiterschaft ausrichten würde. Der Zugewinn der Dänischen Volkspartei im Jahr 2015 stammte zu 20 Prozent von ehemaligen Wählern linker Parteien. Die Topthemen der dänischen Politik waren über mehr als ein Jahrzehnt die Einwanderungs- und Integrationspolitik, und hier konnten die Dänische Volkspartei, die Konservativen und die Liberalen die Themensetzung nach Belieben steuern und mit ihren eigenen Positionen aufladen. Insbesondere die Verknüpfung von Migrationsbegrenzung mit dem Schutz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ist bis heute eine wichtige Zustimmungsressource in der dänischen Parteienlandschaft. In einem 42-seitigen Strategiepapier haben Führende dänische Sozialdemokraten unter anderem folgende Eckpunkte beschlossen, die für eine SPD-Politik in Deutschland heute eigentlich undenkbar sind. Einige ausgewählte Punkte aus dem Papier:

  • Kürzung oder Einstellung der Entwicklungshilfe für Staaten, die nicht bereit sind, abgelehnte Asylbewerber aus Dänemark aufzunehmen,

  • Asylantragszentren in den Herkunftsländern der Asylbewerber,

  • Einrichtung spezieller Polizeieinheiten für die Rückführung abgelehnter Asylbewerber,

  • Beratung und finanzielle Unterstützung bei der Rückkehr in das Herkunftsland, noch bevor über den Asylantrag entschieden wurde.

Nach der Regierungsübernahme durch die Sozialdemokraten folgten schließlich weitere Maßnahmen und Zielvorgaben, die auch Zuwanderungsbeschränkungen nach kulturellen Parametern festlegten. So plante die Regierung für 2021 ein Gesetz, das eine Höchstzahl von Zuwanderern aus „nicht-westlichen“ Kulturkreisen definiert und als politisches Ziel festlegt.

Mit diesem politischen Strategiewechsel konnte Frederiksen die Sozialdemokratie in Dänemark zwar nicht zu alter Größe zurückführen, aber immerhin wieder an die Regierung bringen und den bürgerlichen Block politisch lähmen. Das Wahlergebnis von 2019 war zwar kein Erdrutschsieg für die Sozialdemokraten, aber der Einbruch der Dänischen Volkspartei mit zweistelligen Verlusten hat die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zugunsten einer Mitte-Links-Koalition verschoben.

Frederiksen gelang das strategische Kunststück, einerseits für ihre linken Koalitionspartner umfassende Maßnahmen linker Verteilungspolitik und Klimaschutzpakete durchzusetzen und andererseits mit einer restriktiven Migrationspolitik rechtskonservative Wählerschichten zurückzugewinnen. Damit gelang es ihr, die beiden zentralen Problemflanken der heutigen Sozialdemokratie zu schließen. Soziokulturell werden die rechten und sozioökonomisch die linken Zielgruppen bedient – und damit die ideologischen Grundkonflikte der dänischen Gesellschaft befriedet und entschärft. Mit einer Kombinatorik aus neu gewonnenen Wählern aus den abgeschiedenen Arbeiterprovinzen und gleichzeitig vielen Jungwählern in den urbanen Zentren kann sich die Sozialdemokratie nun spätestens ab 2019 solide und mehrheitsfähig in der dänischen Parteienlandschaft behaupten. Auch die Themensetzung im Wahlkampf 2019 begünstigte letztlich die sozialdemokratische Linie, die mit Sozial- und Klimaschutzthemen das progressive Lager einfangen und zugleich mit einer restriktiven Einwanderungspolitik das migrationskritische Lager befrieden und damit neutralisieren konnte.

Niedergang des rechten Lagers in Dänemark

Die politische Rechte liegt in Dänemark heute in Trümmern. Bei den Parlamentswahlen 2022 erhielt die Dänische Volkspartei nur noch 2,7 Prozent der Stimmen und verpasste damit knapp den Einzug ins Parlament. Ein Verlust von fast 20 Prozent in nur sieben Jahren. Die Folge: das rechte Lager ist nun in mehrere rechte Parteien gespalten, die sich gegenseitig ihre Wählerpotenziale wegnehmen. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, diesen Exodus allein auf die Neupositionierung der dänischen Sozialdemokraten zurückzuführen. Zwar ist die Migrationsfrage nach wie vor Markenkern und Erfolgsbedingung rechter Parteien, aber ein wesentliches Aufstiegskriterium des Rechtspopulismus in Europa ist unter anderem die soziokulturelle Leerstelle im Feld der Migrations- und Identitätspolitik. In Dänemark sind mit dem Schwenk der Sozialdemokraten migrationskritische Positionen inzwischen parteiübergreifend konsensfähig.

Nachwahlbefragungen und -analysen aus dem Jahr 2015 zeigen jedoch, dass die Dänische Volkspartei im Moment ihres größten Triumphes von ihren Wählern als zu feige wahrgenommen wurde, um als stärkste Kraft innerhalb des „blauen Blocks“ echte Regierungsverantwortung zu übernehmen. Sie verzichtete damit auf alle echten Gestaltungsmöglichkeiten, um mit eigenen Ministern und Ressorts mitregieren zu können und nicht nur parlamentarischer Abnicker zu sein.

In Deutschland äußerte der ehemalige SPD-Parteichef Sigmar Gabriel 2019 noch gewisse Sympathien für den dänischen Weg der Sozialdemokratie und forderte auch von seiner Partei eine gewisse strategische Öffnung für eine migrationskritische Programmatik. Mittlerweile wird die SPD jedoch vollständig vom linken Parteiflügel dominiert. Sowohl die Parteiführung als auch die Bundestagsfraktion und der Jugendverband sind auf eine einheitliche linke Agenda eingeschworen.

Für die AfD dürfte realistischerweise eher ein Rechtsruck der Christdemokraten die größere Gefahr darstellen. Die Berlin-Wahl im Februar hat bereits erste Signale dafür geliefert, dass die Union durchaus in der Lage ist, eine Proteststimmung für einen Wahlkampf zu erzeugen, von der am Ende natürlich nicht viel übrig bleibt, die aber ausreicht, um die Wähler zu täuschen. Hier muss die AfD an ihrem migrationskritischen Markenkern festhalten.

Mit Blick auf die Bundestagswahl 2024 könnte das Schicksal der Dänischen Volkspartei auch für die AfD eine Lehre sein. Wer in Umfragen bei 30 Prozent liegt, kann sich im Wahlkampf nur schwer als reine Protest- oder Oppositionspartei verkaufen. Auch wenn eine Regierungsbeteiligung unwahrscheinlich ist und auch bei der Konkurrenz auf Ablehnung stoßen wird: Die Erwartung der Wähler wird durchaus in Richtung politische Mitgestaltung gehen.


Zur Person:

Daniel Fiß, geboren 1992 in Rostock – studierte sechs Semester Good Governance und Politikwissenschaft an der Universität Rostock. Von 2016 – 2019 war er Bundesleiter der Identitären Bewegung Deutschland. Seit 2017 betreibt er als selbstständiger Unternehmer eine eigene Grafikagentur. Fiß befasst sich intensiv mit den Fragen politischer Kommunikation und ihrer Wirkung und ordnet diese in grundlegende strategische Fragestellungen des rechtskonservativen Milieus ein. Seit 2020 betreibt er dafür den Feldzug Blog, in dem er sich regelmäßig Analysen zu Demoskopie, politischer Soziologie und Kommunikation widmet.