Auszug aus dem Interview mit Michael Esders: „Macht ist Definitionsmacht“

Was dürfen wir reden, wenn bestimmt wird, was zu sagen ist? Der Germanist Michael Esders untersucht die Wirkmächtigkeit von „Sprachregimen“.

Heinrich Sickl
Interview von
1.10.2023
/
4 Minuten Lesezeit
Auszug aus dem Interview mit Michael Esders: „Macht ist Definitionsmacht“
© privat

FREILICH: Herr Esders, sehr wienerisch mit Wittgenstein zu beginnen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Können Sie uns sagen, wovon man heutzutage nicht mehr sprechen kann?

Michael Esders: Wenn sich alle an diese Forderung Wittgensteins halten würden, hätte es ein Sprachregime schwer. Die politische Desinformation arbeitet oft mit Sätzen, die nach Wittgensteins Verständnis sinnlos wären und ungesagt bleiben müssten. Viele dieser Sätze sind sogar ein bewusster Anschlag auf logische Grundsätze. Wenn Politiker eine „spürbare Begrenzung“ der Zuwanderung fordern und sich im selben Atemzug gegen eine „Obergrenze“ aussprechen oder von einem „atmenden Deckel“ reden, dann ist dies – logisch betrachtet – Unsinn. Oftmals ist dieser Unsinn kalkuliert und eine bewusste Begriffsverwirrung. An anderer Stelle hat Wittgenstein gesagt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Diese Satz macht verständlich, warum Sprache ein Politikum ist und Begriffe so umkämpft sind.

Sprache steuert nicht nur meine Wahrnehmung und mein Denken, sondern konstituiert Wirklichkeit, ermöglich es also auch, wünschbare Realitäten zu erzeugen. Wenn beispielsweise der Begriff „Grenze“ moralisch diskreditiert und semantisch in die Nähe von „Ausgrenzung“ gerückt wird, dann hat das weitreichende politische Folgen und unterminiert das Prinzip der Staatlichkeit. Dann kann ich wirklich nur noch „Eine Welt“ denken.

Nun glauben manche, wir leben in der freiesten Gesellschaft auf Erden. Vielleicht stimmt das in gewissen Dingen sogar. Was bedeutet das für die Sprache?

Na ja, in Zeiten des „Social Distancing“ und des Hygieneregimes kann man das auch anders sehen (lacht). Die Kunst ist es ja gerade, die Menschen dazu zu bringen, aus freien Stücken das zu machen, was sie tun sollen. In der Corona-Krise ist das aus Sicht der Regierenden gut gelungen. Sprache und Semantik spielen in diesen und ähnlichen Fällen eine Schlüsselrolle. Sie ermöglichen es, Zustimmung für interessenwidrige Ziele zu organisieren und Fremdbestimmtem stärkste intrinsische Motive zu unterlegen. Das ist übrigens die Ausgangsfrage in meinem Buch: Wie kann es gelingen, eine Agenda durchzusetzen, die den Interessen der Mehrheit eklatant widerspricht und deren zerstörerische Folgen auf der Hand liegen?

Dass das politische Regime und das Sprachregime einen Zusammenhang haben, ist offensichtlich. Aber wie hängt es zusammen?

Macht ist Definitionsmacht. Der Kampf um Begriffe und ihre Bedeutung ist so alt wie das Politische selbst. Das zeigt zum Beispiel die Bedeutung der Rhetorik in der politischen Meinungsbildung im antiken Griechenland. Es wäre nicht nur unklug, sondern auch ineffizient, ein politisches System ausschließlich auf Repression aufzubauen. Wenn zumindest ein Minimum an Akzeptanz und Legitimität vorausgesetzt werden kann, regiert es sich leichter. Hier kommen die sanften Denkzwänge der Begriffe, Metaphern und Frames ins Spiel.

Leben wir in unserer Gesellschaft in Sprachinseln? Kann ein Linker einen Rechten noch verstehen, vice versa ebenso? Und wer hat im Zweifelsfall recht?

Um noch einmal auf das Beispiel „Grenze“ zurückzukommen: Wer darunter etwas moralisch Anstößiges und Menschenverachtendes versteht oder an Stacheldraht und Selbstschussanlagen denkt, wird kaum mit jemandem übereinkommen, der Grenzen als Voraussetzung von Staatlichkeit betrachtet. Hier haben sich Wahrheitssysteme ausgebildet, die in sich abgeschlossen sind und eigenen Gesetzen folgen. Wer die Moralisierung des Begriffes kritisiert, stellt sich außerhalb des gesamten Systems. Auch diese Abspaltung könnte durchaus im Sinne derer sein, die die Regeln des hegemonialen Sprachspieles diktieren können. Das „Divide et impera“ beginnt schon in den Worten. Wenn kein Diskurs mehr möglich ist, weil man keine gemeinsame Sprache mehr spricht, könnte man ihn sich auch gleich sparen. Das kommt einer Politik der Alternativlosigkeit, die „Diskussionsorgien“ am liebsten sofort beenden würde, sehr entgegen.

Sie haben in ihrem Buch „Sprachregime“ untersucht. Versuchen wir, verschiedene typische Sprachwelten anzuschauen. Was macht das Narrativ der „Willkommenskultur“ aus?

Die Ereignisse von 2015 wurden schon früh und zu Recht mit dem Begriff der „Hypermoral“ des Soziologen Arnold Gehlen in Verbindung gebracht. Dabei handelt es sich um eine maßlose Überdehnung der auf eine familiäre Nahoptik eingestellten Ethik des Mitgefühls und der Fürsorge. Diese brach sich in Sätzen wie „Humanität kennt keine Obergrenze“ auf eine Weise Bahn, dass Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in den Hintergrund traten. Verstärkt wurde diese „Moralhypertrophie“, wie Gehlen es nennt, durch eine mediale Aufbereitung, die ganz auf Personalisierung und Storytelling setzte.

Man könnte es auch Pars-pro-toto-Prinzip nennen: Erwünschte Aspekte der Migration wurden fortwährend ins Rampenlicht gestellt – in den allzu bekannten Storys von der qualifizierten Fachkraft, dem ehrlichen Finder oder dem uneigennützigen Helfer. Das Ganze gipfelte dann in den gefakten Rührstücken des Spiegel-Journalisten Claas Relotius. Wenn es um die Schattenseiten ging, wie die wachsende Kriminalität durch Migranten, durfte dann aber plötzlich nicht mehr verallgemeinert werden.

Auch wurde penibel darauf geachtet, dass die Opfer namen- und gesichtslos blieben, dass ihre Geschichte unbekannt blieb. So wurden Anknüpfungspunkte vermieden. Wer keine Geschichte hat, verschwindet im toten Winkel der Aufmerksamkeit.

Das vollständige Interview mit Michael Esders lesen Sie in der FREILICH-Ausgabe 9 „Schöne neue Welt“.