Warum Venezuela einen jahrhundertealten Territorialkonflikt wieder aufwärmt

Venezuela hat die Abstimmung über die Annexion der ölreichen Region Essequibo bewusst auf Anfang Dezember verschoben, um die USA von den kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten und in der Ukraine abzulenken. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, dass Russland und der Iran Caracas ermutigt haben, den alten Grenzkonflikt wieder aufleben zu lassen, um die US-Interventionen in der Ukraine und in Gaza zu stören.

7.12.2023
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Warum Venezuela einen jahrhundertealten Territorialkonflikt wieder aufwärmt
Nicolas Maduro, Präsident von Venezuela© IMAGO / ZUMA Wire

Mit einer Volksabstimmung am Wochenende bekräftigte Venezuela seinen Anspruch auf einen großen Teil des Staatsgebietes von Guyana, der ehemals britischen Kolonie am Ostzipfel Südamerikas. Das Referendum beinhaltete aus guyanischer Sicht nichts Geringeres als die Annexion von zwei Dritteln des Staatsgebiets durch den Nachbarn. Knapp 96 Prozent der Teilnehmer bejahten am Sonntag die Frage, ob ein neuer venezolanischer Bundesstaat namens Guayana Esequiba geschaffen und die dortige Bevölkerung die venezolanische Staatsbürgerschaft bekommen solle. Alle fünf Fragen des Referendums wurden nach offiziellen Angaben mit zwischen 95,4 und 98,11 Prozent der Stimmen mehrheitlich mit Ja beantwortet. Darunter war zudem die Frage, ob Venezuela die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in der Angelegenheit ablehnen soll. Vergangene Woche hatte der IGH, wo der Territorialstreit verhandelt wird, Venezuela jegliche Maßnahmen untersagt, die den Status quo in der Region verändern würden. Das Gericht erklärte allerdings zuvor im April, es sei zwar für den Grenzstreit zuständig, aber eine endgültige Entscheidung in dieser Angelegenheit könnte noch Jahre auf sich warten lassen.

Schon seit der Kolonialzeit gelten Essequibo und die Grenzziehung zwischen Venezuela und Guyana als umstritten. Das Land hatte damals den spanischen Kolonien und den Niederländern gehört, die es später an die Briten abtraten. Schon unter den Niederländern hatte sich das Gebiet bis nach Essequibo ausgebreitet. Im 19. Jahrhundert entfachte ein jahrzehntelanger Streit zwischen Großbritannien und Venezuela, der 1899 vor einem internationalen Schiedsgericht landete, das die heutigen Grenzen weitgehend zugunsten Großbritanniens festlegte. Nach der Unabhängigkeit Guyanas 1966 einigten sich Venezuela, Großbritannien und Guyana in einem Abkommen auf eine friedliche Beilegung des Streits. Heute interpretiert Venezuela die Einigung als Anerkennung seiner Forderungen.

Ein jahrhundertealter Grenzkonflikt zwischen Venezuela und Guyana

In den vergangenen Jahren hat allerdings der Territorialkonflikt eine zusätzliche Komponente erhalten. Die Region Essequibo ist nicht nur reich an Gold und Diamanten. 2015 erhielt der US-Energiekonzern ExxonMobil eine Konzession für Ölexplorationen vor der Küste Guyanas. Wenig später wurde dann ein reichhaltiges Ölfeld entdeckt, das in die Gewässer vor Essequibo hineinreicht, auf die Venezuela Gebietsansprüche erhebt.

An der Mündung des Demerara-Flusses, der entlang der Hauptstadt Georgetown ins Meer führt, hat Guyana sogar kürzlich eine Insel aufgeschüttet, die als Ausgangsstation für die Versorgungsschiffe und Tanker und als Verbindung ins Landesinnere fungieren soll. Und dort errichtet Exxon bereits Werke, um das Öl zu verarbeiten. Caracas stellte sich von Anfang an dagegen. Kurz nach dem Beginn der Bohrungen entsandte Maduro Kriegsschiffe in die Region und wandte sich in einer Protestnote gegen das Vorhaben von Exxon. Der US-Konzern betreibt bereits mehr als ein Dutzend Offshore-Ölfelder, die zu Guyana gehören. Eines davon hat einen geschätzten Wert von mehr als 40 Milliarden US-Dollar. Die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit USAID geht davon aus, dass die Ölfelder Guyana insgesamt jährliche Einnahmen von rund zehn Milliarden Dollar sichern. Es ist dementsprechend kein Zufall, dass die USA und das Commonwealth in der Essequibo-Frage hinter Guyana stehen. Maduro wies bereits den staatlichen Ölkonzern an, „sofort“ Lizenzen für die Förderung von Erdöl und Gas sowie den Bergbau in Essequibo zu vergeben. Als Venezuela 2008 das Ölgeschäft verstaatlichte, orientierten sich Exxon und Shell, die bereits seit Jahren Erkundungserlaubnisse praktisch ungenutzt gelassen hatten, plötzlich nach Guyana um.

Venezuela will das Öl – die USA auch

Die Entwicklungen kommen vor allem zu einem Zeitpunkt, als die Ölallianz OPEC+ sich stets geweigert hat, die Ölproduktion hochzufahren. Die Welt befindet sich seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges in einem globalen Kampf um Energieressourcen. Eine letzte Reihe der OPEC+-Beschlüsse zur Drosselung der Ölförderung seit dem Ukrainekrieg waren faktisch eine Ohrfeige für das Weiße Haus. Diese Beschlüsse waren das Gegenteil dessen, was US-Präsident Biden in den vergangenen zwei Jahren erreichen wollte. Den USA gelang es nämlich nicht, Russlands Einnahmen aus Energieexporten zu minimieren, da die Drosselung der Ölförderung für höhere Energiepreise sorgte. Guyana könnte nun zum viertgrößten Offshore-Ölproduzenten der Welt aufsteigen, während der globale Süden faktisch an der Seite Russlands bei der Energiefrage steht.

In Mainstream-Medien heißt es unter anderem, der Zeitpunkt des Referendums deute darauf hin, dass Venezuelas Präsident Nicolás Maduro aus innenpolitischen Motiven handele. Hinter der Abstimmung dürfte nämlich der Versuch von Präsident Maduro stehen, „ein Szenario“ zu schaffen, das von den internen Problemen des zerrütteten Landes ablenke. Dass Maduro trotz der massiven westlichen Sanktionen gegen sein Land jetzt beim Grenzstreit in eine Offensive geht, hängt weniger mit der Innenpolitik als mit geopolitischem Kalkül zusammen. Venezuela legte bewusst die Abstimmung auf Anfang Dezember, da die USA von den kriegerischen Konflikten in Nahost und der Ukraine abgelenkt sind und dementsprechend die internationale Aufmerksamkeit für Südamerika derzeit gering ist. Der Streit in Südamerika könnte sich inzwischen zu einer internationalen Krise weit über die Region hinaus ausweiten, bis hin zu einer militärischen Aktion, falls die USA auf die Provokation Venezuelas, selbst wiederum ein enger Verbündeter Irans und Russlands, eingehen. Dabei ist auch anzumerken, dass die Landgrenze zwischen Venezuela und Guyana undurchdringlich ist. Der einzige Zugang über das Festland nach Guyana führt durch Brasilien, das mit Sorge die Eskalation zwischen den beiden Nachbarländern genau verfolgt.

Mit dem jüngsten Referendum in Venezuela würde sich eine neue Front gegen die USA abzeichnen, die sich bis auf den „Hinterhof“ der USA in Lateinamerika erstreckt. Die Ukraine und Israel liegen weit entfernt vom Atlantik. Vor diesem Hintergrund ist es auch möglich, dass Russland und Iran Maduro zur Aufwärmung des alten Grenzstreites angeregt haben, um die US-Interventionen in der Ukraine und Gaza zu beeinträchtigen. Durch einen möglichen Krieg am Ostzipfel Südamerikas werden die Energiepreise in die Höhe schnellen, wovon wiederum die unter den US-Sanktionen leidenden Staaten profitieren.


Zur Person:

Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.