Schulreformen ohne Wirkung: Das Bildungswesen in Deutschland steckt fest

Der Bildungsdiskurs in Deutschland leidet unter Missverständnissen und die Politik verstärkt mit fragwürdigen Reformen die Probleme des Schulsystems. Reformen scheitern, weil weder Schüler noch Lehrer noch Eltern wirkliche Veränderungen wollen.

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Schulreformen ohne Wirkung: Das Bildungswesen in Deutschland steckt fest

Das deutsche Bildungssystem steckt seit Jahren in der Krise. (Symbolbild)

© IMAGO / Gerhard Leber

Wenn es um Bildungsfragen geht, gilt es zunächst die wichtigsten Problemfelder zu bestimmen. Es sind vorzugsweise diese:

Ein Diskurs über Bildung ist prinzipiell davon erschwert, dass alle Diskutanten mit dem Begriff jeweils völlig Verschiedenes verbinden und daher weder gemeinsame Ausgangspunkte noch Ziele abgeleitet werden können. Selbst in den Kontroversen redet man aneinander vorbei. Weil Bildung aber stets positiv konnotiert ist, sprechen alle politisch Getriebenen mit, finden aber nicht über die Stagnation des Problems hinaus.

Augenfällig ist andererseits, dass sich der Komplex Bildung und Schule literaturgeschichtlich nahezu ausnahmslos in eindrucksvollen Frustrationsprotokollen niederschlug. Biographisch angeschaut: Die Schule, einerlei welche, dürfte noch jeden frustriert und nicht wenige traumatisiert haben. Sie muss also per se als Problem aufgefasst werden, während jede Bildungspolitik sie nach wie vor als Ort der Glückseligkeit bewirbt. Jede Pädagogik hat eine Schattenseite, die Gefahr des Missbrauchs – im ganz weitgefassten Sinne – wohnt ihr stets inne.

Zur Gegenwart

Die Bildungspolitik ist mittlerweile soweit verrannt und infolgedessen das Bildungssystem derart dysfunktional, dass eine Veränderung reformerisch-evolutionär nicht mehr möglich erscheint. Für die notwendige revolutionäre Veränderung fehlen jedoch die politischen Kräfte, abgesehen davon, dass weder eine kritische Masse der Schüler- beziehungsweise Eltern- noch der Lehrerschaft dies wünschen. Weil eine Rückbesinnung auf Inhalte und auf Anstrengung erfordert wäre, will an sich niemand die allerdings objektiv notwendige Veränderung. Früher verband sich Bildung mit dem Selbstverständnis einer Nation, die sich behaupten wollte. Dieses Selbstverständnis gibt es nicht mehr.

Ursprüngliche Bildungsziele können nur noch von Lehrkräften erreicht werden, die souverän eigenen Zielstellungen folgen und antizyklisch verfahren, indem sie quasi existentialistisch von ihrer persönlichen Verantwortung im Akt eines Trotzdem ausgehen. Da Schulaufsichtsbehörden inhaltliche Aspekte des Unterrichts einerlei sind, ist dies immer noch möglich, sodass im Unterrichtsraum Erfolge generierbar erscheinen, die allerdings nur von einer Minderheit interessierter Schüler und Eltern honoriert werden. Lehrer mit Anspruch haben die quengelnde Gegenwehr der Minimalisten zu erwarten, die sich zudem der Unterstützung durch Ämter und Ministerien gewiss sein dürfen.

Kaum kritische Distanz bei Lehrern

Mittlerweile arbeiten größtenteils Lehrer im System, die es als Schüler selbst durchliefen und dazu kaum kritische Distanz einzunehmen vermögen. Eine Kultur der Leistungsvermeidung und des Substanzmangels ist für sie normal. Daher werden nach jedem neuerlich negativen Test- oder Studienergebnis dogmatisch genau jene Didaktiken und Methodiken verstärkt, die in das Dilemma hineinführten: offene Unterrichtsformen, Freiarbeit, falsch verstandene Handlungsorientiertheit. Ferner: Priorisierung einer „Methodenkompetenz“, die ohne Inhalte und Kenntnisse auszukommen meint und auf „Präsentationen“, „Portfolios“ und inszenierte „Projekte“ setzt, anstatt für Gründlichkeit zu sorgen. Was nicht erworben wird, das wird dann zugereicht. Viele Zeugnisse sind eher nur ausgedruckt als redlich erarbeitet worden.

Letztlich stiehlt sich die Kultusbürokratie mit der trivialmarxistischen Legende aus der Verantwortung, Bildungserfolg hinge primär von der Sozialsituation ab; sie betreibt daher mehr Sozialpädagogik als Kenntnisvermittlung und Befähigungsentwicklung.

Die phänomenale Angepasstheit des Großteils der Lehrerschaft, ihre kritiklose Haltung im System, ihre servile Zustimmung zu abstrusen Reformen und weiteren Reduzierungen, wird durch ein überdurchschnittliches Gehalt, den Beamtenstatus und das Recht auf permanente Krankschreibung, Flucht in die Teilzeittätigkeit sowie den völlig fehlenden Revisionsdruck auf ihre Arbeitsweise erkauft. Wichtig ist, dass die Zensuren den Bedürfnissen der Schüler- und Elternschaft entsprechen, solange überhaupt noch zensiert wird. Innerhalb der ersten Schulklassen, also dort, wo es darauf ankäme, geschieht das schon kaum mehr. Kinder freuen sich jedoch über ausgewiesenen Erfolg; sie wollen bewertet werden. Dies ist, einfühlsam und ohne Kränkungen möglich, wenn pädagogischer Ermessensspielraum genutzt wird.

Der Grund für die Missstände

Fauler Kern der Missstände im Bildungsbereich ist ein illusionäres und somit fragwürdiges bis falsches Menschen- und Absolventenbild. Insofern müsste eine grundlegend anthropologische Diskussion geführt werden, die nicht nur nicht stattfindet, sondern deren Notwendigkeit keiner der maßgeblichen Beteiligten erkennt. Vielmehr gilt ein Menschenbild als gesetzt, das allen alles zutraut, wenn nur gefällige Bedingungen eingerichtet sind. Dieses Menschenbild ist politisch regiert; ändert sich die Politik im Ganzen nicht, wird im Bildungsbereich weiter improvisiert, mit dem Ziel, mindestens noch die verquere Anthropologie im Als-ob zu rechtfertigen.

Weil über Qualität und Qualifizierung nicht offen disputiert wird, erschöpft sich das politische Gerede in Quantifizierungen, dem Irrglauben folgend, immer neue Geldmengen, ins gescheiterte System gekippt, führten irgendwann zu dessen Spontanheilung – etwa über forcierte Digitalisierung, also „Tablet-Klassen“ und Smart-Boards, über „Startchancen-“ und andere Programme sowie die nur bauliche Modernisierung „maroder“ Schulen. Geld statt zugkräftiger Ideen: WLAN, Glasfaseranschluss und Internetgeschwindigkeit erscheinen enorm wichtig, Schulbibliotheken hingegen sind vergessen. Bildungsgeschichtlich angeschaut vermochte ein anderes, früheres Deutschland in Schulen, die heute als unzumutbar gelten würden, genauere Kenntnisse und stabilere Befähigungen zu vermitteln als das heutige in all seinen modernen Villen Kunterbunt.

Das fehlende Fundament

Eine systematisch über Schuljahre aufbauende, durch Üben und Anwenden, Systematisieren und Wiederholen erfolgende Elementarbildung im Lesen, Schreiben und Rechnen gibt es nicht mehr; daher fehlt bereits im Primarbereich das Fundament, auf das Sekundarstufen, Berufsausbildung und Studium aufbauen könnten. Mehr als um echten Erkenntnisgewinn und das Training des eigenen Könnens geht es, vermeintlich „handlungsorientiert“, ums bloße Machen. Das funktioniert in den Hauptfächern, weil das Fach Deutsch völlig degradiert und das Fach Mathematik in seinem Pensum erheblich reduziert wurde. Beweisverfahren etwa oder Axiomatik fehlen völlig.

Der Schwund in den Naturwissenschaften leistet zudem in geistes- oder gesellschaftswissenschaftlichen Fächern der Auffassung Vorschub, bloßes Meinen wäre bereits Wissen und könnte ohne Kenntnis grundlegender Naturgesetze und Tatsachen frei fluktuieren. Lehrmeister beklagen daher, Schulabsolventen beherrschten weder einfaches Messen noch Kalkulieren; Universitätsprofessoren sind verblüfft, darüber, dass kaum mehr rezipierend oder produzierend mit Texten umgegangen werden kann, ja dass schon das Bilden sinnhaltiger Sätze schwerfällt. Wer kaum mehr Grammatik beherrscht, wird auch nicht klar denken beziehungsweise formulieren können, obwohl er radebrechend in mehreren Sprachen unterwegs ist.

Keine markanten Lehrerpersönlichkeiten

Die Verteufelung von Frontal- oder auch nur lehrerzentriertem Unterricht hatte zur Folge, dass Vorbildwirkung, interessante Angebote, Motivation über spannende Inhalte, inspirierende Unterrichtsführung und überhaupt substantielle Inputs fehlen, erschwert dadurch, dass auch Lehrer – selbst durch insuffiziente Schulen gegangen – immer weniger wissen, immer weniger können und immer weniger auszuhalten vermögen. Politisch völlig vereinnahmt, vermögen sie innerhalb der Oberstufe kaum mehr kritische Urteilskraft auszubilden, allenfalls noch staatsbürgerkundlich erwünschte Argumentationen und artige Bekenntnisse einzuüben. Markante Lehrerpersönlichkeiten oder gar Leidenschaftstypen, die ihre Fächer lieben, sind selten geworden; das System würde sie neutralisieren. Folge ist nicht zuletzt die öde Langeweile eines faden Pflichtprogramms, das Schüler aber spannend finden sollen.

Die ursprüngliche Einheit von Bildung und Erziehung wurde aufgegeben. Ist von Bildung immerhin noch phrasenhaft und verengt ideologisch die Rede, so wird zur Erziehung und Wertebildung gänzlich geschwiegen, daher fehlt die Orientierung auf Eigenverantwortung, Selbstüberwindung, Leistungsbereitschaft und Durchhaltevermögen bei den Älteren ebenso wie bei Jüngeren die Entwicklung von Frustrationstoleranz, Impulskontrolle und Respekt. In bildungspolitischen Verlautbarungen wie in der sogenannten Bildungsforschung fehlen drei Begriffe völlig: Disziplin, Demut, Gehorsam – unabdingbar für jedes Leben. Würden sie je wieder Geltung erlangen, erhöhten dies allerdings die Verantwortung des Erziehers enorm. Von Persönlichkeitsbildung ist nicht mehr die Rede, weil unklar sein dürfte, was eine erwachsene Persönlichkeit ausmacht.

Die „Gesamtschule der Nation“

Über Jahrzehnte wurden Fachinhalte ausgedünnt, Maßstäbe aufgeweicht, Forderungen gesenkt und Noten und Bewertungen inflationiert. Das System stellt ungedeckte Schecks aus, aber Schüler wie Eltern wollen nicht dahinter zurück, heimsen ungerechtfertigte Zeugnisse als Komplimente ein, allenfalls später vom Leben selbst belehrt, insofern immer weniger gekonnt wird – nicht nur kognitiv und technisch, sondern ebenso von der Lebenskompetenz her.

Die Verbilligung des Abiturs und die Wandlung des Gymnasiums – Was für ein unpassender Begriff mittlerweile! – zu einer Art Gesamtschule der Nation entwertete mit dem eigenen Verfall alle anderen Abschlüsse, mit der Folge, dass nichtgymnasiale Einrichtungen zu Resteschulen abstiegen und der Berufsausbildung gute Lehrlinge für Handwerk und Industrie fehlen, jene Fachkräfte, die dringlicher gebraucht würden als Kommunikations- und Politwissenschaftler.

So, wie die Migrantenkulturen sich – meist aus starkem Selbstverständnis – als gesellschaftlich nicht integrierbar erweisen beziehungsweise der Staat – aus seinem schwachen Selbstverständnis – nicht integrationsfähig ist, können bestimmte Zuwanderergruppen in der Schule nicht integriert werden. Es bleibt bei einem dümmlichen „Vielfalt“-Klischee des stabil Verschiedenen und Fremden, also bei schwer zu regelnden Disparitäten.

Inklusion? Illustriert das allzu positive Menschenbild, alle könnten es zu allem bringen, niemand bedürfe des gesonderten Refugiums und einer sonderpädagogisch zugewandten Förderung, die vor deren Auflösung an den deutschen Förderschulen geradezu weltweit Vorbild war. Namentlich die Aufhebung der Förderschulen Lernen lässt Schwächere im Stich und gibt sie Konkurrenzdruck und Mobbing preis.

Begabte bleiben auf der Strecke

Im übrigen unterhalten all die Pauschaldiagnosen und „Förderbedarfe“ von „emotional-sozialer Entwicklungsstörung“ bis ADHS und AVWS und die immer häufiger zuerkannten Handicaps Legasthenie und Dyskalkulie die Überzahl von Psychologen, Therapeuten und Diagnostikern in den Schulämtern. Kinder ohne Diagnose, Handicap und Förderbedarf dürften bereits als ungewöhnlich gelten. Auffallend zudem, dass in einer Gesellschaft, die dem Vernehmen nach immer gerechter wurde und immer mehr Teilhabe ermöglicht, immer mehr Kinder mit Defiziten aufwachsen.

Inklusion heißt wesentlich, die Schule als eine therapeutische Anstalt zu betrachten, denn so viel sonderpädagogischer Förderbedarf bestand bildungsgeschichtlich noch nicht. Für Benachteiligte und die wachsende Zahl jener, die sich – sogar gern – als benachteiligt sehen, mag das Vorteile haben; sich selbst überlassen bleiben die Begabten und Talentierten.

War früher die Leistungsorientierung für den Markenkern deutscher Schulen, die Naturwissenschaftler und Ingenieure von Weltruf, aber ebenso eine qualifizierte Facharbeiterschaft hervorgebracht haben, so sind das heute Nachteilsausgleiche, Förderungen und Boni. Verkürzt ließe sich behaupten: Mit der Abschaffung der einstigen Sonderschulen wandelte sich die allgemeinbildenden Einrichtungen insgesamt in Förderschulen. Das gilt als gerecht, geht aber zu Lasten des Niveaus.

Wenn sie immer mehr nervöse Kinder zu erwarten hat, müsste die Schule Inseln der Muße, der Ruhe, der Kontemplation, mindestens des Schutzes vor Reizüberflutung bieten. Genau das vermag sie weniger denn je; sie kann vielmehr als irres Stressfeld gelten – für Schüler wie Lehrer.

Steigender Stress trotz sinkender Anforderungen

Der permanente Gebrauch des Modewortes „Resilienz“ signalisiert das Gegenteil: Lehrer sind mittlerweile offenbar systembedingt im Durchschnitt sechs Wochen im Jahr krank, bedürfen also einer zweiten Sommerferienlänge, um überhaupt durchzukommen, während Kliniken für die Überzahl psychisch kranker oder als krank geltender Heranwachsender kaum mehr Kapazitäten haben. Das System hat es offenbar geschafft, bei sinkenden Primäranforderungen immer mehr leerdrehenden Sekundärstress auszulösen.

Infantilisierung, Sexualisierung und politische Indoktrinierung hemmen die Persönlichkeitsentwicklung mehr als Wissensvermittlung, konkrete Erlebnisse und echte Bewährungen sie noch fördern können.

Während die Ganztagsschule der Berliner Republik als der pädagogische und politische Segen schlechthin gilt, ist ihre Vereinnahmungstendenz höchst problematisch. Schule ist Schule, das echte Leben läuft jenseits der Betreuungszirkel und inszenierten Projekte. Symptomatischerweise fungiert als „Serviceagentur ganztägig lernen“ für das Bildungsministerium in Mecklenburg-Vorpommern ein dezidiert linker Verein, dem solcherart voller propagandistischer Zugriff auf Heranwachsende ermöglicht wird.

Sportunterricht: Im Vordergrund steht „das Spielerische“. In den Turnhallen sind die Klettertaue meist hochgebunden. Viel zu gefährlich. Federsprungbretter? Besser nicht benutzen, aus Versicherungsgründen. Vor allem: keine Schinderei, sondern Lebensfreude! Wer sich noch für Normen der Leistungsbewertung interessiert – hier verlinkt. Das Hauptproblem derzeit: Immer weniger Kinder können schwimmen. Das mag aber in einem umfassenden Sinne gelten: Schule sollte überhaupt wieder zur Lebens- und Überlebensfähigkeit ausbilden …

Über den Autor

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie und war als Lehrer tätig. Aus politischen Gründen wird gegen ihn seit 2021 ein Berufsverbot praktiziert. Er schreibt unter anderem für Tumult und die Sezession im Netz.

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