Präsidentenwahl in Russland: In der Warteschlange

In Russland wurde gewählt. Amtsinhaber Putin hat ersten Berichten zufolge bis zu 80 Prozent der Stimmen erhalten und kann damit eine weitere Legislaturperiode im Kreml regieren. FREILICH-Kolumnist Ilia Rivkin war am Wochenende in Berlin und hat den Wahltag vor dem russischen Konsulat beobachtet.

Kommentar von
19.3.2024
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7 Minuten Lesezeit
Präsidentenwahl in Russland: In der Warteschlange
Julija Nawalnaja in Berlin© IMAGO / ZUMA Wire

„Der schreit nicht, der ist Putinist!“ – Die Blicke um mich herum sind eisig, voller Missbilligung. Neben der kilometerlangen Menschenschlange vor dem russischen Konsulat in Berlin läuft ein Mann mit zerzaustem rotem Bart auf und ab, die Augen weit aufgerissen, die Kleidung unordentlich. Er wirkt wie eine Figur aus einer russophoben Propagandazeichnung aus dem Ersten Weltkrieg, sonst hätte ich ihn wohl für einen Obdachlosen gehalten. Mit heiserer Stimme versucht er, die Menge anzustacheln. Einige stimmen obszöne Rufe gegen einen der Kandidaten an, einen gewissen Wladimir Putin.

Das rhythmische Geschrei trägt dazu bei, dass man auch an diesem kalten, klaren Abend des 17. März in Berlin stundenlang ausharren kann. Schrille Parolen skandieren liegt mir nicht; einen Kochtopf über den Kopf ziehen und herumhopsen wie auf dem Kiewer Maidan hätte ich auch abgelehnt, aber bin ich deshalb Putinist? Ich wollte einem anderen Kandidaten meine Stimme geben. Selbst wenn er nicht gewinnt, haben Politiker in Russland neben ihrer Wettbewerbsfunktion auch eine repräsentative Rolle, indem sie Themen aufgreifen, die die Bürger interessieren. In diesem Sinne wollte ich eine der Alternativen unterstützen.

Der bodenständige Kandidat

Vier Namen stehen auf dem Stimmzettel. Drei Kandidaten wurden zuvor aus formalen Gründen zurückgezogen. Ist die Wahl rechtmäßig? Wurden alle formalen Prozeduren eingehalten? Vor einigen Tagen habe ich den Vorsitzenden der russischen Partei der sozialen Gerechtigkeit, Andrej Bogdanow, einen der zurückgezogenen Kandidaten, um eine Stellungnahme gebeten.

„Ja, ich habe erneut für das Amt des russischen Präsidenten kandidiert – zum ersten Mal 2008. Es ist schwer zu sagen, ob mein Programm einzigartig ist. Aber in der letzten Zeit erinnert sich niemand daran, dass es in Russland eine politische Strömung gegeben hätte, wie von Dostojewski gefordert, 'auf den Boden zurückzukehren'. Er setzte seine Hoffnungen auf die Annäherung der Intellektuellen, die sich vom Boden gelöst hatten, an das Volk. Wir sollten das Beste aus dem Westen übernehmen, aber fest auf dem eigenen Boden stehen! Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass Europa mit seinen traditionellen Werten Russland viel näher steht als Asien. Die Sicherheit Europas liegt in den Händen der Europäer selbst, und zwar gemeinsam mit uns.“

War es sein Ziel, diese Wahl zu gewinnen?

„Sehe ich aus wie ein Verrückter?“, antwortet Bogdanow. „Nein, ein solches Ziel hatte ich nicht vor Augen. Ich bin seit 30 Jahren in russischen Wahlprozessen aktiv und kenne die sozialen Dynamiken im Land sehr genau. Zurzeit liegt Putins Zustimmung bei satten 82-84 Prozent. Es ist schlicht unmöglich, ihn zu schlagen und noch wichtiger ist, die Ansicht der überwältigenden Mehrheit der russischen Bürger zu ändern, dass die Staatsmacht das Richtige tut! Mein Ziel war es, meine Kandidatur und die Position meiner Partei vor den Parlamentswahlen im Jahr 2026 in Russland zu etablieren.“

„Sie waren jedoch gezwungen, Ihre Kandidatur zurückzuziehen!“

„Ich wollte nicht schon zu Beginn des Wahlkampfs mit einem Rechtsverstoß in Verbindung gebracht werden und habe daher eine Erklärung über meinen Rückzug aus dem 'Wettrennen' eingereicht. Gemäß unserer Gesetzgebung hat ein Präsidentschaftskandidat kein Recht, ein ausländisches Bankkonto zu führen, und ich konnte mein Konto in Europa nicht auflösen. Seit über einem Jahr besitze ich kein Schengen-Visum mehr. Trotz meiner schriftlichen Aufforderung hat die Bank mein Konto nicht aufgelöst.

Ich habe zahlreiche Wahlen weltweit als Beobachter begleitet und bin mit den Wahlgesetzen vieler Länder vertraut. Glauben Sie mir, die Wahlen in Russland zählen zu den fünf besten in Bezug auf Demokratie und die Unmöglichkeit von Manipulationen. Im Vergleich dazu gehören die USA definitiv nicht einmal zu den Top 10.“

„Was können wir von der Wahl erwarten?“, frage ich Bogdanow.

„Wahrscheinlich wird Ihren Lesern meine Antwort nicht besonders gefallen. Doch das ist die russische Seele. Diese Wahlen werden tatsächlich der Eid der russischen Bürger auf ihren Oberbefehlshaber vor der Hauptschlacht sein!“

Das himmlische Mandat

Auch wenn bei diesen Präsidentschaftswahlen die formalen Prozeduren strikt eingehalten werden, kann von einem ernsthaften Wettbewerb um die Macht im Land kaum die Rede sein. Die Wahlbeteiligung scheint enorm. Selbst Menschen, die bisher nicht dafür bekannt waren, mit den Mechanismen der repräsentativen Demokratie zu sympathisieren, sind diesmal in die Wahllokale gegangen.

„Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich zum ersten Mal in der neueren Geschichte Russlands wählen gehe“, schreibt der Philosoph Dugin in seinem Telegrammkanal und fährt fort: „Diese Wahl ist etwas Besonderes. Die Barriere der alten Eliten zwischen Putin und dem Volk wurde endlich durchbrochen. Die vereinte Partei des Sieges hat gewonnen. Das russische Volk hat nicht Putin gewählt, sondern sich selbst. Sein oder nicht sein? Und es hat sich für das Sein entschieden.“

Man muss zugeben: Das Konzept des Parteienwettbewerbs und einer obligatorischen Machtabfolge ist nicht das einzige Mögliche, wenn man Wahlen betrachtet. Es lohnt sich, auf das alte chinesische Konzept des himmlischen Mandats zurückzugreifen.

Bei Konfuzius und Meng-ji finden wir die Rechtfertigung der Herrschernachfolge auf der Grundlage des himmlischen Mandats. 天命, tiānmìng, ist einer der zentralen Begriffe der traditionellen chinesischen politischen Kultur, der als Legitimationsquelle des Herrschers dient. Der Himmel kann einem unwürdigen Herrscher das Recht zu regieren, entziehen und ihn durch eine andere, würdigere Person ersetzen, für die das Volk eintritt, was ein Zeichen der Gunst des Himmels für ihn sein wird. Ein ähnliches Prinzip finden wir im Römischen Reich nach dem bekannten Grundsatz „vox populi - vox Dei“ – „Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes“. So bestätigte sogar Octavian Augustus seine kaiserliche Macht formell durch das Abstimmungsverfahren im Senat.

Es ist aufschlussreich, dass die Hauptargumente, die von den radikalen Gegnern der Regierung vorgebracht wurden, um die Legitimität der Wahlen in Zweifel zu ziehen, nicht die vermeintlichen Regelverstöße waren, nicht die Behauptung, dass das russische Volk nicht hinter Putin stehe – das ist offensichtlich nicht wahr –, sondern Vorwürfe moralischer Natur. Das Mandat des Himmels steht einem Bösewicht nicht zu.

Die Königin der Lemminge

„Putin ist kein Präsident, sondern ein Mörder!“ — So steht es auf dem Plakat. Eine levantinisch aussehende Frau hält es in die Menge. Hier und da wehen weiß-blau-weiße Fahnen radikaler Gegner des historischen Russlands. Am Mittag fand vor der Botschaft eine Protestkundgebung statt, an der Tausende politische Emigranten und prowestliche Gruppen teilnahmen, allen voran die Anhänger des verstorbenen Nawalny. Höhepunkt der schrillen Kundgebung war eine Rede der von den Weltmedien gehypten Witwe, die plötzlich ihre mondänen Allüren durch die Rolle der Protestanführerin ersetzte.

„Ihr seid die Besten, die Mutigsten, die Ehrlichsten unseres Landes, die Menschen, die mir Hoffnung geben“, rief sie der Menge zu. „Ihr könnt den Wahlzettel verderben. Ihr könnt den Namen 'Nawalny' darauf schreiben“.

Da stehen wir nun in einer endlosen Schlange in der Kälte. Einige skandieren laut, andere hüpfen nervös von einem Fuß auf den anderen. Ehemalige Hipster, einst Teil der „kreativen Klasse“. Ihre einst modischen Designerklamotten sind schäbig geworden. Zehn Meter von mir entfernt steht eine Frau mit knallrosa Haaren und Einhornmütze. Ein Mann daneben bittet mich, auf seinen Platz aufzupassen, während er sich einen Kaffee holt. Wir kommen ins Gespräch. Er ist Programmierer, gekleidet wie ein Junge, den seine Mutter für einen Spaziergang an einem kalten Tag dick eingepackt hat. Er ist zum Arbeiten nach Berlin gezogen, sagt er, nicht ganz freiwillig – die Firma seines Arbeitgebers hat ihren Standort hierher verlegt.

Ein anderer mit auffälliger Schädeldecke kommt auf uns zu und bittet uns, eine Petition zur Umbenennung einer Straße in Wiesbaden nach Nawalny zu unterschreiben. „Sind deutsche Namen für Straßen in Wiesbaden nicht mehr passend, oder was?“, frage ich überrascht.

Es ist schon dunkel, und es wird klar, dass nicht alle der Tausenden, die Schlange stehen, bis zur Schließung der Wahllokale um 20 Uhr Zeit haben werden. Eine ältere Frau versucht, zu ihrer Tochter zu gelangen, wird aber nicht hineingelassen. Die Menge atmet Skandal und kleinliche Aggression.

„Die haben absichtlich nur zwei Wahllokale zugelassen“, schreit die Einhornfrau, „damit wir nicht protestieren können!“

Vielleicht weiß sie nicht, dass es die deutschen Behörden waren, die die russischen Generalkonsulate in Frankfurt am Main, Leipzig, Hamburg und München geschlossen haben.

„Putin ist ein Mörder“, „Putin ist ein Dieb“. Moralische Mantras hallten durch die Menge. Meine Gedanken kehren immer wieder zu dem Verstorbenen zurück. Soziale Ungerechtigkeit, unkontrollierte Migration, Einschränkung der persönlichen Freiheiten – ich habe einige Fragen an den Kreml, aber seine Argumente sind ganz anderer Natur. Ob es stimmte oder nicht, es ging immer nur um Tugend und Laster. Und ein Politiker, der ausschließlich mit moralischen Kategorien argumentiert, gerät wie die Justine von de Sade unweigerlich in eine irrationale Opferhaltung. Der politische Moralismus führt zum politischen Masochismus. Vielleicht war genau das der Grund für seine Rückkehr nach Moskau im Januar 2021.

Ein Raunen durchzog die Menge: Julia Nawalnaja hatte ihren Stimmzettel verunstaltet, indem sie den Nachnamen ihres verstorbenen Mannes darauf schrieb. Doch was bedeutet diese Geste? Indem sie sich für den Anführer eines imaginären „schönen Russlands der Zukunft“ entschied, der bereits verstorben ist, setzte sie gleichzeitig der Bewegung einen Stempel des Untergangs auf. Mir kam Dugins Posting in den Sinn: „Sein oder nicht sein? — darum geht’s.“ Diese Partei hat sich für das politische Nichtsein entschieden. Tausende, die wie Lemminge stundenlang in der Kälte standen, um den Wahlzettel zu verderben – wem wollten sie damit schaden? Putin? War es so schwer, mit einem Klick im Internet herauszufinden, was mit einem ungültigen Stimmzettel passiert? Die Stimmen der ungültigen Stimmzettel werden zwar gezählt, aber proportional auf die Kandidaten verteilt, das heißt 80 Prozent davon gehen an Putin.

Um acht Uhr schlossen sich die Türen des Konsulats. Die Menge schrie weiter und wollte sich nicht auflösen. Die Polizei begann, die Demonstranten zurückzudrängen. Ich hätte noch bleiben können, um zu sehen, wie den Navalnisten die Faust der westlichen Demokratie schmeckt, es wurde mir aber kalt, also ging ich.


Zur Person:

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.