Susanne Dagen: „Die Angriffe haben mich gestärkt“

Seit 1995 betreibt die Buchhändlerin und Verlegerin Susanne Dagen in Dresden das Buchhaus Loschwitz. Wegen ihrer politischen Ansichten und Kontakte gilt sie mittlerweile als „umstritten“. Im vergangenen November sprach Kevin Naumann im FREILICH-Interview mit ihr über die Entwicklungen im Buchhandel und im deutschen Literaturbetrieb.

Interview von
3.2.2024
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7 Minuten Lesezeit
Susanne Dagen: „Die Angriffe haben mich gestärkt“

Susanne Dagen vor ihrem Buchladen in Loschwitz.

© IMAGO / Sven Ellger

FREILICH: Frau Dagen, blicken wir auf das literarische Jahr 2023: Welches Buch halten Sie für besonders bemerkenswert und warum?

Susanne Dagen: Ich lese sehr viel, ein Buch, ein Manuskript nach dem anderen. Allerdings bemerke ich an mir eine gewisse Müdigkeit, was die Lektüreerfahrung der Bücher aus den Publikumsverlagen angeht. Es interessiert mich schlichtweg nicht. Insofern fällt es mir schwer, einen literarischen Höhepunkt zu benennen, der nicht in unserem Verlag erschienen ist – aber das Jahr ist ja auch noch nicht zu Ende. Ich lasse mich da überraschen.

Welche Stoffe, Motive oder Kompositionen lassen Sie bei einem Buch weiterlesen? Welche literarische Formen interessieren Sie am meisten?

Vor allem bin ich neugierig. Neugierig auf die Figuren, von denen mir erzählt wird. Ich möchte sie vor mir sehen, möchte mich in ihr Tun und Denken hineinversetzen. Das allerdings ist schon, so glaube ich, sehr viel verlangt. Denn genau in dem Moment zeigt sich, ob der Autor ein guter Erzähler ist. Ob er es schafft, den magischen Moment, den Einklang mit dem Leser herzustellen. Und natürlich sind es nicht nur die Figuren, sondern auch die Atmosphäre, die mich ergreifen muss. Wenn ich in meiner Bibliothek bin und vor die Regale trete, kann ich von den allermeisten Büchern sagen, wo und wann ich sie gelesen habe. Es kehrt da sofort ein Gefühl ein, eine tiefe Erinnerung.

Am allerliebsten mag ich Prosa. Meistens ist es allerdings eher der große Roman als die Kurzgeschichte, wobei ich es für eine der schwersten Disziplin halte, in der Kürze etwas in Gänze aufzubauen und dann schlüssig enden zu lassen. Wobei es für mich bei guter Literatur kein Ende gibt. Für mich lebt die Geschichte, leben die Figuren in meinen Gedanken fort. Was ich besonders liebe, ist die Novelle. Dies ist eine Gattung, die leider nur noch wenig geschrieben wird. Die Choreografie, der Aufbau der Handlung, die in einem unerhörten Ereignis gipfelt, lässt mich voller Spannung schon einen Novellenband aufschlagen. Lyrik liebe ich ebenso, dort allerdings ziehe ich das Haiku der Ballade vor.

Mit Blick auf die Umsatzzahlen der Buchbranche lässt sich ein steter Wandel vom analogen, persönlichen Buchkauf hin zum digitalen Absatz verzeichnen. Inwiefern spielt dann der Buchkauf im Geschäft mit persönlichen Kontakt zwischen Buchhändler und Leser noch eine Rolle?

Ich glaube, das betrifft nicht nur den Buchhandel, sondern den Einzelhandel insgesamt. Allerdings hat uns da die Coronazeit sehr gut in die Karten gespielt, als sich nämlich der eine oder andere bewusst wurde, dass sein Leben in der Vereinzelung eben nicht das ist, was er als Mensch so braucht. Bei uns in der Buchhandlung war es von Anfang an so, dass der persönliche Kontakt hauptausschlaggebend dafür war, warum man bei uns kauft und nicht in einer anderen Buchhandlung. Das ist so geblieben, allerdings mit mehrheitlich anderen Kunden. Buchhandel ist eben vor allem ein Typengeschäft, auch weil der Austausch über Kunst und Literatur eben ein besonderer ist.

Denken Sie an die letzten zehn Jahre zurück: Welche Typen kommen in Ihren Buchladen und konnten sie diesbezüglich eine Veränderung feststellen? Sind die Gespräche heute politischer?

Bei uns hat sich in den Jahren seit 2015 nicht nur eine grundlegende Veränderung im Freundeskreis, sondern auch beim Kundenkreis ergeben. Das hat natürlich, so meine ich, ausschließlich mit meiner offen kommunizierten politischen Meinung zu tun. Ich war ja nicht plötzlich eine schlechtere Buchhändlerin. Und natürlich drehen sich die Gespräche in der Buchhandlung seitdem weniger um Literatur als um Politik. Wir leben in einer politisierten Zeit, die deswegen nicht primär politisch ist. Politisch zu denken ist etwas viel Abstrakteres und gleichzeitig Spielerisches als das, was uns hier täglich an billigem Theater vorgeführt wird. Es gibt ja von Tucholsky den Spruch, wo er sagt, dass das Volk zwar das meiste falsch versteht, aber eben auch das meiste richtig fühlt. Und genau das ist es, was ich bei meiner Kundschaft seit 2015 vor allen Dingen feststelle. Sie fühlen, dass hier etwas gewaltig schief läuft, dass sie wieder belogen und wieder verraten werden. Und viele von denen wollen nun aber mehr wissen, wollen lesen, darüber sprechen und sich nicht wieder ins Private zurückziehen oder in die Vereinzelung treiben lassen. Viele meiner Kunden haben Diktaturerfahrung, sind in der DDR groß geworden. Seit einigen Jahren allerdings, und das hängt ganz bestimmt auch mit meiner – medialen – Person zusammen, die durch Ausgrenzung vor allem Heraushebung erfahren hat, kommen auch viele Besucher aus dem Westen zu uns in die Buchhandlung. Für die sind wir nun Experten – nicht nur für Bücher, sondern auch fürs Leben.

Gerade nonkonforme Akteure werden schnell diskreditiert oder im schlimmsten Fall Opfer physischer Gewalt. Man muss bereit sein, den Preis für das Wagnis zu zahlen, vor allem geistig und körperlich. Wie schafft man es, öffentlich zu bleiben, ohne sich zu verbiegen?

Es ist ganz einfach: Ich halte alles für richtig, was ich tue. Ich agiere weder mit doppelten Boden noch unter der Ägide eines Anderen. Ich habe meinen Weg gefunden, den ich nun Schritt für Schritt gehe und habe aufgehört, ständig mein Tun zu hinterfragen. Die Angriffe der letzten Jahre haben mich eben nicht umgebracht. Sie haben mich gestärkt.

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Neben Ihrer Tätigkeit als Buchhändlerin sind Sie auch als Verlegerin aktiv. Was ist der Grund für die verlegerische Tätigkeit und wie ist Ihr Verlagsprogramm aufgebaut?

Es war im Jahr 2002 eine folgerichtige Entscheidung, nicht nur Bücher verkaufen zu wollen, sondern auch selbst welche zu verlegen. Wir haben mit einem hochwertigen Schwarz-weiß-Fotoband über die Elbe bei Dresden begonnen. Flusslandschaften ist der Titel und natürlich war es die überwältigende und auch existenzielle Hochwassererfahrung von 2002, die das Projekt „Verlag“ gebar. Wir halten den Band bis heute lieferbar, genauso wie unser zweites Buch Zauberwort mit Gedichten aus unterschiedlichen Epochen zu meiner schönen Heimatstadt Dresden. Bis 2020 sind dann vor allem Lyrikbände erschienen, die mit unserem privaten Lyrikstipendium, das wir bis 2019 ausgegeben haben, zusammenhingen.

Sie erwähnten soeben ein Stipendium für Nachwuchskünstler. Haben Sie Vorschläge zur Förderung junger Künstler? Welche Möglichkeiten haben diese?

Unser Lyrikstipendium war keines vornehmlich für Nachwuchskünstler, es richtete sich an alle Lyriker im deutschsprachigen Raum, die sich dafür bewerben konnten. Zum Thema Förderung bin ich etwas zwiespältig. Denn mittlerweile haben wir in Deutschland eine Förderpolitik, die eher was mit einem politischen Anspruch zu tun hat als mit reinem Mäzenatentum. Wir wissen aus der Kulturgeschichte, dass es in Zeiten, in denen keine staatlichen Förderungen an der Tagesordnung waren, es vor allem der private Mäzen gewesen ist, der Künstler gefördert und damit oft Kunst erst ermöglicht hat. Ein Mäzen allerdings verlangt nichts, schmückt sich im besten Fall mit seiner Tat; eine staatliche Förderung oder die Förderung durch eine andere Herrschaftsform ist da berechenbarer in ihrem Ansinnen.

Junge Künstler aber haben die Möglichkeit, die sie schon immer hatten – nämlich ihre Jugend und die damit verbundene Kraft und Ausdauer, durch die Welt zu ziehen, sich zu bilden, sich anzubieten und dann zurückzukehren mit einem großen Schatz an Erfahrungen. Sie spüren mein Unbehagen gegenüber Kulturförderung, wie sie derzeit betrieben wird …

Neben den Einzeltiteln der „Edition Buchhaus Loschwitz“ bringen Sie seit 2020 die Buchreihe „EXIL“ heraus. Jörg Bernig, Monika Maron, Uwe Tellkamp oder Matthias Matussek sind nur einige Namen. Braucht es den Rückzugsort für freie Köpfe? Müssen Kräfte gesammelt werden oder folgte dies als Konsequenz auf den gesellschaftspolitischen Zustand?

Die Buchreihe „EXIL“ ist aus der Notwendigkeit entstanden, verschiedenen Autoren und Publizisten einen temporären Ort zur Veröffentlichung anzubieten. Mir erschien der Begriff für diese Reihe ganz richtig, erfahren habe ich im Feuilleton dafür natürlich totale Ablehnung, Häme und den Vorwurf, mich wichtig zu machen. Im Endeffekt allerdings war das die beste Werbung für die Reihe und all das bestärkt mich, diese weiter zu machen, auch wenn ich hoffe, dass dies in irgendeiner Zeit mal nicht mehr nötig ist. Wenn nämlich Autoren jeglicher Couleur wieder in Publikumsverlagen veröffentlichen können, die ihre Bücher in allen Buchhandlungen platzieren und Kunden diese bestellen können, dies ohne Abwehr und Naserümpfen des Buchhändlers.

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In der sehenswerten 3Sat-Dokumentation Der Fall Tellkamp kommen einige Größen aus der Dresdner Kulturszene zu Wort. Und diese Leute sprechen im Film vom Buchhaus Loschwitz in der Vergangenheitsform, von einem geistig erbaulichen Ort, der nun nicht mehr existiere. „Das sei nun so“, weil man eine Art Konsens ohne Not zerbrach. Erträgt das Milieu der Künstler keine Differenz mehr?

Ein Armutszeugnis! Aber genau das ist die Aussage. Wer gegen den Konsens verstößt, wird aussortiert. Nun mag das deren Sichtweise sein, meine ist es nicht. Wir haben einfach immer weitergemacht, haben Bücher herausgegeben, Veranstaltungen durchgeführt, waren für jede Diskussion bereit. Mehr kann man nicht tun. Und der Erfolg gibt uns recht: Unsere Bücher werden verkauft, die Veranstaltungen sind bestens besucht. Sollen die Dummköpfe doch wegbleiben.

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Können Sie als erfahrene Bücherfrau die Brüche in der Gesellschaft in der Literatur nachzeichnen oder schwebt die Literatur- oder allgemein die Kunstszene in einer eigenen parallelen Wolke, als ob nichts wäre?

Es ist viel schlimmer! Der Kulturbetrieb ist doch der verlängerte Arm der Politik. In der Kultur, also im Schauspiel, in der Literatur, auch in der Bildenden Kunst zeichnen sich doch als erstes gesellschaftspolitische Veränderungen ab. Deshalb ist es auch so wichtig, die Kultur wieder zurückzuerobern. Die Linken haben ihren Gramsci gelesen, das sollten die Rechten auch tun. Der Begriff des Künstlers wird ja kaum noch verwendet, man spricht heute von Kulturschaffenden. Ich hingegen nenne sie Kulturanschaffende ...

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Mit dem Format „Aufgeblättert. Zugeschlagen. Mit Rechten lesen.“ etablierten Sie mit Ellen Kositza einen dezidiert rechten Blick auf Literatur. Sind weitere Folgen und neue Kooperationsformen mit anderen Verlagen und Künstlern geplant?

Bis dato ist noch niemand weiter an mich herangetreten. Mit der Literatursendung versuchen wir ja, Leser zu akquirieren. Denn, was wir in der Vergangenheit sehen konnten, war doch vor allem, dass der Leser im Vorteil ist, wenn es darum geht, Situationen auf einer abstrakten Ebene zu beurteilen und verschiedene Lösungswege gleichwertig nebeneinander zu stellen. Der Leser ist per se multiperspektivisch!

Ansonsten habe ich ja im Kulturhaus, unserem Veranstaltungsort neben der Buchhandlung, immer auch die Möglichkeit, mit verschiedenen Verlagen zusammenzuarbeiten. Wenn es früher eher Rowohlt, Hanser, Beck und Surkamp waren, so sind es heute Antaios, Jungeuropa oder Cato.

Oftmals ist davon die Rede, dass ein Künstler mit seiner Arbeit ein „wichtiges Zeichen setzt“ oder „alle wichtigen Fragen unserer Zeit beantwortet“, was meist nichts anderes bedeutet, als der herrschenden Meinung nach dem Mund zu reden. Muss der Künstler ein gesellschaftspolitisches Angebot zum Ausdruck bringen? Ist das nicht bereits ein Eingriff in die Freiheit der Kunst, ob nun Buch, Bild oder Skulptur? Darf man vom Künstler etwas verlangen?

Kunst ist frei! Wenn sie sich in einen Dienst stellt, egal ob politisch oder thematisch, ist sie unfrei, der Künstler nur ein Lohnsklave. Es ist immer nur eine kleine Minderheit gewesen, Ausnahmekünstler, die beides in sich vereinen konnten.

Wie gelänge der Gesellschaft und vor allem dem Einzelnen vor Ort der Weiterbau unseres kulturellen Erbes? Welche Voraussetzungen müssten hierfür zunächst geschaffen werden? Geht es nur noch um Musealisierung und Denkmalpflege?

Was heißt denn „nur noch“? Erst einmal müssen wir uns darüber im Klaren werden, worauf wir fußen, was unsere Basis ist. Diese gilt es zu erhalten, zu pflegen und im besten Sinne weiterzuentwickeln. Der Einzelne muss lesen, sich bilden, in die Welt hinausgehen mit offenen Ohren und Augen. Ernst im Herzen und freundlich im Gesicht sein. Mehr Selbstbewusstsein und den Stolz eines jedes Einzelnen, auf das, was er geschafft hat, befähigen ihn dann, wiederum einer Gruppe vorzustehen, die sich an ihm ausrichtet, wo er Vorbild sein kann. Oder sie Vorbild sein kann …

Vielen Dank für das Gespräch!


Das vollständige Interview wurde ursprünglich in der FREILICH-Ausgabe „Die Zukunft des Geldes“ veröffenticht.

Zur Person:

Susanne Dagen, geboren 1972 in Dresden, ist eine deutsche Buchhändlerin, Verlegerin und Kommunalpolitikerin. Seit 1995 betreibt sie das Buchhaus Loschwitz, seit 2002 den Verlag Edition Buchhaus Loschwitz. Darüber hinaus sitzt Dagen seit 2019 für die Freien Wähler im Dresdner Stadtrat und im Stadtbezirksbeirat von Dresden-Loschwitz.

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