Inseln und Exklaven: Zu „Eschenhaus“ von Jörg Bernig

Jörg Bernig sorgte 2020 für Schlagzeilen. Weil er Beiträge in Zeitschriften wie der Sezession und TUMULT veröffentlichte, wurde ihm trotz einer Stimmenmehrheit die Position als Kulturamtsleiter im sächsischen Radebeul verwehrt. Nun erschien sein neuer Roman „Eschenhaus“.

Kommentar von
4.6.2023
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6 Minuten Lesezeit
Inseln und Exklaven: Zu „Eschenhaus“ von Jörg Bernig
Jörg Bernig bei einer Autorenlesung im Kulturhaus Loschwitz© IMAGO / Arvid Müller

Was treibt jemanden an die walisische Küste? Anna ist Mitte Vierzig, kinderlos, kommt aus Leipzig und arbeitet als Buchillustratorin in Berlin. Eines Tages steht die Künstlerin ungläubig vor einem Haus, dass ihr ein fremder Mann aus Großbritannien vererbt hatte. Der ehemalige Hausbesitzer Dr. Norman Argent reiste in Zeiten des Eisernen Vorhangs nach Leipzig und war an der dortigen Karl-Marx-Universität als Germanist tätig. Er hatte es ihr vermacht und ob sie nun wollte oder nicht, musste sie jetzt etwas damit anfangen. Der Labourfan kam aus weltanschaulicher Überzeugung in den „Arbeiter und Bauernstaat“ oder wie er es oft nannte: „Kleindeutschland“. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit lernte er die Eltern von Anna – Mutter Germanistin und Vater Musikwissenschaftler – kennen.

Der Brite wurde Teil jenes subversiven Kreises, den Künstler und Intellektuelle neben der offiziellen Ordnung pflegten. Im Eschenhaus fallen Anna neben zahlreicher deutschsprachiger Literatur die Tagebuchaufzeichnungen des ehemaligen Hausherren zu, die dessen Zeit im subversiven Kreis und seine verhinderte Liebe zu Annas Mutter und dem damit verbundenen Kränkungsschmerz beschreiben. Dies lieferte wohl den entscheidenden Grund, sodass er sich als Stasi-IM verpflichten ließ und zum Verräter wurde. Man lockte ihn und stellte die Erfüllung der Sehnsucht nach der unerfüllten Liebe in Aussicht. Blind und naiv kehrte Argent letzten Endes unerfüllt zurück auf die britische Insel.

Das Haus eines Spitzels

Anna lebte fortan in dem Haus desjenigen, der seine Eltern und deren Umkreis an die Staatssicherheit auslieferte. Sie verloren ihre Stellen an der Hochschule und sollten dort auch nach der Wende keine Verwendung finden. Sie wurden schlicht nicht mehr gebraucht und die Universität umstrukturiert, was meint, dass die Arbeitsplätze durch Jüngere aus dem Westen der BRD besetzt wurden. Tief gekränkt verkümmerten sie und starben, ohne wirklich alt geworden zu sein, für Anna, die später keinen Kontakt mehr zu ihnen hatte, „verschwanden sie im Verborgenen“.

Sie entscheidet sich, das Haus auf der Halbinsel trotz des Wissens um den Verrat weiter zu bewohnen, da eine vollständige Rückkehr in ein immer fremder werdendes Land nicht in Frage kommt. Während sie sich in ihrer neuen Heimat einlebt, breitet sich auf dem Festland ein religiöser Totalitarismus aus, dessen „verordnete Wirklichkeiten“ nach und nach den europäischen Kontinent vollumfänglich erfassen und umgestalten.

Spaltung im Kulturbetrieb

Bernig gelingt in seinem neuen Roman Eschenhaus in einer leisen und ausgezeichneten Sprache neben der Zeichnung der Haupt- und Nebencharaktere auch eine Analyse der untergehenden und entstehenden Ordnungen DDR – BRD – „Otrelia“. 1966 in Sachsen geboren und aufgewachsen, erzählt er aus der Perspektive des Teilnehmers. Ihm sind daher beide Systeme – das sozialistische und demokratische – vertraut. Die Charakterwahl erlaubt Bernig Zeitsprünge, er nimmt den Leser mit in die Brüche, die sich im Großen, aber auch im Portrait vollziehen, zeigt mögliche Freiheiten innerhalb freiheitsfeindlicher Linien und gewährt einen Blick in eine Zeit hinter den Repressionsmühlen.

Illustratorin Anna treibt die Suche nach dem Verstehen der Zeiten und Entwicklungen an und sie driftet dabei immer weiter weg von den neuen Ordnungen. Bernig ist ebenso jemand, der von den ausgreifenden neuen Ordnungen wegtrieb. Er sollte im Jahr 2020 trotz einer Stimmenmehrheit nicht Kulturamtsleiter im sächsischen Radebeul werden. Die Äußerung einer falschen Meinung in einem falschen Medium (Beiträge in der Sezession und Tumult) genügte bereits, um im besten Deutschland aller Zeiten die Demokratie entscheidend zum Wanken zu bringen. Eine Front aus moralisch höherstehenden Kulturakteuren bauten derartigen Druck auf, dass Bernig seine Bewerbung zurückzog.

Ein Riss durch die Gesellschaft

Seit einigen Jahren erscheinen seine Texte ausschließlich im Buchhaus Loschwitz, jener libertären Instanz, der nicht (wie Bernig) das Verlassen der eigenen Position, sondern die Verengung des herrschenden Meinungskorridors zum Verhängnis wurde. Man brachte sich in den Meinungsbildungsprozess der Gesellschaft ein, vertrat aber eine unerwünschte Meinung und noch nicht einmal eine, die man zu dulden bereit war. Zum besseren Verständnis des gesamten Theaters sei die 3sat-Dokumentation „Der Fall Tellkamp“ empfohlen und so staune man über den Kulturbetrieb und seine Beschäftigten, denen der Applaus einer angeblich vielfältigen Gesellschaft wichtiger zu sein scheint als echte Pluralität und das Aushalten unterschiedlicher Meinungen.

Der berühmte Riss, der sich immer offensichtlicher vollzieht, wird am Beispiel Dresden nochmals deutlich. Heute muss man sich fragen, was diese Demokratie noch wert ist, wenn die Inanspruchnahme grundrechtlich verbriefter Meinungsfreiheit der einen Seite zugebilligt wird, weil sie linksliberal und woke sind, der anderen Seite jedoch nicht, weil dort eine konservativere Sicht auf Dinge vertreten wird.

Ein möglicher Lösungsweg

Ein Ausweg aus der Misere: Stattfindende Debatten in öffentlichen Räumen wie jene im Dresdner Kulturpalast im Jahr 2018 zwischen dem Dichter Durs Grünbein und dem Schriftsteller Uwe Tellkamp, das heißt tatsächliche Diskursbereitschaft zwischen linken und rechten Diskutanten, die entlang der öffentlichen Bruchlinien miteinander streiten. Viel Hoffnung kann hier nicht entfacht werden, so verläuft doch diese Linie längst nicht mehr auf Augenhöhe und so wirken die Fronten unversöhnlicher denn je. Die Räume sind besetzt, ebenso die Köpfe und damit die Institutionen. Eine Debatte scheint wohl (vorerst) nicht möglich, dazu wären Änderungen der gesellschaftlichen Parameter nötig, aus der das linksliberale Leitmilieu der BRD jedoch keinen Nutzen zöge.


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Neben den Tagebüchern kommt Anna im Laufe der Geschichte immer wieder ein Buch aus dem Jahre 1920 in den Sinn – Die Entstehung der Ozeane und Kontinente – welches die Theorie der „Kontinentaldrift“ untersucht. Tatsächlich scheint Großbritannien wegzutreiben, der Abstand zum alten Kontinent vergrößert sich, Fähren benötigen längere Zeiten für ihre Wege. Spediteure berichten zunächst nicht öffentlich darüber, um nicht für verrückt erklärt zu werden, bis es sich herumspricht, sich wissenschaftlich nachvollziehen lässt und die neuen Erkenntnisse letzten Endes niemand mehr leugnet. Wissenschaftler sehen sich zu der Aussage veranlasst, alles bisher gedachte komplett zu überdenken.

„Bundesrepublik Otrelia“

Was bedeutet das für die heutige Zeit? Die einen beklagen durchaus süffisant das Abdriften einstmals Verbündeter weg von der Kontinentalplatte eines vermeintlichen „demokratischen Konsens“, so Schriftsteller Ingo Schulze in der Tellkamp-Doku, die anderen ziehen sich gekränkt und verdrossen zurück oder sammeln sich in Exklaven, schaffen neue Räume und drücken ihre Sicht auf die Dinge durch künstlerisches Schaffen aus: Seit 2020 verlegt man im Buchhaus Loschwitz die Reihe mit dem Titel „EXIL“ – darunter Autoren wie Monika Maron, Uwe Tellkamp, Matthias Matussek und eben jener Jörg Bernig.

Mit diesem Titel verschließt man zunächst die Tore. Exil kann bedeuten, verbannt worden zu sein, Zuflucht zu finden oder bewusst neue Kraft abseits des Spektakels zu tanken. Im Buch wird der öffentliche Kreuzzug gegen das Hergebrachte von der einzig wahren Religion, „Otrelia“ – the only true religion, betrieben, die das Land in Distrikte ordnet, die drei Buchreligionen Judentum-Christentum-Islam abschafft und durch eine fusionierte Einheitskirche ersetzt. Das Wort „Deutschland“ wird aus dem Sprachgebrauch getilgt und Englisch wird zur Verkehrssprache ernannt.

Verschiedenen Themen werden angesprochen

Anna trifft auf patrouillierende Ordnungstruppen, die sie auf die Einhaltung eines „züchtigen Äußeren“ hinweisen und daraus ihre Haltung zum otrelischen Kirchenstaat ableiten. Eine Widerstandsgruppe, die eine Demo organisiert, wird von den polizeiähnlichen Truppen verprügelt. Otrelia ist die zu Ende gedachte, in geltendes Recht gegossene und mit ordnungsrechtlicher Gewalt ausgestattete Tyrannei einer unbedingten Haltung und Moral. Parallelen zum woken Tugendterror der westlichen Regenbogendemokratie sind augenfällig – Gendersprache, Cancel Culture und LGBTQ sind als die bekanntesten Spielarten keine organischen Entwicklungen über längere Zeiträume, sondern Dogmen, die von einer kulturell dominierenden Allianz im Namen der Gleichheit und des Fortschritts der Gesellschaft aufgezwungen werden.

Die Grundfrage der Parabel: Besitzt die heutige Gesellschaft die Kraft und den Glauben, ihr Auseinanderdriften rechtzeitig von innen heraus zu stoppen oder ist die Bildung von Exklaven, das bedeutet wohl die Vertiefung des Risses der erbaulichere Weg aus der gesellschaftlichen Krise?


Zur Person:

Kevin Naumann, Jahrgang 1988, ist ein Patriot aus Mitteldeutschland. Der Familienvater aus Halle bezeichnet sich selbst als Sozialpatriot.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.