Der „Antisemitismus“-Stempel

In einem Meinungsbeitrag an dieser Stelle versuchte Julian Marius Plutz die „Klimaextremisten“ am Kragen zu bekommen, indem er ihnen „Antisemitismus“ unterschob. Synonym dazu benutzt er das Wort „Judenhass“, das in seinem Text viermal vorkommt, zuletzt in der ultimativen Steigerung „nackter, blinder Judenhass“, den die „Ökobewegung“ angeblich „reproduziert“ und boshafterweise angeblich auch reproduzieren „will“.
Martin Lichtmesz
Kommentar von
13.12.2022
/
6 Minuten Lesezeit

Als Beleg für diese Behauptung nennt Plutz zwei Tweets des offiziellen Twitter-Accounts von „Fridays for Future“ vom 12. November 2022. Da stand zu lesen:

„In the last few days there have been more targeted persecutions and attacks on Palestinians. This is a clearly result of Israeli apartheid and neocolonialism. As an international anti-colonial, climate-justice movement, we stand in solidarity with the Palestinian liberation. Viva Palestine libre!“

Plutz ignoriert den Satz „In the last few days there have been more targeted persecutions and attacks on Palestinians“ (trifft das zu oder nicht?) und kommentiert: „Man muss kein Experte für Judenhass sein, um zu erkennen, dass es sich hier um Antisemitismus handelt.“ Dies begründet er so:

„Die Formulierung ‚Apartheid‘ in dem Kontext mit Israel zu nutzen, dem einzige Land im Nahen Osten, in dem Palästinenser keine persona non grata sind, ist absurd. Ebenso die Behauptung, der Judenstaat würde Neokolonialismus betreiben. Im Gegensatz zu den sogenannten palästinensischen Gebieten ist Israel ein völkerrechtlich anerkannter, demokratischer Staat.“

Mentale Westbankmauer

Nun: Man muss kein Experte für den israelisch-palästinensischen Konflikt sein, um zu erkennen, dass es sich hierbei um eine äußerst dünne und strohmanngefütterte Begründung handelt. Sie basiert auf rechtszionistischen „talking points“, die systematisch darauf abzielen, die Geschichte Israels und des israelisch-palästinensischen Konflikts zu verschleiern. Diese Form von politisch-historischem „gaslighting“ wird jedem sattsam bekannt sein, der einmal versucht hat, mit rechten Israelfans (hauptsächlich aus dem „liberalkonservativen“ Lager) zu diskutieren und dabei regelmäßig gegen eine Art mentaler Westbankmauer aus Hasbara-Betonblöcken gedonnert ist.

In den Augen dieser Fraktion ist die hundertprozentige Parteinahme (darunter geht’s in der Regel nicht) für Israel der entscheidende Gradmesser, ob „Antisemitismus“ vorliegt oder nicht. Sie appelliert vor allem an via „Islamkritik“ anfällige Rechte, sich bedingungslos hinter eine bestimmte politische Richtung (etwa Netanjahu-Likud oder US-amerikanischer Neokonservatismus) zu stellen, und scheut dabei auch vor moralischer Erpressung nicht zurück – wer nicht mitmachen will, bekommt nach altbewährtem Rezept den „Antisemitismus“-Stempel aufgedrückt. Das „Rechte“ an sich ist aber noch lange kein Grund zur Zustimmung oder politischen Solidarität und auch kein Garant, dass identische oder ähnliche Interessen vorliegen.

Die „Ökobewegung“ dient Plutz nur als Aufhänger, um ein bestimmtes Narrativ über „Antisemitismus“ und „Israel“ zu verbreiten. Er versucht sich gar nicht erst an einer seriösen Analyse der „FFF“-Bewegung, der man weißgott Gewichtigeres vorwerfen könnte, als dass sie linke Standardpositionen übernimmt. Von pauschalem „Judenhass“ kann dabei nicht ernsthaft die Rede sein.

Ich werde an dieser Stelle nicht viel ausführlicher auf die Problematik eingehen, als es Plutz selber für notwendig hält. Jedem, der nur entfernt mit der Geschichte Israels vertraut ist, sollte klar sein, dass es sich hierbei selbstverständlich um einen (verspäteten) Kolonialstaat auf bereits besiedeltem Gebiet handelt, der auf Kosten und gegen den Willen eines anderen Volkes errichtet wurde, zum Teil durch Terrorismus, Krieg und ethnische Säuberungen. Eine Lösung der 1947/48 geschaffenen territorialen und völkerrechtlichen Probleme steht bis heute nicht in Aussicht.

An dieser Stelle wird man in der Regel von pro-israelischer Seite mit einer Kaskade an Rechtfertigungen und Geschichtsdeutungen zugehagelt, die zu behandeln ich mir aus Platzgründen ersparen werde. Egal, wie man die geschichtlichen Vorgänge beurteilen mag, es bleibt die Tatsache, dass es sich hier um einen Konflikt zwischen „zwei Völkern in einem Land“ (Martin Buber) handelt, in dem beide Seiten zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt angewendet und mit Blut bezahlt haben, und bereit sind, das auch weiterhin zu tun. Es gibt unter Arabern zweifellos „Judenhass“, wie es auch „Araberhass“ unter Juden gibt.

„Antisemitismus als politische Waffe“

Was nun die „Apartheid“ betrifft, so hat auch dieses polemische Schlagwort Grundlagen, die sich nicht einfach so vom Tisch wischen lassen. Momentan leben rund 5,8 Millionen Araber, denen etwa 6,78 Millionen Juden gegenüberstehen, unter israelischer Vorherrschaft. Rund 4,5 Millionen davon ohne israelische Staatsbürgerschaft in von Israel völkerrechtswidrig besetzten bzw. militärisch und infrastrukturell kontrollierten Gebieten. Das ist eine große Menge Menschen mit legitimen Interessen, die man nicht als Nebbich behandeln kann. Ihre Präsenz bedeutet ein gravierendes demographisches Problem für das Projekt des jüdischen Staats.

Der Begriff „Apartheidstaat“ versucht, ein starkes moralisches Argument ins Feld zu führen, das auf die moralischen Rechtfertigungen der zionistischen Politik antwortet. Er impliziert keineswegs das „ultimativ“ Böse, wie Plutz behauptet. Das ist eine maßlose Übertreibung, auf die er mit dem „ultimativer“ Bösen des „Antisemitismus“ antwortet. Hier ist offenbar eine Menge an Projektion am Werk.

Diese Streiflichter sollten genügen, um deutlich zu machen, wie unredlich die Methode ist, Parteinahme (oder auch nur Verständnis oder Sympathie) für die palästinensische Sache an und für sich als „Judenhass“ zu diffamieren. Das ist ein klassisches Beispiel für „Antisemitismus als politische Waffe“ (Norman Finkelstein).

Es ist generell ein Irrtum zu glauben, das Wörtchen „Hass“ allein würde irgendein Argument ersetzen oder eine ausreichende Erklärung für Phänomene wie Feindschaft, Opposition oder auch nur Kritik bieten. Wir Rechten und Oppositionellen kennen es zur Genüge: Unsere Positionen und Äußerungen werden reflexartig als „Hass und Hetze“ gebrandmarkt, womit die Diskussion auf eine rein emotionale und meistens auch pathologisierende Ebene verschoben wird.

Es wird nicht differenziert zwischen Hass, Zorn, Empörung, Ärger oder Ressentiment; es wird nicht gefragt, welche Ursachen der jeweilige Hass, der Zorn, die Empörung, der Ärger oder das Ressentiment haben, ob diese Affekte legitim und nachvollziehbar, ob sie angemessen oder überbordend, ob sie rational oder irrational, ob sie zielführend oder kontraproduktiv sind. Dabei sind diejenigen, die ihren Kritikern oder politischen Gegnern ständig „Hass“ unterstellen, oft selbst auffällig aggressiv und hasserfüllt.

Fehlende Differenzierung

Auch Plutz ist nicht willens, zu differenzieren. Schnurstracks ist er beim Maximalvorwurf des „blinden“ und „nackten“ „Hasses“ angelangt, und zu diesem Zweck setzt er eine weitere rhetorische Waffe ein: den sogenannten „3D-Test“, mit dem man angeblich „legitime Kritik an der Politik Israels bzw. an dessen Regierung von Antisemitismus unterscheiden“ (Wikipedia) kann: „Dämonisierung“, „Delegitimisierung“ und „doppelte Standards“. Das ist natürlich völlig wertlos, weil die ersten beiden Begriffe nach Gusto ausdehnbar sind, und der dritte mit Leichtigkeit in einen bequemen „Whataboutism“ umgemünzt werden kann.

Die Unterscheidung zwischen legitimer „Kritik“ und bösem „Antisemitismus“ liegt erfahrungsgemäß nicht im Interesse derer, die sich dieses Modells bedienen. Faktisch wird der „3D-Test“ vorrangig dazu benutzt, jegliche Art von Kritik an israelisch-zionistischer Politik zum Schweigen zu bringen, während gleichzeitig ein Anschein von Differenzierungswillen aufrechterhalten wird.

Hinzu kommt, dass sich mit diesem „3D“-Modell der Spieß trefflich umdrehen lässt: „Dämonisierung“ des Gegners, „Delegitimisierung“ seiner Interessen und seiner politischen Vertretungen und „doppelte Standards“ gehören zum typischen Arsenal der Israelchauvinisten. Es handelt sich dabei jedoch keineswegs um ein Muster, das „Antisemiten“ oder „Zionisten“, Juden oder Araber für sich gepachtet hätten. Man findet diese „3D“ in jedem zugespitzten Konflikt zwischen Völkern, Staaten und Ideologien, spiegelbildlich einander gegenüberstehend. Aktuell betreiben auch Russen und Ukrainer dieses bittere Spiel.

Wie rigoros die Standards von Plutz selbst sind, zeigt sich schon zu Beginn seines Beitrags, wenn er den „jüdischen Selbsthass“ beschwört, und dafür so unterschiedliche Namen wie „Noam Chomsky, aber auch Anetta Kahane [wieso? ML] und das ehemalige Mitglied der Gruppe 47, Erich Fried“ als Beispiele nennt. Wer Theodor Lessing wirklich gelesen hat, sollte jedoch wissen, dass auch „jüdischer Selbsthass“ kein Zauberwort ist, mit dem sich jegliche Art von jüdischer Selbstkritik (oder Israelkritik) entwerten oder pathologisieren ließe.

Am Schluss empfiehlt Plutz „Werke von Henryk Broder, Wolfgang Kraushaar oder Michael Wolffsohn“ als kanonische Augenöffnerliteratur zum Thema „Antisemitismus“. Darüber ließe sich trefflich streiten, und mindestens zu Broder und Wolffsohn fiele mir etwa zum Thema „doppelte Standards“ eine Menge Unerquickliches ein.

Ich könnte nun auch, Plutz paraphrasierend, schreiben: „Wie fest muss man die Realität verschließen (sic), um – zum Beispiel – die Werke von Norman Finkelstein, Uri Avnery, Miko Peled, Tom Segev, Abraham Melzer, Illan Pappé, Benny Morris, Max Blumenthal, Gilad Atzmon zu ignorieren, um nur ein paar zeitgenössische jüdische Autoren zu nennen?“ Alles „Selbsthasser“, die nichts zu sagen haben! Nein, so einfach darf man es sich nicht machen.


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