US-Soziologe Carl: Die Ära der westlichen Hegemonie endet

Viele Experten und Denkfabriken sind sich einig: die Welt erlebt gerade einen Epochenwechsel. Die ökonomischen, demographischen und politischen Gewichte verschieben sich zusehends weg von der westlichen Hemisphäre hin zu den aufstrebenden Mächten Eurasiens – vor allem Russland, China und Indien. Vom „Ende der Geschichte“, das der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama Anfang der neunziger Jahre in seinem vielbeachteten Buch prophezeite, spricht heute niemand mehr.
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Der US-Soziologe Noah Carl analysiert in einer aktuellen Analyse des unabhängigen Medienportals Daily Skeptic (Titel: „Public Opinion and Multipolarity“) die internationale Situation und macht eine Reihe von Indizien für den Epochenwechsel aus. Schon der demographische Befund sei eindeutig: in dem Maße, in dem die Bevölkerung der nicht-westlichen Länder gewachsen sei und sich ihre Wirtschaft entwickelt habe, sei auch deren Anteil am weltweiten BIP gestiegen. 1990 seien noch 60 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts auf den Westen entfallen. Dieser Anteil ist in den letzten drei Jahrzehnten auf etwa 45 Prozent gesunken. Absehbar ist, dass der BIP-Anteil der westlichen Hemisphäre in den kommenden zwei Jahrzehnten noch weiter sinken wird.

Das politsche Gewicht eines Landes lasse sich gut anhand seines Anteils am weltweiten BIP abschätzen. Die USA und China hätten derzeit die mit Abstand größten Volkswirtschaften und seien die beiden mächtigsten Staaten. Große Volkswirtschaften könnten es sich leisten, mehr für ihre Streitkräfte auszugeben und dadurch eine größere militärische Macht in die Waagschale zu werfen. Sie verfügten auch über mehr Einfluss auf die Wirtschaft, wo Sanktionen und Handelsabkommen Instrumente der Machtprojektion seien. Als Beispiel nennt Carl Liechtenstein: das Land habe zwar den höchsten Lebensstandard, aber kein großes Mitspracherecht in der Weltpolitik, weil seine Wirtschaft vergleichsweise vernachlässigbar sei.

Im laufenden Jahr seien die Herausforderungen für die westliche Hegemonie deutlicher geworden als in jedem anderen Jahr seit dem Ende des Kalten Krieges. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine sei hierfür das herausragende Beispiel. Carl erinnert in seiner Analyse für Daily Skeptic daran, dass China zudem mit Militärmanövern auf die provokative Taiwan-Reise von Nancy Pelosi, der Vorsitzenden des amerikanischen Repräsentantenhauses, reagiert habe.

Das US-Portal ruft auch in Erinnerung, dass in der westlichen Hemisphäre zwar ein Konsens über Russland-Sanktionen geherrscht habe. Ein Großteil der nicht-westlichen Länder habe sich den Sanktionen jedoch nicht angeschlossen. Trotz erheblichen diplomatischen Drucks der USA hätten sie sich dafür entschieden, ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten – ein klares Indiz dafür, dass Gewicht und Einfluss des westlichen Hegemons abgenommen hätten.

Carls Resümee ist eindeutig: „So wie es aussieht, kehrt die Welt gerade zur Multipolarität zurück. Die westlichen Länder müssen damit klarkommen.“