Leisetreter, Flüsterkneipen und Krimsekt – Die „Russendämmerung“ in Dresden

Während andernorts von der „Kriegstüchtigkeit“ der Bundesrepublik die Rede ist, versammelte sich am 6. November 2023 in Dresden eine kleine Schar, die sich nicht von einfachen Feindbildern überzeugen lässt. In Zusammenarbeit mit dem Buchhaus Loschwitz präsentierte der Verlag Jungeuropa gemeinsam mit dem Autor Ilia Ryvkin sein neuestes Buch „Russendämmerung“.

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Leisetreter, Flüsterkneipen und Krimsekt – Die „Russendämmerung“ in Dresden
Der russische Dramaturg und Journalist Ilia Ryvkin bei seiner Lesung im Buchhaus Loschwitz.© Jungeuropa Verlag

Mit dem Internet und den schier unerschöpflichen Wissensbeständen, auf die wir in jedem Moment unseres Lebens zugreifen können, scheint uns alles und jeder bis zu einem gewissen Grad bekannt zu sein. Ob die Namen von Schauspielern, die Lottozahlen des Jahres 2003 oder die wirtschaftliche Lage Usbekistans – alles ist nur einen Klick entfernt. Doch diese Informationsflut hat ihren Preis: Das Erleben, das Kennenlernen von Menschen, Dingen und Orten tritt in den Hintergrund, verschwindet hinter einem Mantel von Halbwissen.

Gegen diesen Mantel des Halbwissens und der Ignoranz, der vor allem die deutsche Öffentlichkeit gegenüber Russland zu erfassen scheint, kämpft Ilia Ryvkin mit seinem Buch „Russendämmerung“ wie gegen einen tosenden Schneesturm aus seiner Heimat. Sein Reisebericht von Minsk über Moskau bis in den Donbass ist nicht nur ein Zeugnis dieser Orte, sondern auch von Ryvkin selbst. Der gebürtige Moskauer beschreibt die russische Literatur als „realistisch, traditionalistisch – durchdrungen von christlich-orthodoxer Spiritualität“, und das merkt man.

Ein Band durch Ostosteuropa

Ryvkins Reise führte ihn bereits 2016 in das heute umkämpfte Gebiet des Donbass. Die Erzählung „Cyborgs“ bildet einen niedrigschwelligen Einstieg in die Erzählweise des Dramatikers, der mit einer Mischung aus Essays und Kurzgeschichten durch das Buch führt. Zwei Jahre nach der russischen Annexion der Krim und den Aufständen in den selbsternannten Volksrepubliken besuchte er die Kleinstadt Awdejewka, nur wenige Kilometer von der damaligen Front zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Streitkräften entfernt. Anlass der Reise war ein Projekt mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen, mit denen er gemeinsam Häuserwände in der unter Beschuss stehenden Stadt bemalen wollte. Doch schnell wird dem Leser klar, dass es Ryvkin nur zu einem kleinen Teil um die namensgebenden Hybriden aus Mensch und Maschine geht.


Der russische Dramaturg und Journalist Ilia Rykin hat mit Russendämmerung ein literarisches Reisetagebuch der ganz besonderen Art geschrieben. Seine Reisen führten ihn bis ins Innerste des westlichen wie östlichen Panoptikums. Ryvkin ist mit offenen Augen und kritischem Geist durch „den Osten“ gereist, hat mit Linken wie Rechten, „nationalistischen“ Queer-Aktivisten, staatskritischen Mönchen, kommunistischen Parteisekretären, Militärs, Trinkern und Professoren gesprochen. Jetzt im m FREILICH-Buchladen bestellen.


Natürlich spielt das Thema Corona auch in „Russendämmerung“ eine Rolle. Ryvkin kann sich ein Lachen nicht verkneifen, als er bemerkt, dass in der „letzten Diktatur Europas“ – wie Belarus in westlichen Medien genannt wird – die liberalste Corona-Politik des Kontinents betrieben wurde. Überhaupt kann Ilia Ryvkin glänzen: Seine Ausführungen sind mal literarisch, mal biografisch – aber nie redundant oder unverständlich. So wird die anekdotische Erzählung von Batjuschka, einem Corona-kritischen Mönch, der wegen seiner Äußerungen in einem Moskauer Gefängnis sitzt, zu einer Studie des russischen Geistes. Dieser vibriert anders als im übrigen Europa, das Politische greift viel stärker in das Private und Persönliche der Menschen ein und nötigt ihnen eine klare Position ab.

Burgfrieden und Tresengespräche

Die vielen kurzweiligen Geschichten des Buches sind immer mit einem tiefen Ernst angereichert. So auch im Kapitel „Russendämmerung“. Die Kneipe, die dem Kapitel und dem Buch den Namen gibt, liegt im Zentrum von Moskau und wird Ryvkin als „Flüsterkneipe“ empfohlen. In solchen Kneipen werden nicht nur Corona-Auflagen und Sperrstunde ignoriert – sie sind Orte des patriotischen Widerstands. Hier und an anderen Tresen trifft er die junge russische Rechte, die zwar die Regierung Putin kritisiert, aber seit Beginn des Krieges in der Ukraine eine Art Burgfrieden mit ihr geschlossen hat.

Ryvkin versteht diese Haltung – er unterstützt sie sogar. Später fragte ich ihn, ob er den Burgfrieden mit der Regierung auch im Falle einer Niederlage Russlands aufrechterhalten würde, worauf er antwortete: „Ernst Jünger wurde einmal nach seiner schlimmsten Erfahrung des Weltkrieges gefragt, seine Antwort war: Die Niederlage. Solange es keine Niederlage gibt und die Regierung keine Verräter sind, muss alles für den Sieg getan werden – da gibt es keinen Dolchstoß“. Eine solche Haltung muss auf west- und mitteleuropäische Rechte befremdlich wirken, zumal ein solcher Frieden mit den hiesigen Regierungen undenkbar ist.

Wer scheut den freien Austausch?

Ryvkin konnte mit einem gewissen Wohlwollen des Publikums rechnen, das Buchhaus Loschwitz mit seiner Betreiberin Susanne Dagen hat eine gewisse Tradition, Autoren einzuladen, die sich für die Verständigung zwischen verschiedenen Ländern und Sichtweisen einsetzen. Dennoch war die positive Resonanz nicht selbstverständlich. Wie Jungeuropa-Verleger Phillip Stein verriet, waren die Reaktionen auf „Russendämmerung“ durchweg polarisiert. „Es gibt nur wenige Stimmen, die differenzieren“, so der Verlagsleiter gegenüber FREILICH. Ist das Buch prorussisch? Nur wenn man die Position des liberalen Westens einnimmt, der jede russische Eigenart als Keimzelle autoritärer Großmachtfantasien klassifiziert und damit in den Kategorien des Kalten Krieges verharrt. Ryvkin weiß zu differenzieren und zu kritisieren, aber ohne das eigene Volk zu verachten.

Auf die Frage eines Teilnehmers, ob der in Berlin lebende Autor bei seiner Arbeit als Dramatiker auf Probleme stoße, kann Ryvkin nur müde lächeln. „Als Russe ohne Selbsthass auf mein eigenes Volk würde ich ohnehin gecancelt“, bemerkt er und fügt an, dass ihm seit der Ankündigung über die Veröffentlichung im Jungeuropa Verlag wiederholt Todesdrohungen zugestellt wurden – vermutlich von äußerst patriotischen Ukrainern. Was die Debatten um Ilia Ryvkins „Russendämmerung“ noch bringen werden, ist offen. Fest steht jedoch: Wer sich offen mit diesem Autor und seinem Werk auseinandersetzt, hat gute Chancen, diese Denkschablonen zu überwinden und zu einer differenzierten Sicht auf unseren größten Nachbarn im Osten zu gelangen.