Der 17. Juni in einem Land ohne Geschichte

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zählt zu den ersten Widerstandsaktionen gegen das SED-Regime und die sowjetische Besatzungsmacht. Wie kein anderer Tag bis zur Wiedervereinigung steht er für das Streben des deutschen Volkes nach Souveränität und inspirierte auch Dissidenten im Westen. Doch was ist von diesem symbolträchtigen Tag geblieben? FREILICH-Redakteur Mike Gutsing geht der Frage nach, was von einem Opfer bleibt, wenn niemand mehr seiner gedenkt.

Kommentar von
17.6.2023
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3 Minuten Lesezeit
Der 17. Juni in einem Land ohne Geschichte

Straßenschild Platz des Volksaufstandes von 1953

© IMAGO / photothek

Bereits nach vier Jahren hätte der sozialistische Satellitenstaat zwischen Saale und Oder sein Ende finden können. Ausgehend von einer Erhöhung der geforderten Arbeitsnormen, die faktisch einer Lohnsenkung gleichkam, brach der Volksaufstand zuerst in der Berliner Stalinallee und dann im gesamten Staatsgebiet der DDR aus. So zumindest die offizielle Geschichtsschreibung, die aber gerne unerwähnt lässt, dass der SED-Einheitsstaat schon in den ersten Jahren kurz vor dem Staatsbankrott stand und sich auch die Unruhen um den 17. Juni schon Tage vorher ankündigten.

Gerade von linker Seite werden die möglichen Folgen dieser Unruhen gerne heruntergespielt. Auch ohne die Niederschlagung der Demonstrationen durch sowjetische Panzertruppen hätte es aufgrund des US-Imperialismus nie eine vorzeitige Wiedervereinigung gegeben und die Demonstranten selbst waren eher Klassenkämpfer als patriotische Deutsche.

Die Einheit war nicht beabsichtigt

Mit der symbolischen Leistung der Demonstranten, die die rote Sowjetfahne vom Brandenburger Tor rissen – eine klare Absage an das Regime – ist dieser Mythos verschwunden. Richtig ist, dass ein wiedervereinigtes Deutschland weder 1990 noch 1953 im Sinne der alliierten Siegermächte war. Vielmehr wollte man die Deutschen in der DDR lieber für immer der sowjetischen Herrschaft überlassen, als Deutschland die Souveränität zurückzugeben, bevor die Umerziehung der gesamten Nation abgeschlossen war.

Heute, 70 Jahre später, lassen sich zwei Beobachtungen machen: Während sich die DDR-Bürger 1989 aus der historischen Zeitkapsel des SED-Staates befreiten, stellt für die Bundesrepublik auch in ihrer heutigen Form das Jahr 1945 den Nullpunkt dar. Nicht nur, dass man sich durch die pathologische Selbstverleugnung der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft jeder historischen Identität vor 1933 beraubte, mit der Wiedervereinigung übertrug sich dieses Verhalten rasch auch auf die wenigen geschichtsträchtigen Momente der SED-Zone.

Eine würdelose Wiedervereinigung

Der Publizist Hans-Dietrich Sander kommentierte diesen bundesdeutschen Habitus in der Juniausgabe 1990 seiner Staatsbriefe:

„Der 17. Juni 1990 wurde in der alltäglichen Würdelosigkeit begangen, die zum Markenzeichen der politischen Kultur der Deutschen nach 1945 geworden ist. […] Es gab mir ein stundenlanges Chaos im Plenum, das über offen geäußerte Bedenken, […] auf dem Schlusspunkt zusteuerte, man könnte es den Sowjetrussen nicht zumuten, aus der Zeitung zu erfahren, dass ihre 400.000 Soldaten nicht mehr auf dem Boden der DDR stünden. Der 17. Juni 1990 gab uns einen Vorgeschmack der Lizenz-Einheit, die uns bevorsteht. Die Fremdbestimmungen werden dauern. Die deutsche Freiheit ist erst noch zu erkämpfen.“

Die Ereignisse des Krieges in der Ukraine und die deutsche Vasallentreue gegenüber dem Dollarimperium der USA haben Sanders Worte wahr werden lassen. So ist auch der Widerstandstag am 17. Juni nach Corona-, Energie- und Friedensdemonstrationen reif für die Mottenkiste. Die gefälligen Büttel sind wieder einmal die Roten, aber statt des Sowjetbanners tragen sie nun den Regenbogen oder wahlweise eine Sonnenblume als Zeichen der Treue vor sich her.

Eine bequeme Erinnerung

Folgerichtig hat die grüne Bürgermeisterin von Steglitz-Zehlendorf, Maren Schellenberg, die Vereinigung zur Erinnerung an den 17. Juni 1953 von der offiziellen Gedenkveranstaltung ausgeladen. Um einen „würdigen, politisch neutralen Rahmen“ zu gewährleisten, wolle man den „nicht unumstrittenen“ Verein nicht zu Wort kommen lassen. Verband nicht zu Wort kommen lassen.

Der 17. Juni als politisch neutraler Tag? Wer in den 1990er Jahren die deutsche Teilung als „Erlösung von der Größe“ (Fritz Stern) bezeichnete, will auch heute den 17. Juni zu einem inhalts- und damit identitätslosen „Alles kann, nichts muss“-Tag umdeuten. In einem geschichtslosen Deutschland sind Inhalte unerwünscht, denn gerade sie würden deutlich machen, dass Freiheit nicht geschenkt wird, sondern erkämpft werden muss.


Buchempfehlungen der Redaktion:

➡️ Ilko-Sascha Kowalczuk – 17. Juni 1953 (Beck'sche Reihe 2771)*

➡️ Hubertus Knabe – 17. Juni 1953: Ein deutscher Aufstand*


Zur Person:

Mike Gutsing, Jahrgang 1999, hat Geschichte studiert und lebt in Mitteldeutschland. Das besondere Interesse des Korporierten gilt der deutschen Geschichte und Kultur.


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