Wirtschaftsprofessor Jörg Guido Hülsmann

„Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Familie“

Im Interview mit FREILICH spricht der Ökonomieprofessor Jörg Guido Hülsmann über die Gründe, die seiner Meinung nach dazu führen, dass sich die Familie als Keim der Gesellschaf auf dem Rückzug befindet und inwiefern der Interventionismus eine Rolle dabei spielt.

Interview von
9.2.2023
/
7 Minuten Lesezeit
„Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Familie“
Jörg Guido Hülsmann© Gage Skidmore, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

FREILICH: Herr Professor Hülsmann, vor knapp drei Jahren hielten Sie auf dem Symposium „Familie am Abgrund – Ursachen und Auswege“ eine Rede mit dem Titel „Wie der Staat die Familien zerstört“. Die Statistiken in puncto Geburtenraten, Eheschließungen und langfristigen Beziehungen sprechen ja eine klare Sprache: Die Familie als Kerneinheit und Keim der Gesellschaft ist in Europa auf dem Rückzug. Warum ist dem Ihres Erachtens so?

Jörg Guido Hülsmann: Aus zwei hauptsächlichen Gründen. Zum einen ermöglicht steigender Wohlstand eine immer individuellere Lebensgestaltung. Zum anderen wird das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Familienlebens auch durch zahlreiche Eingriffe des Staats verändert. Der Wohlfahrtsstaat ist von seiner ganzen Konstruktion her darauf ausgerichtet, die Familie aus wirtschaftlicher Hinsicht überflüssig zu machen. Aber auch andere Staatseingriffe haben eine ganz ähnliche Wirkung, auch wenn sie die Zerstörung der Familien nicht unbedingt zum Ziel haben. Dabei denke ich insbesondere an die Geldpolitik der Zentralbanken. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit sorgen Zentralbanken dafür, dass der Geldwert stabilisiert wird. Tatsächlich aber stabilisieren sie den Verfall des Geldwerts. Sie betreiben Inflationspolitik.

Seit dem Zweiten Weltkrieg steigt das Preisniveau ohne Unterlass, und daraus entspringen in langer Sicht gewisse wirtschaftliche und kulturelle Folgen, die ich in meinen Büchern thematisiert habe. Insbesondere entspringen aus der Inflationspolitik große Anreize zur Verschuldung, ein bedeutendes Problem für junge Familien und ein Hauptgrund für ihr Scheitern. Außerdem entspringt aus der Verschuldung die Notwendigkeit, regelmäßige Geldeinkommen zu erzielen. Heute sind sehr häufig zwei Einkommen erforderlich, um den kreditfinanzierten Lebensstandard zu wahren. Der krampfhafte Blick auf den monatlichen Gehaltsscheck verengt und verkürzt nicht nur den wirtschaftlichen Blick, sondern die Lebensauffassung insgesamt. Auch das ist nicht günstig für das Familienleben, das auf lange Zeiträume angelegt ist und auf die verschiedenartigen Bedürfnisse von Eltern und Kinder und Großeltern eingehen muss.

Sie machen hauptsächlich den Staat für den allgemeinen Rückzug der Familie verantwortlich. Verständlicherweise ersetzt ein ausufernder Sozialstaat eben auch die familiäre Solidarität zwischen den Generationen: Wer weiß, dass der Staat auf ihn aufpasst, braucht nicht auf die Familie als ökonomische Notwendigkeit zurückzugreifen. Muss Familie wieder zur ökonomischen Notwendigkeit werden, damit sie wieder auf die Bildfläche zurückkehrt? Schließlich kritisierte ja sogar Marx die Familie auch als notwendig für die Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaft.

Marx und Engels haben diesen Kausalzusammenhang sehr richtig erkannt. Ihr Denkfehler – beziehungsweise ihre Verblendung – liegt in der Annahme, dass die schöpferischen Leistungen von Familie und Kapitalismus durch staatliche Organisationen ersetzt werden könnten. Doch das ist reines Wunschdenken. Der Staat schafft und schöpft nichts. Er ist eine einzige große Vernichtungsmaschine. Er verlangt immer neue Opfer und verbraucht stets mehr moralische und materielle Güter als er hervorbringen kann.

Dagegen ist das Familienleben darauf ausgerichtet, all diese Güter hervorzubringen. Es ist sozusagen eine Werkstätte der Produktivität, die auch jene grundlegenden Güter hervorbringt, auf denen das betriebliche Wirtschaftsleben beruht: Wahrheitsliebe, Gerechtigkeitsliebe, Opfersinn, Freundschaft, Solidarität, Fleiß, Pünktlichkeit und so weiter. Aber das kann nur ein freiwilliger Familienverband leisten. Und der Wille, sich auf das Abenteuer Familie einzulassen – und auf seine Zwänge und persönlichen Abhängigkeiten – bildet sich natürlich unter dem Eindruck der vorhandenen Alternativen und Zwänge.

Nun kann man aber auch von der anderen Seite argumentieren. So betonte der Soziologe Richard Sennett, dass die Flexibilität, die dem Menschen heutzutage abverlangt wird, wenn er auf dem Arbeitsmarkt weiterkommen möchte, ihm nicht nur mentalen Schaden zufügt, sondern auch das Familienleben erheblich erschwert. Wo soll die Familie in dieser von Sennett beschriebenen „Kultur des neuen Kapitalismus“ noch Platz haben, in dem Beziehungen, Lebensorte, Arbeitsplätze und Persönlichkeiten stets austauschbar, fragmentarisch und vorübergehend bleiben müssen? Kann eine Welt, in der man sich stets neu erfinden muss, Anker der Stabilität wie Familien einfach nicht dulden? Oder wird dem Kapitalismus hier zu Unrecht die Schuld zugesprochen?

Ich meine, dass letzteres der Fall ist. Um Ihre Frage richtig zu beantworten, muss man den Kapitalismus (beziehungsweise die Marktwirtschaft) vom Interventionismus unterscheiden. Der Kapitalismus ist eine sozio-ökonomische Ordnung des menschlichen Miteinanders, die auf Privateigentum und Privatrecht beruht. Dieser Kapitalismus wächst aus dem Familienleben hervor, und die Familien haben von ihm nichts zu befürchten. Zwar ermöglicht die wirtschaftliche Dynamik des entfesselten Kapitalismus den wohlhabenden Menschen ein individuelles Ausscheren aus den Familienbanden, wie auch aus allen anderen sozialen Bindungen. Aber unter normalen Umständen werden Egozentrismus und Hedonismus immer eine Ausnahme bleiben. Zu hoch sind ihre langfristigen emotionalen, sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Wer kühl abwägt und seinen Blick auf die Ferne richtet, wird ohne weiteres erkenne, dass das Familienleben das gleichgewichtige und nachhaltige Wachstum der ganzen menschlichen Persönlichkeit erleichtert. Das liebevolle Zusammenwirken von Mann und Frau orientiert und stützt dieses Wachstum – in ähnlicher Weise wie auch monastische, künstlerische und wissenschaftliche Gemeinschaften, die sich liebevoll einem gemeinsamen Ziel verschreiben, die Herausbildung schöner Persönlichkeiten fördert.

Anders stehen die Dinge im Fall des Interventionismus. Hier setzt der Staat das Privateigentum und das Privatrecht mehr oder minder beliebig außer Kraft. Er schreibt den Leuten vor, was sie mit ihrem eigenen Leben und ihren Gütern zu tun und zu lassen haben. Er zwingt sie zur Teilnahme an allen möglichen „Systemen“ – politisches System, Währungssystem, Rentensystem, Schulsystem, Gesundheitssystem und so weiter. Diese Form der Freiheitsberaubung formatiert und homogenisiert zwischenmenschliche Beziehungen. Sie macht alle Individuen und Organisationen abhängig von Vater Staat. Der Lehrer eines staatlichen Schulsystems ist nicht eingebunden in ein urwüchsiges Geflecht persönlicher Verträge und Freundschaften. Er ist Teil einer großen Maschine und wird auch so behandelt und angesehen. Seine Laufbahn ist standardisiert. Das macht ihn austauschbar. Gleiches gilt für seine Schüler und ebenso für die Ärzte und Patienten eines staatlichen Gesundheitssystems und so weiter.

Hinzu kommt der zerstörerische Charakter des Interventionismus. Eine wachsende Wirtschaft eröffnet auch den Zwangsteilnehmern der staatlichen Systeme immer neue Ausweich- und Entwicklungsmöglichkeiten. Aber wenn der Staat wuchert und mit seinen Steuern und Regeln die Wirtschaft drosselt und erstickt, dann muss der Mensch sich immer neu erfinden, wenn er trotz der steigenden Lasten einfach nur den bisherigen Lebensstandard halten will. Wer ums Überleben kämpft, muss den Blick fest auf den heutigen Tag richten. Rücksichtnahmen auf die Zukunft oder auf andere Menschen kann er sich dann häufig nicht leisten. Die Bindung an andere ist dann vielfach kein Anker mehr, sondern ein Bremsklotz. Unter solchen Umständen können Familien in der Tat nur schwer gedeihen.

Es fängt ja schon beim Kennenlernen an: In sozialen Medien und Dating-Apps wird der moderne Mensch auf der Suche nach Liebe zur Ware. Seine Begehrtheit und sein Begehren äußern sich streng quantifizierbar in Tinder-Likes und Instagram-Followern. Ist diese Fehlentwicklung, diese Verwandlung aller Menschen und Beziehungen in Waren (Freudomarxisten sprachen dabei von „Verdinglichung“) eine zwangsläufige Entwicklung innerhalb der Marktwirtschaft oder ist diese nur irgendwann im Laufe ihrer Entwicklung irgendwo falsch abgebogen?

Auch diese Entwicklung führe ich in erster Linie auf die Kultur des Interventionismus zurück. Kennenlernen bedeutet, jemanden kennen zu lernen. Das ist ein zeitraubender und schwieriger Vorgang mit ungewissem und häufig unerwünschtem Ausgang. Wer andere wirklich kennenlernen will, muss ihnen viel von der eigenen Zeit schenken. Er muss in Vorleistung treten, muss Opfer machen. Er muss bereit sein, sich selber in Frage zu stellen, sich selber anzupassen, damit die Berührung und die Auseinandersetzung mit dem mysteriösen Anderen gelingen kann. Der Literaturwissenschaftler und Kulturphilosoph George Steiner hat dieses Wagnis und seine Unwägbarkeiten vor etwa dreißig Jahren in einem schönen Buch mit dem Titel Von realer Gegenwart thematisiert.

Heute sind viele Jugendliche und junge Erwachsene unwillig – und zuweilen auch vollkommen unfähig – sich auf so etwas einzulassen. Tinder und andere Dating-Apps sind Erscheinungsformen ihrer Unwilligkeit und Unfähigkeit. Aber der Ursprung dieser Entwicklung liegt nach meinem Dafürhalten im Zusammenbruch des Familienlebens. In der Familie lernt man das Kennen-Lernen. Man lernt genau jene Fähigkeiten, Haltungen und Wertschätzungen, die dazu führen, Wege zum Anderen zu suchen, zu erkennen und zu bauen. Das beginnt mit den gemeinsamen Mahlzeiten, in denen Hören, Zuhören und Sprechen in ein subtiles Gleichgewicht gebracht werden mit der Nahrungsaufnahme und der Rücksichtnahme auf Autorität, Neugierde und anderen Dimensionen des Menschseins. Wo kein Familienleben mehr stattfindet, verkümmert diese Fähigkeit oder stirbt gar einen frühen Tod.

Viele politische Parteien, egal welcher Ausrichtung, versprechen ihren Wählern Karriere und Familie miteinander vereinbar zu machen. Aber kann die Arbeitsteilung der Familie überhaupt funktionieren, wenn keiner der Partner in Sachen Karriere zurücktritt? Obwohl der Feminismus ursprünglich die Wahlfreiheit der Frau erkämpfen sollte, haben die meisten Frauen eben nicht mehr wirklich die Wahl zwischen Familienleben und Arbeit. Nicht nur aus Geldgründen, sondern auch aufgrund sozialen Drucks. Die Feministin Betty Friedan bezeichnete dieses Phänomen als „feminist mystique“: Frauen werden nicht mehr ins Familienleben, sondern ins Arbeitsleben gezwungen. Sind ökonomische Maßnahmen denkbar, die Familien aus diesem Zwiespalt zwischen Familie und Karriere befreien könnten?

Ich habe leider keine Wunderlösung zu bieten. Die Wahl zwischen Familie und Karriere ist ein Dauerbrenner der weiblichen Existenz, und es wird wohl auch immer so bleiben. Und ich spreche hier ganz ausdrücklich von der weiblichen Existenz. Es ist bezeichnend und wird leider nicht oft genug gewürdigt, dass dieses Problem fast ausschließlich von Frauen als solches erkannt wird, während Männer den Frauen zwar in der Regel beipflichten, aber es kaum einmal selbst als ihr eigenes Problem anerkennen.

Natürlich gibt es einige wenige Frauen, denen die Quadratur des Kreises zu gelingen scheint. Aber es muss auch unterstrichen werden, wie viele Voraussetzungen bei diesen Damen zusammenkommen: viel Intelligenz, enormer Tatendrang, großes Organisationsgeschick und hohes Einkommen, um nur die wichtigsten zu nennen. Zudem kommen fast alle Wunderfrauen dieser Sorte aus gehobenen und sehr gehobenen sozialen Schichten. Die anderen Vertreterinnen des schönen Geschlechts, und das sind wohl mehr als 99 Prozent, müssen sich zwischen Familie und Karriere entscheiden. Und die Wahl für die Karriere setzt im Falle dieser Normal-Frauen voraus, dass sie einen Ehepartner finden, der sich um die Kinder kümmert. Oder sie führt dazu, dass sich eben keiner wirklich um die Kinder kümmert.

Aufgrund der schleichenden Verarmung, die nicht zuletzt dem wuchernden Interventionismus entspringt, wird es immer schwieriger, eine Familie mit einem einzigen Einkommen über Wasser zu halten. Immer mehr Frauen müssen daher arbeiten gehen. Gleichzeitig steigt der Altersunterschied zwischen den Generationen und die regionale Mobilität. Somit sind auch immer weniger Großeltern mehr da, um die Kinder anstelle der Mütter zu erziehen. Die Folge ist die schleichende Verwahrlosung der Mädchen und Jungen, von der wir zuvor sprachen.

Die Auswege aus diesem Schlamassel sind nicht einfach und nicht schnell. Aber sie setzen allesamt voraus, den Staat drastisch und nachhaltig zurückzustutzen. Wer aus einem selbstgegrabenen Loch herauswill, muss zunächst aufhören, immer weiter zu graben.

Herr Professor Hülsmann, vielen Dank für das Gespräch!


Zur Person:

Prof. Dr. Jörg Guido Hülsmann ist ein deutscher Ökonom und lehrt an der Universität Angers.

Hinweis: Dieses Interview wurde Sommer 2022 erstmalig im Konflikt Magazin veröffentlicht.