Ukraine: Abnutzungsschlacht im Luftkrieg

Während der Bodenkampf von Artillerieduellen, Stellungskrieg und Zermürbungstaktik geprägt ist, findet darüber eine weitere Abnutzungsschlacht im Luftkrieg statt. Auch hier herrscht im Ukrainekrieg die Unerbittlichkeit der Mathematik – trotz Improvisation, Einfallsreichtum und persönlicher Tapferkeit.

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Ukraine: Abnutzungsschlacht im Luftkrieg
Zwei Kampfflugzeuge der dänischen Luftwaffe vom Typ Lockheed Martin F-16 Fighting Falcon.© IMAGO / Björn Trotzki

Dröhnende Rotoren. Geringe Sicht. Beißende Kälte. Walfett und Fliegerjacken schützen leidlich. Unten verschwimmt die verwüstete Erde. Immer und immer wieder umgepflügt durch tausende Artilleriegranaten. Dem Gegner ergeht es nicht besser. Nach der Sichtung versuchen die Piloten einander auszumanövrieren, indem sie ihre Doppeldecker enge Kreise ziehen lassen. Die Erfindung des „Dogfights“. Der glückliche Überlebende kehrt auf seinen Feldflugplatz zurück, wo Mechaniker das Flugzeug warten und die Ordonnanz im Offizierskasino das späte Frühstück vorbereitet.

120 Jahre nach dem ersten Motorflug der Gebrüder Wright in Ohio und etwas mehr als 100 Jahre nach der Geburtsstunde des Luftkrieges liegen die Ähnlichkeiten nur noch im Bodenkampf – zumindest was die zweite Phase des Krieges in der Ukraine betrifft. Der Luftkrieg, auch der bemannte, ist ein dreidimensionales Schachspiel auf mehreren Feldern: Daten, elektronische Kampfführung, Täuschung und Gegentäuschung entscheiden das Gefecht. Ritterlichkeit oder „Fair Play“ unter Gentlemen sind Schwerpunktbildung und „Salvenmodellen“ gewichen.

Dabei ist der Luftkrieg zwischen der Ukraine und Russland keineswegs ausschließlich „Beyond Visual Range“, also außerhalb der Sichtweite. Vor allem die Ukrainer sind noch auf „Within Visual Range“, innerhalb der Sichtweite, angewiesen. „Fire and Forget“ (Feuern und Vergessen) können nur die Russen. Und keine Seite setzt Tarnkappenflugzeuge ein. Man stelle sich angesichts dessen die Komplexität eines Luftkrieges zwischen den USA und China vor. Oder besser nicht. Mathematik, Physik und Informationstechnologie mögen den Luftkrieg der Zukunft entscheiden, aber die Männer finden ihr Grab immer noch in Särgen aus deformiertem Metall.

Die Amerikaner und die Briten zeigen sich derweil beeindruckt von der Aufrechterhaltung der Luftkampffähigkeit durch die Ukrainer. Diese nutzen angesichts der russischen Überlegenheit das Konzept des „Agile Combat Employment“ (ACE). Rasche Verlegung und flexible Dislozierung (Verteilung) der Kampfflugzeuge auf eine ausreichende Anzahl von Landebahnen. Auch Straßen und Autobahnabschnitte werden genutzt, um dem russischen Feuer kein Ziel zu bieten. Ein ähnliches Konzept verfolgte die NATO während des Kalten Krieges, und die USA ziehen daraus ihre Lehren für das zukünftige Gefechtsfeld Indopazifik, denn China verfügt ebenfalls wie Russland über eine große Zahl von Distanzwaffen.

Bittere Lehre für NATO: Bedeutung von SAM-Systemen nimmt zu

General James Hecker von der US Air Force betont die Bedeutung von Surface-Air-Missiles (SAM), also Boden-Luft-Raketen. Diese hätten dafür gesorgt, dass keine Seite die Luftüberlegenheit erlangen konnte – eine wichtige Lektion auch für die NATO, die seit dem Ende des Kalten Krieges die Boden-Luft-Abwehr vernachlässigt hat. Bisher hatte sie immer die Luftüberlegenheit, wenn nicht gar die Luftherrschaft.

Russland verlor in der ersten Phase des Krieges mindestens 75 seiner 550 Kampfflugzeuge und musste seine Taktik ändern. Mit Ausnahme der Kampfhubschrauber und der Erdkampfflugzeuge SU-25 Frogfoot für die Luftnahunterstützung (Close Air Support) fliegen die Russen ihre Einsätze überwiegend nachts. Marschflugkörper und ballistische Raketen – wie etwa die Hyperschallrakete Kinschal Kh-47 – werden aus sicherer Entfernung von Plattformen wie Schiffen, U-Booten oder aus dem eigenen Luftraum abgefeuert. Die MiG-31 Foxhound wurde modifiziert, um eine solche Waffe tragen zu können. Die Präzision von Distanzwaffen erlaubt es sogar, einzelne am Boden stationierte Flugzeuge zu treffen. Hinzu kommt der Einsatz von Einwegdrohnen wie der iranischen Shahed.

Zu Beginn des Krieges flog die russische Luftwaffe noch relativ wenige Einsätze. Die so genannte „Sortie rate“ liegt bei 200 bis 300 Einsätzen pro Tag, davon etwa 30 Angriffe pro Tag auf Bodenziele. Der Ukraine ist es wiederum gelungen, Teile der bodengestützten Luftabwehr aufrechtzuerhalten. Sie verfügten zwar nicht über einen lückenlosen Schirm, aber die Russen konnten zu keinem Zeitpunkt ungestört agieren. Die Stützen der Luftabwehr waren SAM-Systeme aus Sowjetzeiten und Manpads – schultergestützte Boden-Luft-Waffen, die hauptsächlich aus dem Westen stammen, wie Stinger und Starstreak.

Letztere sind sehr wirksam gegen SU-25 und Kampfhubschrauber, aber ungeeignet gegen höher und schneller fliegende Ziele. Hierfür sind die S-300 und Buk SAM-Systeme vorgesehen, wobei die S-300 sehr präzise ist, aber anfällig bei Gegenschlägen, ob der geringen Mobilität. Über diese verfügt wiederum Buk. Um die laufenden Verluste auszugleichen, die beispielsweise durch SU-35 mit Kh-31 Anti-Radar-Raketen verursacht werden, hat der Westen moderne SAM-Systeme wie Patriot, NASAMS oder Iris-T SLM geliefert. Das norwegische System NASAMS schützt beispielsweise die amerikanische Hauptstadt Washington DC vor Terror- oder Luftangriffen. Und die Patriots können gegnerische ballistische Raketen abfangen. Generell sind bodengestützte Systeme geeigneter als Abfangjäger, um Drohnen, Marschflugkörper oder Raketen abzufangen.

Um russische SAM-Systeme wie das moderne S-400 zu bekämpfen, die den Großteil der Ukraine abdecken, wurden ukrainische Flugzeuge für den Einsatz von AGM-88 HARM Anti-Radarraketen oder Taurus-Marschflugkörpern umgerüstet. Letztere sind für die wenigen SU-24 Fencer vorgesehen. Die beiden Haupttypen der Ukrainer sind die MiG-29 Fulcrum für Air-Air- und Air-Ground-Missions und die SU-27 Flanker für Air-Air-Missions.

Trotz der technologischen Überlegenheit der russischen Luftstreitkräfte erfordert der hohe Verbrauch an Distanzwaffen – bis Mai 2022 wurden rund 2.100 Abstandswaffen abgefeuert – den Rückgriff auf alter Taktiken und Improvisation. Strategische und schwere Bomber wie die TU-95 Bear oder die TU-22 Backfire führen Flächenbombardements durch. Freifallbomben werden durch „Toss up“-Taktik in der Reichweite gesteigert. Fliegerabwehrraketen werden auf Bodenziele abgefeuert und Kh-22 aus den 1960er-Jahren kommen zum Einsatz.

Russlands Überlegenheit bei ELOKA, Fire and Forget, BVR

Russland ist auch bei der ELOKA überlegen, was die Ortung erschwert. Umgekehrt können die Russen in Weißrussland, im Osten und im Süden A-50 Frühwarnflugzeuge einsetzen. Diese verfügen im Gegensatz zu bodengestützten Radarsystemen über ein „Lookdown“-Radar. Damit können auch tieffliegende Ziele erfasst werden. Zudem kann Russland startende ukrainische Flugzeuge schnell identifizieren. Dabei sind sie auf die Daten der E-3 Sentry AWACS-Radarflugzeuge der NATO angewiesen.

Die Jagd auf Kampfhubschrauber, deren Einsatz Russland sehr intensiv betreibt, übernehmen die Abfangjäger auf die klassische Methode WVR und mit Infrarotraketen oder Bordkanonen. 35 Ka-52 Alligator haben die Russen bereits verloren. Andererseits können sie mit der zahlenmäßigen Überlegenheit ihrer SU-30 und SU-35 mit „Fire and Forget“-Waffen die ukrainischen Jäger im Verhältnis 1:12 bzw. 2:24 stark unter Druck setzen.

Das Fehlen von „Fire and Forget“-Waffen und die zu geringe Radarreichweite der veralteten MIG-29 und SU-27 ist eines der größten Probleme. Die Ukrainer hoffen, dieses Problem mit Hilfe der F-16 Viper lösen zu können. Nach langem Abwarten liefern die Niederlande nun 42, Dänemark 19 und Norwegen fünf bis zehn F-16. Die Ausbildung wird einige Monate dauern. Einzelne Piloten können relativ rasch umgeschult werden, aber es nimmt einige Zeit in Anspruch, eine ganze Staffel von einem neuen Waffensystem aufzubauen.

Möglicherweise können die F-16 den Luftkrieg zugunsten der Ukraine verschieben. Aber die USA werden kein Interesse daran haben, ihre Viper in eine Abnutzungsschlacht zu werfen. Die Bilder ausgebrannter F-16-Wracks könnten eine ähnlich negative Wirkung entfalten wie die Bilder toter GIs, auch wenn sie von europäischen Verbündeten geliefert werden. Daher wird sich ihre Rolle wahrscheinlich auf das Schließen von Fähigkeitslücken bei „Fire and Forget“ und BVR ohne allzu riskante Einsätze beschränken.