Stadt-Land-Differenz

Urbanität als metapolitische Machtressource

In seinem Kommentar hält Daniel Fiß fest, dass sich in der Stadt-Land-Differenz ein entscheidender Mangel an Mobilisierungspotentialen für das rechtskonservative Parteienspektrum zeigt, wodurch Mehrheiten und Machtzugriffe für Parteien aus diesem Spektrum blockiert werden.

Daniel Fiss
Kommentar von
22.3.2023
/
6 Minuten Lesezeit
Urbanität als metapolitische Machtressource
Daniel Fiß

Während die AfD über die letzten Monate im Bundestrend als auch in den meisten Ländern ihre Umfragewerte deutlich nach oben schrauben konnte, zeigte sich bei der vergangenen Abgeordnetenhauswahl in Berlin ein etwas anderes Stimmungsbild. Mit 9,1 Prozent und einem Zuwachs von lediglich 1,1 Prozent (der sich aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung in den absoluten Stimmen sogar zu leichten Verlusten neutralisiert) war das Ergebnis eher ernüchternd.

Anfang März erreichte in Frankfurt der AfD-Oberbürgermeisterkandidat Andreas Lobenstein gerade einmal 2,3 Prozent. Im November letzten Jahres schaffte der Rostocker AfD-Kandidat bei der Oberbürgermeisterwahl ein Ergebnis von gerade einmal 6,5 Prozent, obwohl die Partei im entsprechenden Bundesland Mecklenburg-Vorpommern bei 20 Prozent liegt. In der sächsischen Landeshauptstadt Dresden kam der AfD-Bewerber Maximilian Krah letztes Jahr auf gerade einmal 12,2 Prozent, während die AfD in Sachsen generell in Umfragen bereits knapp 30 Prozent erreicht.

Selbstverständlich gibt es andere Beispiele wie die Städte Cottbus in Brandenburg oder Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen, wo die AfD in einem urbanen Gebiet besser performt als im Landesdurchschnitt. In der generellen Perspektive konnte die Wahlforschung jedoch ein recht eindeutiges geographisches Muster einer Stadt-Land Diskrepanz innerhalb der AfD-Anhängerschaft nachweisen. Durchschnittlich liegen die Stimmenanteile in ländlichen Regionen für die AfD um drei bis vier Prozent höher als im Vergleich zu den Städten.

Ein ähnliches Bild zeigt sich auch auf internationaler Ebene. In Frankreich lässt sich klar zeigen, dass sich bei der letzten Präsidentschaftswahl die Stimmenanteile für Emmanuel Macron insbesondere in den urbanen Ballungsgebieten verdichten, während sich LePen und der Rassemblement National (RN) in den ländlichen Räumen festsetzen.

Noch deutlicher wird der Stadt-Land-Gegensatz im politischen Spannungsfeld zwischen den Republikanern und Demokraten in den Vereinigten Staaten. Die Wahlkarten zeigen dort stets ein rotes Meer, mit lediglich einigen blauen Inseln, die allesamt größere Städte abbilden.

Diese Beispiele verdeutlichen für das gesamte rechtskonservative Lager im Westen eine entscheidende strukturelle Problemlage, die vielen zwar bewusst sein mag, aber in ihrer tatsächlichen Dimension noch nicht vollends erkannt wurde. Fläche und Land sind nicht synonym mit politischen Mehrheiten. Eine banale Erkenntnis, die aber aufzeigt, dass sich die Machtkonfigurationen innerhalb der westlichen Parteisysteme immer stärker anhand der demographischen Verhältnisbeziehungen zwischen Stadt und Land ausrichten. Die Stadtbevölkerung wird zur entscheidenden Mobilisierungsbatterie und kann somit demoskopische Zuwächse in der Landfläche vollends neutralisieren.

77 Prozent der deutschen Bevölkerung lebt in Städten. Nur 15 Prozent in kleineren Dörfern oder Gemeinden unter 5.000 Einwohnern. Bis 2040 prognostizieren die meisten demographischen Modelle einen weiteren Zuwachs rund um die großen städtischen Metropolregionen, während die ländlichen Räume, vor allem im Osten, immer weiter ausdünnen. Das Durchschnittsalter in ländlichen Gebieten liegt im Schnitt drei bis vier Jahre höher als in den Großstädten. Zusätzlich potenziert wird diese Entwicklung durch eine stetige Zuwanderung von überwiegend jungen Männern zwischen 29 bis 35 Jahren, die es vor allem in die urbanen Regionen zieht.

In der Stadt-Land-Differenz zeigt sich für das rechtskonservative Parteienspektrum ein entscheidender Mangel an Mobilisierungspotentialen, die ihnen Mehrheiten und Machtzugriffe blockiert. Das rechte Lager kann den ländlichen Raum dominieren und die Polarisierung zum kosmopolitisch-linksliberalen Großstadtmilieu zuspitzen. Die elektoralen Größenverhältnisse verschieben und verfestigen sich aber eindeutig in die urbanen Zentren und werden immer deutlicher von linken Mehrheiten bestimmt.

Dass die Städte überwiegend von mitte-links Parteiblöcken regiert werden, ist keine Neuigkeit und in den letzten Jahren konnten die Unionsparteien auch einige Rathäuser zurückerobern. Bis vor einigen Jahren besetzte die CDU kaum Bürgermeisterämter in Städten über 100.000 Einwohnern. Rechte Parteien bleiben in diesen Regionen ohnehin meist recht abgeschlagen unter zehn Prozent der Wählerstimmen.

In der Nachkriegssoziologie ging man ab den 50er-Jahren davon aus, dass sich die Stadt-Land-Unterschiede im Zuge der neuen Sozialstruktur einer „nivellierten Mittelschichtsgesellschaft“ zunehmend angleichen würden. Die neuen Konsum- und Wohlstandsmilieus würden allen Menschen neue Aufstiegsperspektiven eröffnen und von einer einfachen Industriearbeiterschaft geprägt sein, in der die vormaligen sozioökonomischen Klassenunterschiede und Lebensverhältnisse aufgelöst und auf ein grundsolides mittleres Niveau zusammengestampft werden.

Ab den 80er- bis in die 2000er-Jahre fallen vor allem die arbeitsweltlichen Sozialmilieus durch die fortschreitende Bildungsexpansion, der postmateriellen Neuorientierung und den ersten größeren Globalisierungsprozessen zunehmend auseinander. Neue Konfliktachsen zwischen traditionellen Industriearbeitern im verarbeitenden Gewerbe und einer neuen Wissens- und Informationsökonomie entstehen, die erwerbsbiographische Status- und Prestigepositionen völlig neu ordnen. In diese neuen sozialen Polarisierungen hat sich unter anderem auch die neue Stadt-Land-Diskrepanz als übergeordnete Chiffre eines neuen Milieukonflikts eingeschrieben.

Die Städte waren schon immer wirtschaftliche und kulturelle Gravitationszentren. Der ökonomische und soziokulturelle Lebensimpuls einer Großstadt entsteht laut dem Volkswirt Lukas Haffert insbesondere durch das Dreieck von gut ausgebildeten Arbeitsfachkräften, innovativen und produktiven Firmen, sowie leistungsstarken Universitäten. Dies sind Faktoren, die sich schließlich auch auf das kulturelle und intellektuelle Umfeld der Städte auswirken und sogenannte Agglomerationseffekte auslösen und weitere ähnliche Milieus anziehen, die in das städtische Leben spezifische Selbstverwirklichungsoptionen hineinprojizieren.

Progressiv-urbane Lebensmilieus und Kreativklassen in höheren Einkommensbranchen bereiten letztendlich den Boden für ein erweitertes kulturelles Angebot aus Museen, Buchhandlungen, Theatern, Cafés und Bars, in dem sich heute auch konkrete linksideologische Koordinaten widerspiegeln. Ehemalige Industriestädte schaffen nur dann noch den Anschluss, wenn sie ihre städtischen Lebensbedingungen und Infrastrukturen entsprechend an die Bedürfnisse der modernen Akademikermilieus anpassen.

Das Gefälle zwischen Stadt und Land, das sich zunächst eher in einer Spaltung von wirtschaftlichen Wachstumsperspektive, Infrastruktur und Berufsbranchen ausdrückte, verschärft sich nun auch auf der Ebene kultureller und politischer Konflikte. Haffer zeigt in seinem Buch „Stadt-Land-Frust“, dass wir heute insbesondere im ideologischen Gegensatzpaar zwischen Grünen und AfD zwei Parteien beobachten können, deren Unterschiede eine außerordentliche Exklusivität in der geographischen Profilierung ihrer Wählerschaften ausmachen.

Städte sind somit auch entscheidende metapolitische Kraftzentren mit entsprechender kultureller, und zeitgeistformender Ausstrahlungskraft. Die ideologischen Produktionsstätten sind die Theater, Universitäten, Medienstationen, Lobby-Verbände, PR-Agenturen und NGOs, deren Vernetzungsdichte sich natürlich auf die urbanen Zentren komprimiert. Mit der rein strukturell wachsenden elektoralen Bedeutung und gleichzeitigen metapolitischen Wirksamkeit  werden die Städte im politischen Wettbewerb um demokratische Mehrheiten der dominante Faktor bleiben.

Braucht das rechte Lager eine Großstadtoffensive?

Grundsätzlich gilt im 1x1 der politischen Mobilisierung, auf jene Milieus zu setzen, die auch die programmatische und ideologische Markenidentität einer Partei auszeichnen. Das heißt, in Kampagnen gilt es zuvorderst die eigene Stammwählerschaft maximal zu mobilisieren und mögliche Zusatzpotentiale zu identifizieren, die sich vom Habitus, Lebensstil und Weltanschauung in ähnlichen Zielgruppenclustern bewegen. Die AfD kann beispielsweise den Stadt-Land-Konflikt als repräsentative Kraft der vergessenen Dorf- und Kleinstadtbewohner zuspitzen und noch unausgeschöpfte Potentiale in der Peripherie adressieren. Von diesem Standort kann sie sich verankern und politische Fundamente gießen, die sich dann einer politischen Kraftprobe gegen die Dominanz der Städte stellt. Der ideologische und kulturelle Machtapparat ist aber nun einmal verhältnismäßig stärker in den urbanen Regionen angesiedelt.

Ein Dilemma, bei dem man mit großen Image- und Kampagnenoffensiven innerhalb von Großstädten entweder im luftleeren Raum operiert oder sich im Fokus auf das ländliche Stärkenprofil gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner zu Tode strampelt. Ich denke, man muss die Erwartungen an eine potentielle Neuerfindung der AfD als urbane Großstadtpartei nicht allzu hoch ansetzen. Die linken Festungen in den Städten werden sich mittelfristig stabil halten. Dennoch müssen die AfD und andere rechte Parteien durchaus den metapolitischen Wert der kulturellen und intellektuellen Infrastruktur der Städte verstehen. Das bedeutet auch ein visionäres Angebot an einen städtischen Patriotismus im 21. Jahrhundert zu unterbreiten und gezielt kleinere Widerstandsinseln innerhalb der eigenen Kernmilieus aufzubauen, die sich selbstverständlich auch zu kleineren Anteilen in den Städten wiederfinden.


Zur Person:

Daniel Fiß, geboren 1992 in Rostock, studierte sechs Semester Good Governance und Politikwissenschaft an der Universität Rostock. Von 2016 bis 2019 war er Bundesleiter der Identitären Bewegung Deutschland. Seit 2017 betreibt er als selbstständiger Unternehmer eine eigene Grafikagentur. Fiß befasst sich intensiv mit den Fragen politischer Kommunikation und ihrer Wirkung und ordnet diese in grundlegende strategische Fragestellungen des rechtskonservativen Milieus ein. Seit 2020 betreibt er dafür den Feldzug Blog, in dem er sich regelmäßig Analysen zu Demoskopie, politischer Soziologie und Kommunikation widmet.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.