Autor Thierry Meyssan: „Die unipolare Weltordnung ist tot“

Thierry Meyssan hat am 4. November 2023 auf der Compact-Konferenz „Frieden mit Russland“ zum Völkerrecht referiert. FREILICH hat mit dem Chefredakteur des Nachrichtennetzwerks Réseau Voltaire über den Nahostkonflikt, Islamismus und die „regelbasierte Ordnung“ als Herrschaftsinstrument der USA gesprochen.

Interview von
13.11.2023
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6 Minuten Lesezeit
Autor Thierry Meyssan: „Die unipolare Weltordnung ist tot“
Meyssan trat Anfang November bei der Compact-Konferenz als Redner auf.© Screenshot YouTube

FREILICH: Warum haben Sie den Namen „Réseau Voltaire“ (deutsch: Netzwerk Voltaire) gewählt? Etwa um gegen den religiösen Fanatismus zu kämpfen?

Thierry Meyssan: Um gegen die Vorstellungen mancher Leute anzukämpfen, die glauben, sie wüssten am besten, was für andere gut ist. Und dann kennt jeder Voltaire. Voilà, deshalb drückt dieser Name unser Denken gut aus.

In Deutschland gibt es zwei Parteien, die nicht auf Konfrontationskurs zu Russland stehen: Die AfD und das neugegründete „Bündnis Sarah Wagenknecht“. Wie sieht die Situation Frankreich aus?

Manchmal sind die Parteien für Russland. Aber ich glaube, dass derzeit alle französischen Parteien den russischen Spezialeinsatz in der Ukraine verurteilen. Es gibt nur zwei kleine Ausnahmen: Die Union Populaire Républicaine von François Assileneau. Aber Assileneau hat bei den letzten Präsidentschaftswahlen, glaube ich, nur etwa ein Prozent bekommen. Dann gibt es noch eine weitere Partei, die aber noch nie ein Mandat errungen hat. Die politische Klasse Frankreichs neigt dazu, sich geschlossen hinter die USA zu stellen.

Sagte nicht der französische Präsident Macron, man solle ein internationales Sicherheitssystem schaffen, das auch die Interessen Russlands berücksichtigt?

Ja, das ist eine sehr weise Aussage. Leider hat er bei anderen Gelegenheiten das Gegenteil gesagt. Er ist jetzt einfach jemand, der keine feste Position hat. Jemand, der seine Aussagen den jeweiligen Gesprächspartnern anpasst.

In Großbritannien haben Moslems kürzlich eine eigene Partei gegründet. Könnte dies zu einem Bruch zwischen dem Bündnis der linken Labour-Partei mit den britischen Moslems führen? Wäre so eine Entwicklung auch in Frankreich denkbar?

Das britische Problem ist nicht mit dem französischen vergleichbar. Großbritannien unterstützt die Muslimbruderschaft seit etwa 75 Jahren. Großbritannien befindet sich in dieser Frage also in einem permanenten Widerspruch. Gut, es gibt jetzt eine muslimische Partei. Aber die wichtigste muslimische Partei ist die von König Charles. Er ist der Gründer eines Colleges an der Universität Oxford, das unter der Leitung des saudischen Geheimdienstes steht. Dort tummeln sich seit der Gründung alle möglichen Strippenzieher der Muslimbruderschaft. Die Saudis kooperieren zwar nicht mehr mit der Muslimbruderschaft, aber das Zentrum für Islamische Studien in Oxford arbeitet weiter mit ihr zusammen.

Glauben Sie, dass das Bündnis zwischen dem Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon und den französischen Moslems weitergeht?

Leider ja (lacht). In Frankreich würde eine Partei, die sich nur auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe stützt, gegen den republikanischen Geist verstoßen.

Putin macht die politischen Eliten der Vereinigten Staaten für den Krieg zwischen der Hamas und Israel verantwortlich. Der Westen sieht die Verantwortung hingegen bei der Hamas. Was denken Sie über den Nahostkonflikt?

Objektiv betrachtet darf man sich nicht auf die jüngsten Ausbrüche des Konflikts beschränken. Der Konflikt besteht seit der unilateralen Proklamation des Staates Israel. Die Vereinten Nationen hatten damals eine Ein-Staaten-Lösung mit zwei Nationen vorgesehen. Es hätte also einen jüdischen und einen arabischen Teil gegeben. Aber David Ben Gurion hat die Unabhängigkeit Israels ausgerufen, und die Unabhängigkeit Palästinas ist nie ausgerufen worden. Blickt man nun auf diesen Moment zurück, dann stellt man fest, dass die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich eine große Mitschuld an diesen Konflikt tragen.

Wenn man sich damit begnügt, lediglich die jüngsten Konfliktausbrüche zu betrachten und die Augen vor all den zuvor getöteten Palästinensern verschließt, wenn man über ihre Gräber hinwegschreitet und ihnen vor die Füße spuckt, dann kann man sagen: Ja, die Hamas ist tatsächlich eine Terrororganisation. Sie hat Israel am 7. Oktober angegriffen, und Israel hat das Recht, sich gegen diesen Terrorangriff zu verteidigen. Aber 400 Kinder an einem Tag zu töten, das hat mit Verteidigung gegen Terroristen nichts mehr zu tun.

Wir sehen die Umsetzung eines sehr alten Plans, die Menschen aus Gaza zu vertreiben. Es ist auch gut möglich, dass bei den jetzigen Bombardements Substanzen eingesetzt werden, die das Gebiet völlig unbewohnbar machen sollen. Die Menschen in Gaza werden gehen müssen, weil es dort nicht mehr möglich ist, zu leben. Genau davon sprach der 2014 verstorbene Militärberater Ariel Scharon: Es sei besser, so Scharon, den Gazastreifen unbewohnbar zu machen, als die ganze Bevölkerung abzuschlachten.

Doch was soll mit den Menschen geschehen? Die Regierung Netanyahu will sie auf die ägyptische Sinai-Halbinsel schicken. Die Ägypter wollen das verständlicherweise nicht. Wenn Sie zwei Millionen Menschen vertreiben, von denen mindestens 600.000 der Hamas nahestehen, würden Sie diese Menge potenzieller Terroristen aufnehmen? (lacht) Völlig unmöglich!


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Niemand weiß, was mit all diesen Menschen geschehen soll. Die USA haben den Ägyptern 135 Millionen Dollar Entschädigung angeboten, wenn sie alle Araber aufnehmen. Die Israelis denken darüber nach, die Palästinenser zu verteilen, sie in verschiedene Länder wie Kanada oder Libyen zu schicken. Wenn Sie das akzeptieren und Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufnehmen, dann würde sich unter einem von dreien jemand befinden, der den Terrorismus unterstützt.

Im Gegensatz zu dem, was in den westlichen Zeitungen steht, wurde dieser Angriff nicht von der Hamas allein durchgeführt. Es war ein Angriff der Hamas, des Islamischen Dschihad und der Volksfront für die Befreiung Palästinas. Mit Ausnahme der Fatah hat hier der gesamte palästinensische Widerstand gehandelt. Das hat es seit fünfzig Jahren nicht mehr gegeben. Dieses Ereignis und die Einheit des palästinensischen Widerstands sind von großer Bedeutung. Die Tatsache, dass die Hamas als palästinensischer Zweig der Muslimbruderschaft eine Terrororganisation ist, die sich unanständig verhält, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Angriff den gesamten palästinensischen Widerstand repräsentiert. Die Kämpfer des Islamischen Dschihad und der Volksfront für die Befreiung Palästinas haben sich sehr anständig verhalten. Dies wurde auch von befreiten israelischen Geiseln bestätigt. Diese sagten, dass es sich bei den Geiselnehmern um sehr anständige Menschen handele.

Israel hat sich in der Vergangenheit dank amerikanischer Unterstützung gegen seine Nachbarn stets durchsetzen können. Glauben Sie, dass die aktuelle Situation mit dem Umbruch des internationalen Systems anders sein könnte?

Ich glaube, dass die Situation seit der Entscheidung eines UN-Komitees für die Rechte des palästinensischen Volkes vom 15. Mai 2023 eine völlig andere ist. In dieser wenig beachteten Entscheidung wurde Israel aufgefordert, die Rechte Palästinas zu respektieren, zu deren Anerkennung es sich in einem Brief vor seinem Beitritt zu den Vereinten Nationen verpflichtet hatte. Gegenwärtig verstößt Israel gegen mehrere Verpflichtungen aus diesem Brief. In der UN-Entscheidung heißt es, dass Israel entweder diesen Brief umsetzen oder als UN-Mitglied suspendiert werden soll. Vor diesem Hintergrund wurde die palästinensische Widerstandsaktion gestartet.

In Ihrer Rede haben Sie vom internationalen System und von der „regelbasierten Ordnung“ gesprochen. Wie unterscheiden sich diese beiden Konzepte?

Das Konzept des Internationalen Rechts besagt, dass Gesetze nur für diejenigen gelten, die ihnen zugestimmt haben. Wer diese Gesetze akzeptiert hat, muss sie auch anwenden. Konflikte können dann durch ein Schiedsgericht gelöst werden. Die regelbasierte Ordnung ist etwas ganz anderes, weil diese Regeln nirgendwo festgeschrieben sind.

In Wirklichkeit werden diese Regeln von den USA diktiert, und nur von den USA. Die USA ändern die Regeln nach Belieben, sie sind niemandem Rechenschaft schuldig. Sie zwingen diese Regeln der ganzen Welt auf. Entweder man akzeptiert ein System, das die Souveränität aller respektiert, oder man wählt ein imperialistisches System.

Können Sie ein Beispiel für die regelbasierte Ordnung geben?

Da sind die Sanktionen, die die USA regelmäßig verhängen. Die aktuellen Sanktionen gegen Russland gehören zum System der regelbasierten Ordnung. Sie basieren auf dem Recht des Stärkeren. Laut internationalem Recht sind sie aber illegal. Nach internationalem Recht sind nur Sanktionen wirksam, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen wurden. Sanktionen sind Waffen. Die USA führen damit einen Wirtschaftskrieg.

Glauben Sie, dass die Entstehung einer multipolaren Weltordnung, die derzeit herrschende unipolare Weltordnung ersetzen könnte?

Ich glaube, es gibt schon keine unipolare Ordnung mehr. Dieses System ist tot. Es funktioniert nicht mehr.

Die regelbasierte Ordnung ist tot?

In einigen Regionen gibt es sie noch, aber es ist ein ständiger Kampf. Viele Länder wie Venezuela oder der Iran beugen sich dem nicht mehr. Sie leiden zwar sehr unter den Folgen, aber sie ändern ihre Meinung nicht.

Monsieur Meyssan, vielen Dank für das Gespräch!


Zur Person:

Thierry Meyssan ist ein französischer Autor und politischer Aktivist. Er hat zahlreiche Bücher zu Fragen der Geopolitik und der verdeckten Kriegsführung geschrieben und ist mit seiner Webseite voltairenet.org seit 20 Jahren eine starke Stimme gegen die NATO sowie den amerikanischen und den französischen Imperialismus. Seit 2004 lebt er wegen Morddrohungen vorwiegend im Exil in der syrischen Hauptstadt Damaskus.

Das Interview wurde auf Französisch geführt und von Jonas Greindberg für FREILICH übersetzt.