Von der politischen Wirksamkeit des Mythos: Zum Tod des Ägyptologen Jan Assmann

In der Nacht vom 18. auf den 19. Februar verstarb mit Jan Assmann einer der bedeutendsten Intellektuellen Deutschlands. Mehrfach prägte er mit seinen Theorien den öffentlichen Diskurs. Als renommierter Ägyptologe, Kultur- und Religionswissenschaftler bestand dessen Hauptthese in der Annahme, Gruppen und Gemeinschaften – also nicht nur Individuen – seien im Besitz einer lebendigen Erinnerung. In dieser spiele der Mythos als politisch wirksame Erinnerungsfigur eine zentrale Rolle. Seine Thesen riefen großen Widerhall hervor. Leben und Wirken sollen an dieser Stelle einen kurzen Nachruf erfahren.

Kommentar von
4.3.2024
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Von der politischen Wirksamkeit des Mythos: Zum Tod des Ägyptologen Jan Assmann
Jan Assmann ist vor zwei Wochen in Konstanz verstorben.© IMAGO / Christian Spicker

Geboren am 7. Juli 1938 in Langelsheim im Harz, wuchs Assmann während des Zweiten Weltkrieges in Lübeck auf. Als Schüler galt seine ganze Leidenschaft der Musik. Nach dem Abitur orientierte er sich jedoch um und studierte Archäologie und Ägyptologie. Die Liebe zur Musik blieb jedoch bestimmend in seinem Leben: Seine Dissertation zum Thema „Altägyptische Hymnik“ war eine brillante Verbindung von Beruf und Leidenschaft. Nach seiner Promotion lehrte er von 1976 bis 2003 Ägyptologie an der Universität Heidelberg. Im Jahr 1992 veröffentlichte Assmann unter dem Titel „Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“ sein Hauptwerk, das man als epochemachend bezeichnen kann. Ich möchte Assmanns These mit einem Gedankenexperiment illustrieren:

Ein völlig isolierter Mensch hätte ohne den Austausch mit anderen wahrscheinlich gar kein Gedächtnis im engeren Sinne. Ihm würde alles fehlen, was andere ihm spiegeln, berichten, erzählen und als bedeutsam bestätigen könnten. Ihm würde eine wesentliche Grundlage seines Selbstbewusstseins fehlen. Auch wenn nur der Mensch an sich ein organisches Gedächtnis hat, so wird es doch durch die ihn umgebende Gemeinschaft geprägt. Der Ägyptologe Jan Assmann sprach deshalb von einem übergeordneten gemeinschaftlichen oder kulturellen Gedächtnis, das die Gedächtnisse der Angehörigen einer Gruppe oder Gemeinschaft prägt.

Das kulturelle Gedächtnis ist aber kein Speicher im Sinne eines Datenträgers, es kann Geschichte nicht als solche faktentreu bewahren. Es gerinnt vielmehr, so Assmann, zu Erinnerungsfiguren. Die wichtigste: der Mythos.

Eine grundlegende Erzählung, die die Gegenwart vom Ursprung her erhellen und damit als sinnvoll, gottgewollt, notwendig, unabänderlich oder schicksalhaft erscheinen lassen soll.

Die so erinnerte und zum Mythos gewordene Geschichte wird aber nicht unwirklich, sondern als Mythos besonders wirkmächtig. Denn er bildet das identitätsstiftende oder -sichernde Wissen der Gemeinschaft und veranlasst sie so, den Worten Taten folgen zu lassen.

So kann auch der Mythos in Form eines antiken Heldenliedes Antworten auf die Fragen geben, wer wir sind, woher wir kommen, wo wir stehen und was wir tun sollen.

Assmann bezeichnete die Verwandlung von erinnerter Geschichte in einen Mythos und dessen anschließende Wirkung auf die Gemeinschaft als Mythomotorik.

Manche Mythen sind Gründungsmythen, sie erzählen z.B. von einem Ereignis, von dem an sich eine Gruppe als Volk oder Nation – als Ethnos – versteht. Man denke an den Rütlischwur der Eidgenossen, ein Nationalmythos, der eng mit der Sage von Wilhelm Tell verbunden ist.

Mythen können aber auch, so Assmann, „kontrapräsentisch“ wirken. Sie machen dann auf das Fehlende, das Verschwundene, das Verlorene, den Bruch zwischen Damals und Heute aufmerksam. Sie zeigen damit die gegenwärtige Schwäche und den Verfall auf.

Ist das Verlustgefühl sehr stark und wird die durch die Mythenerzählung wahrgenommene Diskrepanz zwischen heroischer Vergangenheit und trauriger Gegenwart unerträglich, kann die Mythomotorik unter den Bedingungen von Fremdherrschaft, Unterdrückung oder Niederlage subversiv und revolutionär, buchstäblich zurückwälzend, wirken und zum politischen Handeln aufrufen.

Der Mythos lebt, er ist politisch wirksam und seine Relevanz für die politische Auseinandersetzung sollte – das lehrt Assmanns Werk – mehr Beachtung finden.

Mit seiner Dissertation über das kulturelle Gedächtnis endete Assmanns wissenschaftliche Tätigkeit jedoch nicht. 2003 wechselte er an die Universität Konstanz. Im selben Jahr erschien das Buch „Die mosaische Unterscheidung“, das als Assmanns zweitwichtigstes Werk gilt. Darin formuliert er die These, dass mit dem Aufkommen der monotheistischen Religionen eine Phase zunehmender religiöser Intoleranz und Gewalt begann.

Jan Assmann schrieb nicht nur für ein wissenschaftlich gebildetes Publikum, sondern passte Stil und Aufbau seiner Werke einer breiten Leserschaft an. Nicht nur deshalb verkörperte der Gelehrte in besonderem Maße die klassische deutsche Hochschultradition, die der Kulturwissenschaftler Peter Watson in „The German Genius“ (2010) würdigte.


Zur Person:

Joachim Paul ist Abgeordneter für die AfD im Landtag Rheinland-Pfalz. Er interessiert sich für die Digital- und Bildungspolitik.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.