Ryvkin über den verstorbenen Nawalny: „Uns verbindet ein unverhohlener Groll“

Mitte Februar starb der russische Oppositionelle Alexej Nawalny in einem Straflager. Vor wenigen Tagen wurde er unter großer Anteilnahme mehrerer tausend Menschen in Moskau beigesetzt. In seinem Kommentar für FREILICH geht der Autor Ilia Ryvkin auf die Umstände von Nawalnys Tod ein, skizziert seinen politischen Werdegang und erklärt, was ihn zuletzt mit Nawalny verband.

Kommentar von
6.3.2024
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6 Minuten Lesezeit
Ryvkin über den verstorbenen Nawalny: „Uns verbindet ein unverhohlener Groll“
Trauerkundgebung in Polen© IMAGO / ZUMA Wire

„Das sind die besten Menschen des Landes“, sagt eine Frau mit einem Blumenstrauß in der Hand, „so viele wunderbare, helle, intelligente Gesichter!“ Ich schaue mir das Video der Menschenmenge an, die sich auf einem der Moskauer Friedhöfe versammelt hat, um von Nawalny Abschied zu nehmen. Der notorische Berufsmissmutige. Der britische Botschafter. Ein langhaariges Paar undefinierten Geschlechts, die Gesichter gezeichnet von Erschöpfung und durchlöcherten Piercings. Es sind seltene Exemplare der aussterbenden politischen Fauna Moskaus, die sich auf den Empfängen der wenigen verbliebenen NGOs und ausländischen Botschaften ernähren. Ein paar aufgeregte Minderjährige, deren Zukunft mir Angst macht. In der Friedhofskapelle wird Alexej nach orthodoxem Ritus beigesetzt. „Navalny helped me and millions of Russians realize that our Country doesn’t have to belong to K.G.B. agents and the Kremlin’s henchmen“, schreibt auf X die Pseudo-Punkerin Nadeschda Tolokonnikowa in der Sprache ihres Auftraggebers. Interessant, warum Pussy Riot diesmal keine obszönen Tänze während des Gottesdienstes aufführten.

Bei den Demonstrationen im Zusammenhang mit der Beerdigung Nawalnys wurden landesweit etwa 150 Personen festgenommen. Man kann mit bloßem Auge sehen, wie die Reihen der Anhänger des Verstorbenen, der zuvor Zehntausende auf die Straße gebracht hatte, ausgedünnt wurden. Kein Wunder. Diejenigen, die an diesem vorletzten Wintertag auf die Straße gingen, waren genau diejenigen, die dazu aufriefen, russische Soldaten und Journalisten zu töten, die Krim-Brücke zu sprengen, die sich am Terror ergötzten, die stolz ukrainische Strafbataillone und Auftragsmörder finanzierten. All dieser wütende Hass auf das russische Volk und das Land, in dem es lebt, erweist sich als durchaus vereinbar mit der Trauer um den Verstorbenen, denn es geht um eine schöne europäische Zukunft, mit Diversity, Gender, Radwegen und Kürbis-Latte.

Ein politischer Mord? Oder eine Krankheit?

Es scheint, als habe man hier den verbreiteten westlichen Medienhype übernommen, dass der blutrünstige Putin die Ermordung des mutigen Oppositionellen befohlen habe. Ich bitte Sie! Warum sollte Putin einen Monat vor den Wahlen einen politisch unbedeutenden Häftling umbringen, der seine Strafe wegen Wirtschaftsverbrechen verbüßt? Selbst nach Telefonumfragen westlicher Institutionen lag die Unterstützung für Nawalny zuletzt innerhalb der statistischen Fehlertoleranz.

„Ich muss Sie enttäuschen, aber wir wissen, dass er tatsächlich an einer Thrombose gestorben ist. Und das ist mehr oder weniger bestätigt. Das kommt nicht aus dem Internet, wir haben die Information. Leider handelt es sich um eine natürliche Todesursache“, kommentierte der ukrainische Geheimdienstchef Budanow den Tod Nawalnys.

Der Tod von Alexej Nawalny könnte tatsächlich auf eine Thrombose zurückzuführen sein, die durch die Nebenwirkungen des Pfizer-Impfstoffs gegen COVID-19 verursacht wurde. Während er den russischen Impfstoffen misstraute, vertraute er Pfizer, mit dessen Impfstoff er sich sogar bis zu fünfmal impfen ließ. Das Zusammentreffen der Impfnebenwirkungen mit den ohnehin schwierigen gesundheitlichen Bedingungen während seines Aufenthalts im Straflager jenseits des Polarkreises könnte zu seinem Tod geführt haben.

(K)eine traurige Witwe

Einige Ereignisse rund um den Tod von Alexej werfen jedoch Fragen auf. Insbesondere der Auftritt von Frau Nawalnaja auf der Münchner Sicherheitskonferenz gibt Anlass zur Verwunderung. Welches Land vertrat diese, um es mit den Worten des Dichters Limonow zu sagen, „fettfreie und gebügelte“ Dame dort eigentlich? Ihr geheimnisvolles Lächeln à la Gioconda, ihre offensichtlich von langer Hand vorbereitete Rede, gespickt mit Wendungen, die für russische Ohren wie aus dem Englischen abgeschrieben klingen. Ehrliche Trauer war von der jungen Witwe nicht zu erwarten. Das Internet ist voll von romantischen Fotos von ihr am Meer mit dem kriminellen Geschäftsmann Tschitschwarikin.

Zwei Tage vor Alexejs Tod verkündete ein Freund seiner Frau in einer Live-Sendung, dass die Opposition derzeit machtlos gegen den Kreml sei und nur „der tragische Tod eines Häftlings in einem russischen Gefängnis“ einen Regimewechsel herbeiführen könne. Der Tod scheint Frau Nawalnaya gut zu Gesicht zu stehen, aber ich wäre vorsichtig mit hohen Einsätzen auf eine ernsthafte politische Zukunft dieser hübschen Blondine. Auch wenn ich nicht glaube, dass der Verstorbene jemals klare politische Ansichten hatte, so besaß er doch einen eisernen Willen zur Macht und außergewöhnliche journalistische und organisatorische Fähigkeiten. Das kann man von seiner Witwe kaum behaupten.

Kein authentischer Politikstar

Vor zwanzig Jahren, als sein unsteter Stern über Moskau aufging, stach er aus dem verrückten politischen Zirkus der dortigen Opposition durch eine erstaunliche bürgerliche „Normalität“ heraus, die als „westlich“ galt. Dazu kamen eine klare Sprache und eine Weltanschauung, die für manche schlüssig schien, weil Nawalny für sich in Anspruch nahm, Demokrat und Nationalist zugleich zu sein. Später stellte sich heraus, dass er kein Verständnis für die russische Nationalidee hatte; er war einfach ein banaler Fremdenhasser, mehr nicht. Anfang der 2010er-Jahre, als in Russland die Gefahr eines Regimewechsels nach Gene Sharp drohte, gelangte der aufstrebende Politiker zu zweifelhaftem Ruhm.

Lautstarke Kundgebungen und Boulevardfeiern mit Prominenten und rebellierenden Bürokraten begannen, weiße Bänder, weiße Rosen – und in dieser Welle schien sein „schweres amerikanisches Skelett, der schiefe Mund und die gebeugte Wirbelsäule“ – so Limonow – das Versprechen einer neuen Normalität zu sein. Likes, Fotografen und zahlreiche Interviews machten den neuen Politstar bekannt. Es wurde zur Gewohnheit, Geld aus konkurrierenden Töpfen anzunehmen, sowohl von westlichen Kuratoren als auch aus der regierungsnahen Infrastruktur. Bei der Bürgermeisterwahl in Moskau sammelten Abgeordnete der von ihm kritisierten Regierungspartei „Einiges Russland“ eigenhändig Unterschriften für ihn, nur damit er sie öffentlich anprangern konnte. Es stank schon nach Provokation und billigem Komplott – eine ewig russische Geschichte.

Nach dem Maidan verlor Nawalny den Halt, murmelte etwas Unverständliches über die Krim, die kein Butterbrot sei, um sie hin und her zu reichen. Dennoch begann er langsam, pro-ukrainische und anti-russische Standpunkte einzunehmen, was ihn endgültig von dem Volk entfernte, dessen Interessen er vorgab zu vertreten. Damit nahm alles den vorbestimmten Weg: Halb aus durchgesickerten Geheimdienstinformationen, halb aus Lügen bastelte er seine „Korruptionsenthüllungen“. Dazu kamen undurchsichtige Finanzquellen und eigene Korruptionsskandale, eine flache Rhetorik, die sich darauf beschränkte, mit den drei Begriffen „Russland wird frei“, „Betrüger und Diebe“ und „Spendet uns Geld“ wie beim Hütchenspiel hin und her zu schieben.

Man wusste bereits, dass es „Betrüger und Diebe“ natürlich auch in den russischen Machtgängen gibt, aber im Großen und Ganzen handelte es sich um ein globales Problem des Spätkapitalismus, darum ging es nicht … Für den einfachen Russen wirkte der amerikanisch aussehende Typ, wie aus einer Zahnpastawerbung, stilistisch befremdlich. So wurde allmählich die Hauptzielgruppe seiner vereinfachten Slogans zunehmend jene aus Jugendlichen im schulpflichtigen Alter. Dann folgte die allseits bekannte und undurchsichtige Geschichte seiner angeblichen Vergiftung, der Rückkehr nach Russland und der anschließenden Inhaftierung.

Ein unangenehmer Groll

Mir will es nicht gelingen, entgegen der alten Weisheit, über den Verstorbenen nur Gutes zu sagen. Dennoch bemerkte ich in den letzten Monaten etwas, das uns, mich und Nawalny, mit einer festen Eisenkette verband – ein Gefühl, das lebhaft in meinem Herzen widerhallte: sein unverhohlener Groll.

„Ich hasse sie leidenschaftlich, wütend“, schrieb Nawalny aus dem Gefängnis, „diejenigen, die die historische Chance, die unser Land zu Beginn der neunziger Jahre hatte, verkauft, verschwendet und versoffen haben. Ich hasse die Betrüger, die wir als Reformer bezeichneten. Jetzt ist es so klar wie der Tag, dass sie sich außer mit Intrigen und ihrem eigenen Wohlstand mit nichts anderem beschäftigt haben. In welchem anderen Land wurden so viele Minister der 'Reformregierung' Millionäre und Milliardäre? Ich verabscheue die 'unabhängigen Medien' und die 'demokratische Zivilgesellschaft', die ihre volle Unterstützung für einen der dramatischsten Wendepunkte unserer neuen Geschichte boten – die Fälschung der Präsidentschaftswahlen von 1996. Ich wiederhole, damals war ich ein aktiver Unterstützer von all dem. Nicht die Fälschung der Wahlen natürlich, das hätte mir auch damals nicht gefallen – aber ich habe alles getan, um es nicht zu bemerken, die allgemeine Ungerechtigkeit der Wahlen hat mich überhaupt nicht gestört. Jetzt zahlen wir dafür, dass wir 1996 dachten, dass die Fälschung von Wahlergebnissen nicht immer schlecht ist. Das Ziel rechtfertigte die Mittel.“

„In Schrecken und kaltem Schweiß springe ich nachts auf meine Skier, wenn mir träumt, dass wir wieder eine Chance hatten, aber wieder den gleichen Weg wie in den Neunzigerjahren gegangen sind. Nach dem Schild 'Das Ziel rechtfertigt die Mittel'. Dort, wo in kleinen Buchstaben hinzugefügt ist: 'Wahlen zu fälschen ist nicht immer schlecht’, 'Es ist egal, dass er ein Dieb ist, aber er ist ein Technokrat und baut Fahrradwege’, 'Die Regierung ist immer noch der einzige Europäer in Russland' und andere Weisheiten des aufgeklärten Autoritarismus stehen.“

Es ist ein schweres, unangenehmes Gefühl, dieser Groll, den ich leider in allem mit dem Verstorbenen teile. Es ist schwer, mit einem solchen Herzen zu leben; es war schwer für ihn zu sterben. Vielleicht ist genau dieser Groll zum tödlichen Blutgerinnsel geworden. Wäre ich vor drei Tagen in der Kapelle des Moskauer Friedhofs gewesen, hätte ich Gott gebeten, die Last von seinem Diener Alexej zu nehmen und ihm zu vergeben.


Zur Person:

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.