Reisebericht: Ein Zirkelschlag durch Europa (1)

Im Sommer soll man reisen, heiraten und Richtfeste feiern – so zumindest eine alte Bauernweisheit. Da weder Hochzeitsgesellschaft noch Hausbau auf FREILICH-Redakteur Mike Gutsing warteten, lockte nur die weite Welt. In einem mehrteiligen Bericht seiner Reise offenbart er Eindrücke, die über eine private Ferienreise hinausgehen.

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Reisebericht: Ein Zirkelschlag durch Europa (1)

Ein Spaziergang durch die Stadt

© Mike Gutsing

In die Ferne – nur wohin?

Es ist schon eine merkwürdige Eigenart des Menschen, seine eigene Welt in der Literatur zu suchen oder sich umgekehrt von einer Lektüre so anstacheln zu lassen, dass man wie ein Pfeil an allen Kurven des Lebens vorbeischießen möchte. In den Frühlingsmonaten verdichteten sich die Momente der beiden geschilderten Eindrücke und der Drang, zumindest für kurze Zeit ein wenig frisches Gras über die alltäglichen Wege wachsen zu lassen, entwickelte sich schnell zu einer konkreten Idee. Das Historikerherz in meiner Brust zwang mich, eine solche Reise auch irgendwie intellektuell zu begründen und nach einem kurzen Gang zum heimischen Bücherregal war der Entschluss gefasst. Während mich eine Hanse- und Preußenreise in der Vergangenheit bereits auf die Spuren der Hohenzollern geführt hatte, waren meine Erfahrungen mit dem Wirken der Donau-Dynastie Habsburg kaum praktischer Natur.

Die wichtigsten Orte des alten Österreich sind heute fast ausnahmslos Hauptstädte junger ostmitteleuropäischer Nationen, und so war die Reiseroute schnell abgesteckt: Pressburg – Budapest – Laibach und Wien. Nur das große Prag musste ausgelassen werden, da sonst zu wenig Tage zur Verfügung standen, um die anderen Städte ausreichend zu erkunden. Aber nicht nur die Kulturstätten lockten, sondern auch das Karpatenvorland, die Julischen Alpen und natürlich die Donau, die in ihrer Vielfalt zum Dreh- und Angelpunkt der Reise wurde.

In einem Sprung an den Karpatenbogen

Fragt man eine Schulklasse, was eine Hauptstadt ausmacht, sind Antworten wie eine große Einwohnerzahl, viele Sehenswürdigkeiten oder eine wichtige Rolle in der Geschichte des jeweiligen Landes zu erwarten. Die slowakische Hauptstadt Pressburg (Bratislava) fällt im europäischen Vergleich in mindestens zwei dieser Kategorien durch, ist sie doch deutlich kleiner als die Regierungssitze ihrer Nachbarn. Nachdem ich meine Unterkunft, ein kleines Zimmer in den sozialistischen Vororten der Stadt, bezogen hatte, fuhr ich mit der nächsten Straßenbahn in die Innenstadt. Die mehrstöckigen, oft renovierten Gebäude wichen allmählich kleineren, engeren und oft deutlich älteren Häusern, ein untrügliches Zeichen, dass man die Altstadt erreicht hatte.

Diese war gut erhalten und gepflegt, für eine europäische Hauptstadt fast lachhaft malerisch verträumt und für die sommerliche Urlaubssaison auch nicht unerträglich überfüllt. Mein erster Weg führte mich hinauf zur Burg, die mir als idealer Aussichtspunkt auf das reiche Stadtpanorama angezeigt wurde. Über die Qualität der Restaurierung, den Grad der touristischen Erschließung oder andere gewichtige Eigenschaften dieses historischen Bauwerks könnte man nun leicht viele Zeilen verlieren, aber damit würde man „den Bock zum Gärtner machen“. Der kurze Aufstieg auf die Zinnen der Festung ist jedem zu empfehlen, aber vor allem die preiswerten Cocktails in einer Kneipe am Rande der Gesindetreppe locken durstige Lippen schnell wieder nach unten.

Alte und neue Brüche

Ging man aus bundesdeutscher Sicht bis spätestens Februar 2022 noch weitgehend davon aus, dass innereuropäische Konflikte nicht mehr existierten oder allenfalls auf diplomatischem Parkett ausgetragen würden, so waren Kenner der ostmitteleuropäischen Politik besser informiert. Welche fast komischen Züge die Spannungen innerhalb des ehemaligen Ostblocks annehmen konnten, zeigt die Statue des mährischen Fürsten Svatopluk auf dem Vorplatz der Anlage. Während die gesamte Burg ab den 1950er-Jahren nach habsburgischem Vorbild rekonstruiert wurde, ist das Reiterstandbild deutlich jünger. Als ich sie zum ersten Mal sah, fragte ich mich, warum ausgerechnet die Habsburger einem mittelalterlichen Slawenkönig einen so repräsentativen Platz im Burghof widmeten, wo sie doch zum Zeitpunkt des habsburgischen Umbaus der Anlage bereits seit rund 200 Jahren über die Stadt herrschten. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man die tatsächliche Entstehungszeit des Herrscherbildes von Svatopluk betrachtet. Es handelt sich um ein Werk des slowakischen Bildhauers Ján Kulich aus dem Jahr 2010, das von der sozialdemokratischen Regierung des Landes in Auftrag gegeben wurde.

In der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre erschütterten Gebiets- und Minderheitenfragen die Beziehungen zwischen der Slowakei und der Republik Ungarn. Kurz vor den slowakischen Nationalratswahlen 2010 und pünktlich zum 90. Jahrestag des Vertrags von Trianon, der bekanntlich nicht nur das Ende Österreichs, sondern auch des Königreichs Ungarn besiegelte, sollte das Denkmal fertiggestellt werden. Mit der Enthüllung der Reiterstatue des mährischen Fürsten, der noch vor dem ungarischen Nationalhelden und Heiligen König Stephan I. lebte, wollte die Regierung ein unmissverständliches Zeichen an den Nachbarn senden: Alle historisch legitimen Gebietsansprüche gehen zu Lasten Ungarns. So berechtigt diese Botschaft auch war, die sozialdemokratische Partei Smer gewann die Wahlen mit großem Abstand und stellt bis 2020 die Regierung.

Der erste Schritt ist getan

Noch am Abend war ich von dieser Kleinigkeit elektrisiert – der ganze Schein des globalisierten Tourismus mit all seinen Attraktionen und Souvenirs verblasst hinter der Erfahrung echter kultureller Unterschiede. Auch wenn die Affäre um das Reiterdenkmal mit seinem provokanten Blick nach Ungarn schon über zehn Jahre her ist, so bleibt doch für Einheimische wie Besucher der Eindruck einer selbstbewussten Politik für die eigene Bevölkerung. Für Ungarn hatte ich solche Eindrücke erwartet, in Bratislava war es eine angenehme Überraschung. Mit dem berühmten Eichendorff-Diktum im Herzen: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt“, verließ ich am nächsten Tag die slowakische Hauptstadt und fühlte mich trotz der vielen Autostunden, die hinter und vor mir lagen, frischer als vor Beginn meiner Reise.

Über den Autor

Mike Gutsing

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