Martin Lichtmesz empfiehlt vier Bücher: „Das lässt jeden Anthropozentrismus dahinschmelzen“

Für viele gilt das Buch immer noch als Allheilmittel für alle Lebenslagen und Gemütszustände. FREILICH-Redakteur Mike Gutsing sagt: Mehr davon! Deshalb sammelt er für FREILICH in einer Sonderreihe die Lieblingsbücher verschiedener konservativer und rechter Akteure und lässt sie vorstellen. Am heutigen Mittwoch stellt der Publizist Martin Lichtmesz vier außergewöhnliche Bücher vor.

Martin Lichtmesz
Kommentar von
13.12.2023
/
6 Minuten Lesezeit
Martin Lichtmesz empfiehlt vier Bücher: „Das lässt jeden Anthropozentrismus dahinschmelzen“
© Martin Lichtmesz

Bücher lesen, Bücher sammeln, Bücher horten, bis ich keinen Platz mehr habe, ist eine meiner großen Leidenschaften (manche meiner Freunde befürchten, sie hätte bereits leicht pathologische Züge angenommen). Fünf „Lieblingsbücher“, die mich entscheidend beeinflusst haben, habe ich bereits in dem Band Das Buch im Haus nebenan beschrieben, darum will ich an dieser Stelle vier sehr unterschiedliche, willkürlich ausgewählte Bücher nennen, die mich im Laufe des letzten Jahres erfreut und unterhalten haben.

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Hanns Heinz Ewers – Fundvogel

Diesen Sommer habe ich herausgefunden, dass der (meines Wissens) erste Roman über das in diesen Zeiten enorm gehypte Thema „Geschlechtsumwandlung“ von einem Nazi geschrieben wurde. Na gut: Um der Pointe willen habe ich etwas übertrieben. Hanns Heinz Ewers (1871 – 1943) war eine schillernde Persönlichkeit, die man nicht in eine einzige enge Kiste packen kann, schon gar keine politische: Er war Autor von Schauerromanen und Kurzgeschichten (man nannte ihn den „deutschen Edgar Allan Poe“), Satiriker, Kabarettist, Dramatiker, Filmproduzent, Drehbuchautor, Dandy, Weltreisender, Corpsstudent einer schlagenden Verbindung (Corps Normannia Berlin), Ameisenforscher, Okkultist und am Ende seiner Laufbahn für kurze Zeit Propagandist des NS-Regimes, als Autor des Romans Horst Wessel (1933). Seit der Lektüre seines bekanntesten (und wohl besten) Romans Alraune (1911) im Vorjahr war ich „Fan“ und wollte mehr.

Fundvogel erschien nur zwei Jahre, bevor die erste „offizielle“ Geschlechtsumwandlung in Deutschland vollzogen und der Däne Einar Wegener zu „Lili Elbe“ wurde (der Patient starb nur wenige Monate später an den Folgen der Operation). Ewers Hauptfigur ist allerdings kein Transsexueller, sondern eine aus einem alten Adelsgeschlecht stammende Abenteurerin namens Andrea Woyland, genannt „Fundvogel“, die mit einem exzentrischen amerikanischen Milliardär einen ungewöhnlichen Pakt schließt. Was nach langen Irrungen und Wirrungen schließlich passiert, ist keine „geschlechtsangleichende Operation“, sondern, wie der Untertitel des Romans verspricht, eine tatsächliche „Wandlung“. Mehr will ich nicht verraten, falls jemand Lust auf diesen obskuren, äußerst seltsamen, keineswegs rundum gelungenen, sondern ziemlich schiefen, aber niemals langweiligen, ja faszinierenden Roman bekommen hat, der wie bei Ewers üblich vollgepackt mit dekadenter Erotik ist.

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Jerry Lewis und James Kaplan – Dean & Me (A Love Story)

In meiner Kindheit liebte ich die Filme mit Dean Martin (1917-1995) und Jerry Lewis (1926-2017), die damals noch oft im Nachmittagsprogramm des ORF zu sehen waren. Deans Rollen in diesen Klamotten nach ewig gleichem Strickmuster waren nicht allzu interessant – er war der stereotype romantische Schnulzensänger, der nicht viel mehr zu tun hatte, als schöne Frauen zu verführen und die „geradlinige“ Kontrastfigur zu Jerry zu spielen, dessen Slapsticknummern und Grimassen genau die Art von Humor sind, die man als Achtjähriger enorm lustig findet. Allerdings kannte ich Dean auch aus dem Western Rio Bravo mit John Wayne, in dem er mich durch sein tolles Aussehen und seine einzigartige Coolness faszinierte. Ein Mann so wie er wollte ich eines Tages auch werden! Das Taschenbuch Dean & Me habe ich für den Preis von zwei Euro aus einer Grabbelkiste in einem Antiquariat gefischt. Nach ein wenig Herumblättern war ich gefesselt und konnte es nicht mehr aus der Hand legen.

Lewis schildert nicht nur Aufstieg und Fall eines der populärsten Komikerduos aller Zeiten, sondern auch Anfang und Ende einer intensiven Männerfreundschaft zwischen zwei sehr ungleichen Charakteren. Was man in den Kinofilmen zu sehen bekam, war nur ein müder Abglanz der mitreißenden Live-Bühnenshows von „Martin & Lewis“, in denen sich der Jude aus New Jersey und der Italiener aus Steubenville, Ohio (beide liebten es, einander wegen dieses ethnischen Gegensatzes aufzuziehen), kongenial ergänzten. Nach zehn gemeinsamen Jahren hatte Dean es eines Tages satt, ständig von den Kritikern in Jerrys Schatten gestellt zu werden, während letzterer wachsende künstlerische Ambitionen entwickelte, die keinen Platz mehr für seinen Partner ließen. Es kam schließlich zu einem für beide schmerzhaften, aber unvermeidlichen Bruch. Erst zwanzig Jahre später sollten sie sich wieder versöhnen. Das Buch erinnert daran, dass auch die Schönen, Talentierten, Reichen und Berühmten Menschen sind, die altern, verfallen und sterben, die Schmerzen, Trennungen und Niederlagen erleiden.

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Christina Wessely – Welteis. Eine wahre Geschichte

Auf die sogenannte „Welteislehre“, ersonnen Ende des 19. Jahrhunderts von dem österreichischen Ingenieur Hanns Hörbiger (1867-1931), der kurioserweise auch Vater der Schauspielerbrüder Attila und Paul war, stieß ich erstmalig in Hans-Jürgen Syberbergs Monumentalwerk Hitler, ein Film aus Deutschland (1977), in dem ein monologisierender Anhänger deren „kühnes Weltbild“ als adäquate Weltanschauung des „heldischen Menschen“ preist: „Die Lehre von unserem Inneren heißt nicht Psychologie, sondern Mythos. Es geht um den Kampf zwischen Eis und Feuer, zwischen dem Feuer des Herzblutes gegen das Eis der Verstandeskälte.“ Im Laufe der Jahre hat sich in meinem Bücherregal eine kleine Sammlung von Literatur dieser seltsamen „Lehre“ zusammengetragen (unter anderem Werke von Hans Wolfgang Behm, Hanns Fischer, Heinrich Voigt und Edmund Kiss), die – stark verkürzt ausgedrückt – das kosmische beziehungsweise kosmogonische Geschehen als ewigen zeugenden Wettstreit der Urkräfte Feuer und Eis deutete. Die Theorie der Welteislehre, über ein Jahrzehnt hinweg ausgearbeitet und ausformuliert von Hörbiger und dem Mondforscher Philipp Fauth, wurde erstmalig 1913 der Öffentlichkeit mit einem hehren wissenschaftlichen Anspruch präsentiert, in der akademischen Fachwelt jedoch von praktisch niemandem ernst genommen.

Hörbiger, ein Mann mit einem starken Sendungsbewusstsein, der überzeugt war, kraft seines technisch versierten Genies die Welträtsel gelöst zu haben, war unter anderem der Ansicht, dass der Mond vollständig aus Eis bestehe, und eines Tages, wie schon seine Vorgänger, auf die Erde herabstürzen, eine kataklysmische Katastrophe verursachen und ein neues Erdzeitalter einleiten werde. Ein solcher Vorgang habe sich in der Erdgeschichte schon häufig abgespielt und sei die Grundlage von alten Überlieferungen wie der Sintflut oder der Zerstörung von Atlantis. Bücher über die Welteislehre sind in der Regel gefüllt mit wirren, kaum entzifferbaren schematischen Schaubildern, dramatischen „kosmischen“ Illustrationen und barocken pseudowissenschaftlichen Ausführungen. Mein Lieblingsbuch aus diesem Genre ist Stielauge der Urkrebs von Batti Dohm (1942), die entzückend illustrierte Lebensgeschichte eines Trilobiten im Lichte der Welteislehre.

Trotz meiner persönlichen Philia konnte ich nie ganz verstehen, warum die „Glacialkosmogonie“ (wie sie alternativ genannt wurde), in der Zwischenkriegszeit eine derartige Popularität und kultische Anhängerschaft entwickeln konnte, und schließlich sogar von Heinrich Himmlers Forschungsamt „Ahnenerbe“ als potenziell zu fördernde „arische“ Paradewissenschaft ins Auge gefasst wurde. Weil sie, ähm – cool war? Anfang dieses Jahres entflammte (no pun intended) mein altes Interesse an der Welteislehre erneut. Um das Rätsel zu lösen, durchforstete ich monatelang Online-Antiquariate, um Christina Wesselys quasi unauffindbare Studie Welteis. Eine wahre Geschichte, erschienen 2013 bei Matthes & Seitz, aufzutreiben. Nach einem halben Jahr bekam ich endlich ein Exemplar in meine Hände, und siehe da, ich wurde nicht enttäuscht: Nun verstehe ich endlich (ungefähr), was sich hier abgespielt hat. Aber das ist eine lange Geschichte, die diesen Rahmen sprengen würde.

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Richard Ellis – Sea Dragons. Predators of the Prehistoric Oceans

Der amerikanische Biologe Richard Ellis (*1938) ist eine zuverlässige Anlaufstelle für alles, was mit dem Meer zu tun hat: Er schrieb unter anderem Bücher über Wale und Walfang, weiße Haie, Riesenkraken, kryptozoologische Seeungeheuer, Delphine, Thunfische und den Mythos von Atlantis, stets seriös, wissenschaftlich fundiert und auch für Laien hervorragend lesbar. Ich besitze mehrere seiner Bücher, aber das eine, das mich wirklich gebannt hat, ist Sea Dragons, eine Übersicht über die verschiedenen bekannten Arten von Meeressauriern, die vor Jahrmillionen die Ozeane bevölkert haben. Besonders reizvoll sind dabei die von Ellis selbst stammenden Illustrationen: Seine schwarzweißen Ichthyo-, Plesio-, Plio- und Mosasaurier schwimmen elegant und lebensecht über die Seiten dieses optisch und haptisch ansprechend gestalteten Buches. Man kann sich anhand dieser Darstellungen, basierend auf der Interpretation von Fossilienfunden, ungefähr vorstellen, wie sie ausgesehen, wie sie sich bewegt und wie sie gejagt haben mögen.

Die ungeheuren Zeitspannen, in denen sie lebten, ohne dass sie jemals ein menschliches Auge erblickt oder ein menschliches Bewusstsein ihre schaurige Pracht erfasst hätte, in denen sie über Jahrmillionen hinweg nichts anderes getan haben, als sich gegenseitig aufzufressen, erzeugen Schwindelgefühle: „Wenn eine menschliche Generation 20 Jahre dauert“, schreibt Ellis, „dann sind in der gesamten Geschichte des Homo sapiens 5000 Generationen vergangen, und wenn wir in einer Million Jahren noch leben sollten – ein höchst unwahrscheinliches Szenario –, wären 50.000 Generationen vergangen. Wenn eine Generation Ichthyosaurier ebenfalls 20 Jahre dauerte, dann gab es in ihrer hunderfünfzig Millionen Jahre währenden Geschichte 7,5 Millionen Generationen von Fischechsen.“

Derlei Überlegungen, ehrfurchtgebietend und erschreckend zugleich, lassen jeglichen Anthropozentrismus dahinschmelzen wie Schneeflocken in der tropischen Sonne. Je mehr ich in den Beschreibungen dieser gigantischen Urwesen versinke, umso mehr wird mein Hirn von thalassisch-mesozoischen Regressionen überflutet, als spannte sich in meinem Kopf ein unendlicher blauer Himmel auf, unter dem ein unendlicher blauer Ozean glitzert, bis in die tiefsten Tiefen hinab belebt von zahllosen wundersamen Kreaturen. Und mir kommen die Verse von Gottfried Benn in den Sinn: „Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer.“

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Zur Person:

Martin Lichtmesz wurde 1976 in Wien geboren. Nach Jahren in Berlin lebt er inzwischen wieder in seiner Heimat und arbeitet als freier Publizist.


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