Iwan Iljin – Putins Lieblingsphilosoph aus Berlin, dessen Schatten noch heute geistert

Seit mehr als einem Monat wird in Russland über den Namen des Philosophen Iwan Iljin gestritten und darüber diskutiert, ob er ein Faschist war oder nicht. Sogar die nach ihm benannte Höhere Politische Schule der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften steht deshalb in der Kritik. In seinem Kommentar für FREILICH zeichnet Ilia Ryvkin in groben Zügen den Weg des Denkens von Iljin nach, indem er den Stationen seines Lebens und Schaffens folgt.

Kommentar von
2.6.2024
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8 Minuten Lesezeit
Iwan Iljin – Putins Lieblingsphilosoph aus Berlin, dessen Schatten noch heute geistert
Iwan Iljin gilt heute als Vordenker des Putinismus.© Wikimedia

„Wenn zwei Züge auf demselben Gleis fahren und zusammenstoßen — so ist das ein Unglück; manchmal eine Katastrophe. Im Streite ist es umgekehrt: Er kann nur dann gelingen, wenn die Gegner sich auf demselben ‚Gleise‘ bewegen und richtig ‚zusammenstoßen‘. Der eine muss genau dasselbe behaupten, was der andere ablehnt; sonst entsteht ein Haufen von Missverständnissen, so ein Art Knabenspiel, wo der eine über den anderen immer hinwegspringt. Ruhig lächelt darüber die Göttin der Weisheit; und die kleinen Kobolde der Komik, die uns ja stets umgeben, lachen sich über uns zu Tode …“

Seit mehr als einem Monat wird in Russland über den Namen des Philosophen gestritten, der vor neunzig Jahren in Berlin diese Zeilen notierte. Ein Blick auf sein Porträt aus jener Zeit: ein gepflegter Bart, ein aufmerksamer und strenger Blick unter der geschwungenen Krempe eines schmucken Filzhutes. „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.“ Das heutige Russland wird nicht nur durch das Knistern von Drohnen am Himmel und das Dröhnen von Haubitzen erschüttert, sondern auch durch die ruhigen Zeilen des nachdenklichen Exilanten Iwan Iljin.

Cancel Culture in Russland

Im April wurde im Internet eine Petition einer „Gruppe von Studenten“ gegen die Eröffnung einer nach dem Denker Iwan Iljin benannten Höheren Politischen Schule an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften veröffentlicht. In der Petition heißt es: „Im 20. Jahrhundert billigte Iwan Iljin aktiv die Aktivitäten des deutschen faschistischen Regimes, rechtfertigte Hitlers Verbrechen mit seiner Ablehnung des Bolschewismus und schrieb über die Notwendigkeit eines russischen Faschismus. Das wissenschaftliche Zentrum einer der führenden Universitäten des Landes, das den Faschismus besiegt hat, kann nicht den Namen eines Befürworters faschistischer Ideen tragen, wenn man die gesellschaftspolitische Situation berücksichtigt, in der sich unser Land derzeit befindet.“ usw.

Die „antifaschistische“ Demarche wurde vom Direktor der neu gegründeten Höheren Politischen Schule, Alexander Dugin, scharf zurückgewiesen: „Die Studenten dieser Universität haben damit überhaupt nichts zu tun. Alles ist manipuliert und gefälscht. Es handelt sich um eine internetbasierte Sonderoperation einiger unfreundlicher Staaten.“

Der Skandal nahm mit der Geschwindigkeit einer Schneelawine Fahrt auf: Blogger, Influencer auf beiden Seiten, Intellektuelle und Staatsduma-Abgeordnete beteiligten sich an der hitzigen Debatte. Die Angelegenheit erreichte schließlich die Präsidialverwaltung, doch die Unterstützung des Kremls für die „antifaschistischen“ Cancelling-Anhänger blieb aus. Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, erklärte beispielsweise, der Kreml lehne es ab, über die Gründung der Höheren Politischen Schule namens Iljin zu diskutieren. Ebenso rief Wjatscheslaw Wolodin, Vorsitzender der Staatsduma, dazu auf, „keine Zwietracht zuzulassen und solche Versuche zu unterdrücken, uns nicht zu erlauben, eine destruktive Agenda und künstliche Widersprüche aufzuzwingen.“

Putins Lieblingsphilosoph

Pikant an der Situation ist, dass Iwan Iljin der Philosoph ist, auf den sich Wladimir Putin am häufigsten bezieht und den er am häufigsten zitiert. Die Verehrung des Präsidenten für das Andenken Iljins ging so weit, dass auf seinen Beschluss hin die Asche des Denkers aus der Nekropole in der Schweiz, wo der Philosoph seine letzten Jahre verbrachte, exhumiert und 2005 auf dem Friedhof des Donskoi-Klosters in Moskau beigesetzt wurde. Gleichzeitig wurde das umfangreiche Archiv des Philosophen, dessen Ideen für das neue Russland von Bedeutung sind, aus den Vereinigten Staaten erworben und nach Moskau gebracht.

Um das Wesen von Iljins Ansichten zu verdeutlichen, werden wir nicht, wie die Komsomolisten, die den unbeliebten Denker zu canceln erhoffen, Zitate aus dem Kontext der Zeit ihres Erscheinens herausreißen. Vielmehr versuchen wir, im Groben den Weg seines Denkens nachzuzeichnen, indem wir den Meilensteinen seines Lebens und Schaffens folgen.

Iwan Iljin wurde in Moskau geboren, in die Familie des Provinzsekretärs und vereidigten Rechtsanwalts Alexander Iljin, dem Patensohn von Zar Alexander II. Seine Mutter, Caroline-Louise, war eine Russlanddeutsche, wodurch er zweisprachig aufgewachsen ist. Von seiner Mutter übernahm Iwan die unter den Russlanddeutschen weit verbreitete Nibelungentreue dem Russischen Zarenreich gegenüber und die Liebe zur russischen Kultur.

Im Herzen das Reich und die deutsche Philosophie

Die Leidenschaft des jungen Mannes galt der deutschen klassischen Philosophie – den Werken von Kant, Schelling und Hegel, die er im Original las. Später wurde die Philosophie Hegels zum Thema seiner Magisterarbeit. Sein Verständnis der Geschichtsdialektik fand eine lebhafte Resonanz bei einem so unerwarteten Leser wie dem Revolutionär Wladimir Lenin. Dieser Umstand sollte dem Philosophen später das Leben retten. In den vier nachrevolutionären Jahren wurde der rechtsgerichtete Intellektuelle sechsmal von der bolschewistischen Geheimpolizei, der „Tscheka“, verhaftet.

Jedes Mal wurde er auf persönliches Drängen Lenins freigelassen: „Ihr könnt ihn nicht erschießen! Er ist der Autor des besten Buches über Hegel.“ Im Jahre 1922 schrieb Lenin ihm höchstpersönlich eine Fahrkarte für den „Philosophendampfer“, einen jener Dampfer, auf den die Blüte der russischen nationalen Intelligenz verladen und aus dem Land deportiert wurde. All jene, von denen Trotzki sagte: „Es gibt keinen Anlass, die zu erschießen, aber wir können sie hier auch nicht dulden“. Die Kommunistische Internationale benötigte für ihren utopischen Bau, auf dem Fleck, wo einst Russland existierte, nur arbeitende Hände; für die Köpfe der Nation hatten die neuen Machthaber keinen Bedarf.

Iljin verbrachte die Zwanzigerjahre in Berlin und arbeitete als Philosoph und weißgardistischer Publizist. Ab 1927 gab er die Zeitschrift Russische Glocke heraus, in deren dritter Ausgabe sein Programm „Über den russischen Faschismus“ veröffentlicht wurde. Der Artikel erörterte die geistige Verwandtschaft zwischen der russischen Weißen Garde und dem italienischen Faschismus, beleuchtete aber auch ihre Unterschiede. Es ging um die Notwendigkeit, dass die Weißgardisten ihrem eigenen Weg treu bleiben und nicht zulassen, dass die Bewegung in Parteien zersplittert wird. Dennoch ist das Wort gefallen. Unter den russischen Emigranten waren Iljins Sympathien für die Entwicklungen in Italien keineswegs einzigartig. Gleich denke ich an Dmitri Mereschkowski, einen russischen Schriftsteller, der Arthur Moeller van den Bruck als Mentor galt.

Beobachter der Zwischenkriegszeit

Wie Mereschkowski nahm Iljin die „gewaltige politische und soziale Umwälzung“, die 1933 in Deutschland stattfand, hoffnungsvoll wahr. In seinem Artikel „Der Nationalsozialismus. Ein neuer Geist“ schrieb er: „Es ist eine Bewegung nationaler Leidenschaft und politischer Aufwallung, die sich seit 12 Jahren konzentriert und das Blut ihrer Anhänger in den Kämpfen mit den Kommunisten vergossen hat. Dies ist eine Reaktion auf die Jahre der Nachkriegsdekadenz und der Verzagtheit, eine Reaktion der Trauer und der Wut. Wann und wo gab es einen solchen Kampf ohne Exzesse?“ Seine Leserschaft, die weißgardistischen Emigranten, kannten wohl die revolutionären Exzesse an ihrer eigenen Haut.

Überlassen wir es den Anklägern von Iljin, die makellose Richtigkeit ihrer eigenen Ansichten auf den Gipfeln unserer Zeit zu feiern. Folgen wir dem Philosophen, der innerhalb weniger Monate zum Direktor des russischen wissenschaftlichen Instituts in Berlin ernannt wurde, jedoch bereits im Frühjahr 1934 seines Amtes enthoben wurde. Im Jahr 1936 begann er bereits, die NS-Machthaber zu kritisieren, wofür er von der Gestapo drangsaliert wurde. „Es ist unmöglich geworden, hier frei zu atmen oder zu arbeiten. Der Nationalsozialismus predigt eine brutale Doktrin. Einige Leute dort sind verrückt, andere sind so dumm, dass sie nicht erkennen, wohin es sie führt“, schrieb er. „Sie hassen Russland, und jetzt ist es klar, dass es keine Hoffnung auf eine Besserung der Lage gibt.“ Mit diesen Worten reiste er 1938 in die Schweiz.

Zehn Jahre später veröffentlichte Iwan Iljin, der über die Ursachen der europäischen Katastrophe nachdachte, seine kritischen Thesen Über Faschismus. Darin betrachtete er den Faschismus als Reaktion auf den Bolschewismus, verurteilte aber dessen säkularen Charakter, der ihn totalitär und chauvinistisch mache. Diese Thesen weisen gewisse Parallelen zu dem später erschienenen Werk Faschismus. Kritische Analyse aus der Sicht der Rechten von Julius Evola. Der Denker starb im Zollikon bei Zürich und hinterließ ein reiches literarisches Erbe.

Kritiker des Nationalsozialismus

Es ist jedoch offensichtlich, dass die Gestalt des Denkers ihre Bedeutung nicht den Unregelmäßigkeiten des äußeren Verlaufs seines Schicksals verdankt, sondern der lebendigen und ganzheitlichen Idee, der er durch die Stürme der Geschichte folgte. Diese Idee ist vor allem religiös. Der orthodoxe Christ Iwan Iljin beschränkte die philosophische Auffassung von Religion nicht auf den Rahmen seiner eigenen Tradition, sondern sah sie als eine allgemeingültige und zugleich persönliche Verbindung eines jeden Menschen mit der Quelle des Seins.

„Inmitten aller Täuschungen, Verzerrungen und Verhärtungen der Seele strebt die persönliche geistige Kraft des Menschen danach, aus den unbewussten Tiefen jenes Licht und jene Wärme zu schöpfen, jene letzte Echtheit und Kraft, die nur von dieser einen geistigen Sonne des Seins gegeben werden. Um es in der Bildsprache des Heraklit auszudrücken, könnten wir sagen: Es existiert ein einziges großes Feuer sowohl im Himmel als auch im Menschen – eine mal erlöschende, mal entfachende Kohle in den Tiefen der persönlichen Seele; und das Feuer dieser subjektiven Kohle reicht bis zur großen Quelle des objektiven Lichts und deren Flamme“, schrieb er in seinen Axiomen der religiösen Erfahrung.

Diese Verbindung wird subjektiv erlebt, als Ehrfurcht, pietas, aber nicht nur kontemplativ, sondern aktiv, als Liebe, die zum Handeln anregt. In dieser religiösen Verehrung, in der Ehrfurcht sieht Iwan Iljin die Grundlage jeder lebendigen Hierarchie, jedes Rechtsbewusstseins, des Patriotismus „und des Nationalismus“, sowie der Sittlichkeit und der auf dem sittlichen Ansatz beruhenden gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung. Er sah den Menschen als einen „hinter dem Körper verborgenen freien Geist“. Daher seine Abneigung gegen Ideologien jeder Art, die auf Materialismus und Unterdrückung setzen. Daraus ergibt sich die Pflicht, dem Bösen mit Gewalt zu begegnen.

Das christliche Gebot der Nächstenliebe dürfe sich nicht auf die Feinde dessen beziehen, was der Mensch liebt und ehrt, nicht auf die Zerstörer von Altären und Heimstätten. Wenn für die Rückkehr des russischen Volkes zur sakral begründeten Ordnung Blut vergossen werden muss, so soll es vergossen werden. In seinem in den zwanziger Jahren erschienenen Manifest Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse vertritt der Philosoph konsequent die These, dass „Feindschaft gegen das Böse nicht böse ist“ und rechtfertigt damit den Kampf der Weißen Garde.

Auf christlichem Fundament

Vielleicht war es diese Ehrfurcht vor dem sakralen Urgrund des Seins, die den Philosophen in seinem gesamten Werk vor jeglicher nationalen Hybris und jeder Spur von möglichem Chauvinismus fern hielt. Heute nennt man den Ansatz, dass die Eigenständigkeit eines jeden Volkes bewahrt und beachtet wird, Ethnopluralismus. Eine weitere Überlegung ist, dass die Aufrechterhaltung dieser „blühenden Komplexität“ nur innerhalb des Rahmens zivilisatorischer und geopolitischer Großräume möglich ist. In dieser Hinsicht war Iwan Iljin ein Verfechter der Einheit des russischen Reiches und sprach sich kategorisch gegen eine mögliche Abspaltung der Ukraine aus.

Für mich ist er vor allem ein angenehmer Gesprächspartner, der Iljin. Einer, dessen Schatten man auf der Berliner Straße begegnet und mit dem man dann gerne durch die Stadt flaniert.  Mir gefällt sein gründlicher, ernster Duktus, seine höfliche Art zu denken, sein Gespür für sprachliche Nuancen, sowohl im Russischen als auch im Deutschen, eine angenehme Distanz zwischen Autor und Leser, die, so glaube ich, in derselben Ehrfurcht vor dem Urgrund des Seins wurzelt wie seine Philosophie.

„Wer einmal ein Radiumkorn gesehen hat“, sagt er freundlich, „wird dieses Wunder Gottes nie vergessen. In einem kleinen geschlossenen Raum, im Dunkeln, hinter dem Glas einer Lupe, sieht man einen winzigen Körper, aus dem unaufhörlich Funken in alle Richtungen sprühen und schnell in der Dunkelheit verschwinden. Durch leichtes Drehen an der Schraube kann man die Klemmung der Pinzette, die dieses Staubkorn festhält, etwas lockern – und schon beginnen die Funken großzügig und fröhlich herauszufliegen; die Klemmung wird fester – und die Funken fliegen spärlich und zart. Und Naturforscher behaupten, dass die strahlende Ladung dieses Staubkorns mindestens zweitausend Jahre hält … So lebt und funkelt der menschliche Geist; er sendet seine Funken ins All. Und aus diesen Funken entsteht wahre Freundschaft“.


Zur Person:

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.