Der 8. Mai – zwischen Erlösung, Befreiung und Erinnerungskrise
Anlässlich des 80. Jahrestag des Kriegsendes fordert Frank-Christian Hansel eine grundlegende Korrektur der deutschen Erinnerungspolitik. Auschwitz, Totalitarismus und die blinden Flecken der deutschen Erinnerungskultur – eine Abrechnung mit moralischen Phrasen und Gedenkritualen.
Am 8. Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal.
© IMAGO / Eibner1. Der 8. Mai – Gedenktag in der Sackgasse?
Der 8. Mai 2025 markiert den 80. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. In der offiziellen Erinnerungspolitik gilt er als „Tag der Befreiung“. Was 1985 als mutiger Akt moralischer Staatsbildung durch Bundespräsident Richard von Weizsäcker begann, hat sich über die Jahrzehnte in eine Erinnerungsroutine verwandelt, die immer häufiger von Ritualen, Sprechverboten und Moralphrasen überlagert wird.
Der Gedenktag, einst als Bruch mit der Vergangenheit gedacht, verkommt in der Gegenwart zum ersatzpolitischen Appell. Erinnerung wird zur Staatsräson, nicht zur offenen Auseinandersetzung. Die Singularität des Holocaust wird regelmäßig beschworen – aber selten in ihrer zivilisatorischen Tiefe durchdrungen. Der 8. Mai wird emotionalisiert und moralisiert und tagespolitisch instrumentalisiert, aber nicht historisch differenziert. Dabei wäre genau das nötig – heute mehr denn je.
2. Der doppelte 8. Mai – zwischen Befreiung und neuer Gewalt
Schon Bundespräsident Theodor Heuss sprach 1949 mit ungewohnter Klarheit von der Ambivalenz dieses Tages. Für ihn war der 8. Mai „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte“, weil die Deutschen „erlöst und vernichtet in einem“ gewesen seien. Erlöst vom Nationalsozialismus, ja – aber zugleich entrechtet, entmachtet, entwurzelt.
Diese doppelte Bedeutung wurde jahrzehntelang verdrängt, ist heute jedoch kaum noch zu leugnen. Denn der 8. Mai bedeutete für Millionen Deutsche nicht nur das Ende des NS-Terrors, sondern auch den Beginn von Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung und Repression. Die willkürliche Gewalt der Sieger, die ethnischen Säuberungen im Osten, die kommunistische Diktatur in der Sowjetzone – all das gehört ebenfalls zur Wahrheit des Kriegsendes und seiner brutalen Ausfechtung.
Wer heute ausschließlich von Befreiung spricht, verschweigt jene, für die das Kriegsende nicht die Freiheit brachte, sondern eine neue Form von Unterdrückung, namentlich im Osten die kommunistischen Diktaturen sowjetisch-stalinistischer Prägung, die erst fast ein halbes Jahrhundert später abgeschüttelt wurden oder implodierten. Eine ehrliche Erinnerungskultur muss diese Ambivalenz aushalten – oder sie verliert ihre Legitimation.
3. Auschwitz als zivilisatorischer Bruch: Auslöschen des Gewissens und der Ethik
Die Frage nach der Singularität des Holocaust bleibt dabei zentral. Was machte Auschwitz einzigartig? Warum ist der 8. Mai nicht einfach das Ende eines Krieges, sondern das Ende eines zivilisatorischen Ausnahmezustands?
Der Bremer Zivilisationsforscher Gunnar Heinsohn hat in seinem Werk eine der tiefgründigsten Antworten formuliert. Dem Holocaust lag der Gedanke zugrunde, das jüdische Tötungsverbot – die Ethik der Lebensheiligkeit – systematisch zu vernichten. Die Shoah war nicht nur Völkermord. Sie war der Versuch, die Grundlage unserer Zivilisation auszulöschen.
Hitler, so Heinsohn, erkannte in der jüdischen Ethik den entscheidenden Widerstand gegen archaische Gewaltpraktiken: Kindermord, Völkerauslöschung, die „Legitimität des Stärkeren“. Die Vernichtung der Juden sollte daher nicht nur physisch Menschen töten, sondern das moralische System, das sie verkörperten. Die „Hardware“ – der jüdische Mensch – wurde zerstört, um die „Software“ – das ethische Gebot, das Leben zu schützen –, „das Gewissen“ also, auszulöschen. Das macht den Holocaust nicht nur historisch, sondern metaphysisch einzigartig. Er war der Angriff schlechthin auf das Fundament unseres Weltalters, das Hitler mit dem „Tausendjährigen Reich“ buchstäblich überwinden wollte.
Die logische Konsequenz dieses Denkens hätte über das Judentum hinaus gereicht: Nach der Vernichtung des mosaischen Tötungsverbotes wäre die Vernichtung des christlichen Gewissens die nächste Stufe gewesen. Auch Christen – jedenfalls jene, die sich dem Ethos der Lebensheiligkeit, dem Schutz des Schwachen und der Idee der Barmherzigkeit verpflichtet fühlten – wurden – wie Dietrich Bonhoeffer und andere – im „Endsieg“ der nationalsozialistischen Weltordnung zu Feinden und im KZ ermordet. Die moralische Bastion gegen das Töten sollte nicht nur unterminiert, sondern ganz ausgelöscht werden. Es war die Vision einer Welt, in der allein der hemmungslose, gewissenlos tötende Stärkere das Feld beherrscht.
Diese Lesart wirft zugleich ein scharfes Licht auf die Schwächen der etablierten erinnerungspolitischen Genealogien, insbesondere jener, die Auschwitz als logisches Ende eines deutschen Sonderwegs deuten wollen – von Luther über den deutschen Idealismus bis zu Bismarck, Wilhelm II. und schließlich Hitler. Diese Deutung, gespeist aus der Kritischen Theorie der Nachkriegszeit, unterstellt, das „deutsche Denken“ selbst sei die Wurzel des Zivilisationsbruchs gewesen – Kant, Hegel, Fichte gelten dabei nicht als Bollwerk gegen, sondern als Vorläufer von Auschwitz.
Doch wer Heinsohns Analyse ernst nimmt, erkennt: Auschwitz war nicht der Kulminationspunkt des deutschen Geistes, sondern seine Zerstörung. Der Holocaust war keine Konsequenz des deutschen Idealismus – er war dessen unmittelbare Verneinung. Die Idee, das „Gewissen“ selbst auszulöschen, richtet sich gegen Kant, nicht auf ihn zu. Hitler hat nicht den deutschen Geist auf die Spitze getrieben – er hat ihn nachgerade zertrümmert, um eine Welt des moralisch entgrenzten Tötens für das Schaffen von „Lebensraum“ zu ermöglichen. Und weil sich das „deutsche Volk“ diesem amoralischen Anspruch als nicht gewachsen gezeigt hat, hat er es testamentarisch am Ende auch verdammt und sich damit für immer an den Deutschen versündigt. Hitlers gedankliche Programm, den Träger der „jüdischen Erfindung des Gewissens“ auszulöschen, war so radikal, dass es selbst im innersten NS-Machtzirkel nur wenige als solches wirklich verstanden haben dürften, so radikal, dass es sich für immer jedweder Anschlussfähigkeit entzieht.
4. Klassenmord, Völkermord – und die blinden Flecken der Erinnerung
Wer den Holocaust als zivilisatorischen Bruch begreift, darf dabei nicht stehen bleiben. Denn der Mord an den europäischen Juden war nicht der einzige Versuch im „Weltbürgerkrieg“ des 20. Jahrhunderts, systematisch ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten. Was Heinsohn in seinem Lexikon der Völkermorde und das Schwarzbuch des Kommunismus dokumentieren, ist nicht minder erschütternd: Auch im Namen des Klassenkampfes wurden Millionen Menschen ausgelöscht – nicht trotz ihrer gesellschaftlichen Herkunft, sondern wegen ihr.
Unter Stalins Dekret zur „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ (1929) wurden Millionen Bauern enteignet, deportiert oder hingerichtet. Das Ziel war die Kollektivierung der Landwirtschaft, aber die Methode war Völkermord: Getreide wurde beschlagnahmt, Dörfer abgeriegelt, Hungersnöte künstlich herbeigeführt. Die Kosaken, die Kulaken, die ukrainischen Bauern im Holodomor, die baltischen Eliten, die rumänischen Großgrundbesitzer, die ungarischen Kleinhändler – sie alle wurden verfolgt, deportiert, ermordet, weil sie der falschen Klasse der Eigentümer angehörten.
Sie fielen der totalitären Ideologie des Kommunismus zum Opfer, die, so das finale marxistische Kern-Axiom, das „(Privat)Eigentum“ ab- bzw. aus der Welt schaffen will. Die Gewalt des Sowjetkommunismus gegen die abzuschaffenden „Eigentümer“ war ebenso bürokratisiert und total – nur mit anderer Begründung: Nicht „Rasse“ als Träger eines zivilisatorisch-ethischen Fortschritts, der quasi zum rohen Tribalismus zurückgebaut werden sollte, sondern „Klasse“ als Träger des dem „Reich der Freiheit“ entgegenstehenden Eigentums wurde als Opferkategorie zu Tötung freigegeben.
Diese Feststellung relativiert nichts. Der Holocaust bleibt singulär in seiner gedanklich zugespitzten Radikalität – weil er, wie Heinsohn zeigt, die Ethik des Lebens selbst zerstören wollte. Aber für die Opfer – für die erschossenen Kosakenkinder, die im Zug erfrierenden litauischen Lehrerinnen, die verhungerten Bauern in der Ukraine – war es am Ende gleichgültig, ob sie wegen ihrer „rassischen“ oder „sozialen“ Herkunft ausgelöscht wurden. Die gedankliche Begründung spielte für das Sterben keine Rolle.
Der moralische Fehler beginnt dort, wo das Gedenken selektiv wird. Wo der Holocaust – durchaus oft auch rein politisch intendiert – einziges Bezugssystem wird – und andere Verbrechensformen bestenfalls als Randnotiz auftauchen. Diese Erinnerungspolitik schafft keine Aufklärung, sondern neue blinde Flecken. Wer Auschwitz ernst nimmt, muss auch erkennen, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der politischen Megatötungen war – und dass der Totalitarismus in seinen roten wie braunen Ausprägungen nur in ihrer Gesamtheit begriffen werden kann.
Die Anerkennung des kommunistischen Völkermordes in Europa gehört daher nicht in die zweite Reihe – sie gehört mit ins Zentrum einer ehrlichen Erinnerung. Nicht als Konkurrenz zur Shoah, sondern als deren notwendige Kontrastfolie. Denn nur wer beides sieht, erkennt die volle Tragweite des zivilisatorischen Absturzes, der im 20. Jahrhundert möglich war.
5. Ein Gedenktag der Zumutung – nicht der Selbstvergewisserung
Der 8. Mai 2025 sollte nicht zu einem staatlich inszenierten Ritual der Betroffenheit gerinnen. Er muss eine Zumutung sein – und bleiben. Das bedeutet, Auschwitz als zivilisatorisches Menetekel zu begreifen, was gleichzeitig verbietet, es für aktuelle politische Zwecke zu instrumentalisieren oder zu aktualisieren. Das bedeutet aber auch: Die Schrecken des kommunistischen Totalitarismus erkennen und benennen – als systematischen Bruch mit der Menschwürde. Der 8. Mai 80 Jahre danach fordert uns eine Erinnerung ab, die erschüttert, indem sie das Leid aller Opfergruppen anerkennt – auch der Vertriebenen, Vergewaltigten, Entrechteten.