Bildungskatastrophe: Der „große Sprung nach vorn“ im deutschen Schulsystem

Von einer Bildungsnation zum geistigen Entwicklungsland – droht Deutschland die massenhafte Nicht-Beschulung? FREILICH-Redakteur Mike Gutsing analysiert die neusten Entwicklungen in der deutschen Bildungslandschaft und skizziert mögliche Folgen.

Kommentar von
19.6.2023
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3 Minuten Lesezeit
Bildungskatastrophe: Der „große Sprung nach vorn“ im deutschen Schulsystem
Einst war Deutschland eine Bildungsnation© IMAGO / Jochen Tack

In einem aktuellen Blogbeitrag zum Thema der Schulbildung konstatiert der durchs Berufsverbot in den vorzeitigen Ruhestand versetzte ehemalige Lehrer Heino Bosselmann: „Seit Jahrzehnten aber reagiert die Bildungspolitik auf nachweislich schwindende Kompetenzen, indem Inhalte reduziert, Anforderungen gesenkt, Maßstäbe aufgeweicht und Zensuren inflationiert werden. Mit dem Erfolg, dass Wissen und Können weiter schwinden.“ Für die meisten Menschen wird diese Feststellung keine Überraschung sein, egal ob im Bildungswesen beschäftigt oder „nur“ mit eigenen Kindern. Auch dass die Überalterung der Lehrer, die maroden Strukturen der Schulen und die sinkende Bildung von Abiturienten sich verstärkende Auswirkungen auf die Ausbildung junger Menschen in Deutschland haben wird, sollte vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Nach der Einführung der „Vier-Tage-Woche“ an manchen Schulen ist es nun erneut das Bundesland Sachsen-Anhalt, das mit einer Reform in den Schlagzeilen steht. Auf der Suche nach neuen Lehrkräften bemüht sich das Land nun erstmals auch um Personen, die nicht nur keine ausgebildeten Lehrer sind, sondern auch um solche, die überhaupt keinen Hochschulabschluss haben.

Diese sollen vor allem die sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) „praxis- und lebensweltorientiert“ an die Schüler vermitteln, so Bildungsministerin Eva Feußner (CDU). Kritiker dürfen nun völlig zurecht fragen: „Was macht die CDU-Bildungsministerin eigentlich so beruflich?“, denn immerhin stellt diese Entscheidung das bisherige System aus Schul- und Lehrerausbildung praktisch auf den Kopf. Doch das Bildungsministerium sieht sich offenbar in Zugzwang, immerhin sind knapp 1.000 Stellen unbesetzt. Mit fehlenden Lehrkräften verteilt sich die zu leistende Stundenzahl auf die Übrigen, gleichzeitig werden Lehrpläne regelmäßig um Stoff erweitert, nur selten wird etwas entfernt. Hinzu kommt eine erdrückende Schwammigkeit dieser amtlichen Vorgaben, besonders die Fachlehrer der Geisteswissenschaften wie Deutsch und Geschichte sind häufig mit dem Problem konfrontiert, dass der Lehrplan zu viel als zu wenig ermöglicht.

Das wacklige Schulbein

Auch die eingangs erwähnte Vier-Tage-Woche für Schüler ist nur auf den ersten Blick eine Entlastung für Lehrer und Schulen. Für den fünften Tag fällt entweder ein mehr an Hausaufgaben oder zusätzliche Stundenvorbereitung für die Lehrkräfte an. Von dem „Erfolg“ des Distanzunterrichts während der Corona-Schutzhaft können Kinder, Eltern und Lehrer ein ganzes Liederbuch absingen, auf die Dauer werden derartige Beschulungsformen im besten Fall einzelgängerische Sozialautisten, aber keine gesellschaftsfähigen jungen Erwachsenen produzieren. In Kombination mit Nicht-Akademikern als künftige Lehrer in Sachsen-Anhalt wäre es das Einfachste, in eine populistische Fundamentalopposition zu gehen und nun gegen die letzten Zuckungen des bundesdeutschen (Miss-)Bildungssystems zu Felde zu ziehen. Es bietet sich jedoch noch eine alternative Sichtweise auf das Thema an. Das klassische Schulsystem muss als bereits überwunden betrachtet werden. Nicht, weil es schlecht oder gar nicht reformierbar ist, sondern weil die derzeitigen politischen Entscheider nicht über die bestehenden Strukturen hinausdenken können. Die von Manfred Kleine-Hartlage so treffend analysierte Spirale aus selbstgemachten Problemen und unliebsamen Lösungen setzt seinen Marsch auch im Schulwesen durch. Selbstverständlich ist die Senkung von Anforderungen, Stichwort Mathematik-Abitur in Mecklenburg-Vorpommern, die massenhafte Einstellung von Quereinsteigern oder die Auslagerung des Unterrichts auf die Elternhäuser keine nachhaltige Lösung des Problems – das wissen auch die politischen Mandatsträger.

Jede halbgare politische Reform sollte als zwingend notwendiger Schritt verstanden werden. Hinter jeder schlechten Schule steht eine unzählbare Menge an schlechten Schulbuchautoren, Bildungsreferenten, Schulamtsmitarbeitern und so weiter. Ähnlich wie politische Lobbyorganisationen profitieren auch sie von der dauerhaften Operation am offenen Gehirn deutscher Jugendlicher durch die Reformwut der hilflosen Politik. Mit jedem neuen Beitrag zur „interkulturellen und antirassistischen Erziehung“, jeder Herabsenkung der Abitur-Anforderungen und der tagtäglichen Gängelung von Lehrkräften, Eltern und Schülern verliert das Bildungssystem an Legitimität, Funktionalität und Stabilität. Wird es einen „Tag X“ für das deutsche Schulsystem geben? Wohl kaum. Aber die durch linksliberale Gesellschaftsexperimente heraufbeschworene Selbstzersetzung wird neue Wege öffnen und neue Lösungen erfordern.

Alternative (Aus-) Bildungswege

Für Eltern oder Pädagogen gibt es nichts schlimmeres als die Zukunft ihrer Schutzbefohlenen in Gefahr zu sehen. Abhilfe schaffen können sich die Betroffenen jedoch nur selbst. Das deutsche Bildungssystem wird sich aufgrund seiner ideologischen und strukturellen Probleme „totreformieren“. Bereits vor Corona erhielten freie Lerngruppen, Privatschulen und Selbstlernportale massiven Zulauf, eine Entwicklung, die sich in den kommenden Jahren nur verstärken kann. Gleichzeitig sind jedoch auch immer mehr Menschen auf der Suche nach einem raus aus der Wirtschaft. Ob aus Alter, Überarbeitung oder einem Wertesystem, das die organische Gemeinschaft über den anonymen Bürojob stellt. Für die Zukunft könnten etwa „kommunale Privatlehrer“, die Kindern und Jugendlichen in kleinen Gruppen versäumten Schulstoff vermitteln, einen großen Zulauf erhalten. Und auch Selbstlern-Materialien, die es Eltern ermöglichen, Teile des Schulstoffs didaktisch für ihre Kinder aufzubereiten, könnten den Trend der Zerfaserung im Schulwesen beschleunigen. Für eine Gesellschaft sind derartige Transformationsprozesse nur selten angenehm. Ausgehend von der Geschwindigkeit des derzeitigen Verfalls werden sie in Deutschland jedoch nicht nur unvermeidbar, sondern auch noch zu unseren Lebzeiten abgeschlossen sein. Was danach kommt, lässt sich derzeit nicht erahnen, nur die jetzigen Verantwortlichen werden dann nichts mehr zu sagen haben.


Zur Person:

Mike Gutsing, Jahrgang 1999, hat Geschichte studiert und lebt in Mitteldeutschland. Das besondere Interesse des Korporierten gilt der deutschen Geschichte und Kultur.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.