Freilich #36: Ausgebremst!

70 Jahre Neutralität in Österreich – Noch ein Grund zum Feiern?

Österreichs Staatsräson steht auf dem Prüfstand: Zwischen Bündnistreue, moralischem Anspruch und der Frage, ob Freiheit noch etwas gilt.

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26.10.2025
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70 Jahre Neutralität in Österreich – Noch ein Grund zum Feiern?

Anlässlich des Nationalfeiertags wird am Wiener Heldenplatz wieder eine Leistungsschau des Bundesheeres zu sehen sein.

© IMAGO / Westend61

Am 26. Oktober hisst Österreich die Fahnen: Das ganze Land feiert seine Neutralität und Unabhängigkeit. An diesem Tag erklärte sich das Land zum freien Staat und schwor zugleich, sich künftig aus den Konflikten der Welt herauszuhalten. Nach Jahren der Besatzung galt dies als Befreiungsschlag: Der Staatsvertrag von 1955 brachte die Souveränität zurück und das Neutralitätsgesetz sollte sie sichern.

Vom Freiheitsversprechen zur Identitätsfrage

Aus dieser Entscheidung erwuchs ein nationales Selbstbild, das Österreich über Jahrzehnte hinweg prägte. Die Neutralität wurde zur Staatsräson und zur moralischen Signatur der Zweiten Republik. Sie versprach Unabhängigkeit und Frieden, vermittelte zwischen Ost und West und gab dem Land das Gefühl, aus der Geschichte gelernt zu haben. Dadurch hatte Österreich die Möglichkeit, sich freier von den unmittelbaren Zwängen der politischen Blöcke zu entwickeln als die Bundesrepublik Deutschland in Bonn und später in Berlin. Heute, siebzig Jahre später, stellt sich die Frage neu: Stößt die Verbindung von Neutralität und Freiheit mit der Rückkehr der großen politischen Fragen an ihre Grenzen?

Die Forderungen nach Durchsetzung der Neutralität werden heute zunehmend zur Quelle von Verdächtigungen. Steht man automatisch auf der Seite des Gegners, wenn man sich einer gemeinsamen Front verweigert? Solche Assoziationsketten führen von der Ebene der Begrifflichkeiten direkt zu den entscheidenden Fragen unserer Zeit. Es fallen grundsätzliche, staatstragende Überzeugungen mit parteipolitischen Programmen zusammen, über- und auseinander. Bislang gültige Lagergrenzen verwischen, wie zuletzt während der Corona- und Migrationskrise, auch bei diesem Thema. Hier hilft es, den Blick auf die Gruppen zu werfen, die seit über 200 Jahren zu den Beobachtern und Mitgestaltern der Politik im deutschsprachigen Raum und teils sogar darüber hinaus zählen: Die Burschenschaften. Gerade aus burschenschaftlicher Sicht bedeutet Freiheit nicht Stillstand, sondern die Entscheidung für größere Handlungszusammenhänge.

„Frei ist der Bursch“ – wenn er etwas dafür tut

Der Freiheitsbegriff der Burschenschaften ist seit deren Anfangszeit in ihren Wahlsprüchen und Symbolen verankert. Im „Handbuch der Deutschen Burschenschaft” ist die Freiheit an konkrete Bedingungen geknüpft: „Persönliche, politische und akademische Freiheit im Sinne der Verfassung kann es ohne Bekenntnis und vollen politischen Einsatz nicht geben. Wenn Bekenntnis und Einsatz fehlen, wird Freiheit dort nicht erreichbar sein, wo sie fehlt; sie wird dort untergehen, wo sie besteht.“

Dieser persönliche Einsatz, der sich letztlich auf jedes Feld übertragen lässt, ist das Erbe des Lützow'schen Freikorps aus den Befreiungskriegen. Doch dieses Verständnis ist kein Ergebnis einer ausgefeilten politischen Theorie, sondern eines romantischen Lebensgefühls. Es musste über die Epochen hinweg kultiviert und von jeder neuen Generation von Burschenschaftern mit Leben gefüllt werden. Neben der moralischen Freiheit für seine Bürger kennt der Staat nicht zuletzt den Begriff der Souveränität, der ebenfalls eng mit der außenpolitischen Haltung zusammenhängt. Nimmt ein populäres Verständnis von Souveränität als Ausgangspunkt von Überlegungen, so ist derjenige souverän, der in einer Situation nicht als erstes durch unmittelbare Handlungszwänge begrenzt, sondern die Auswahl aus mehreren abwägbaren Optionen zur Verfügung hat. Für einen Staat ist diese Entscheidungsfreiheit von existenzieller Bedeutung. Doch auch der Einzelne kann in seiner Entwicklung Schaden nehmen, wenn er weder mit der Last falscher Entscheidungen noch mit der Erhebung durch gute Entscheidungen konfrontiert wird.

Neutral, bis es unbequem wird

Dies bedeutet für das Tandem aus Freiheit beziehungsweise Souveränität und Neutralität einen kritischen Blick auf letztere. Ist die Neutralität Österreichs noch immer ein Garant für den Erhalt des Staates und den Schutz seiner Bürger? Kann sie angesichts der Beteiligung an internationalen Militärinstitutionen wie der Europäischen Sky Shield Initiative (ESSI) überhaupt noch glaubwürdig vertreten werden? Die Geschichte des Landes, das über Jahrhunderte hinweg durch die Habsburger, Deutschland, die Donau und den Balkan mit ganz Europa verbunden war, ist so wechselhaft wie seine Ziele und Interessen, seine Feinde und Verbündeten. Die zweite Republik und 70 Jahre Neutralitätsgesetz stehen knapp 35 Jahre nach Ende des Kalten Krieges vor der Aufgabe, sich entweder vollumfänglich zu einer tatsächlichen Neutralität zu bekennen oder sie aus dem moralischen Fundament des österreichischen Staates zu tilgen. Alles andere bedeutet eine ethische wie außenpolitische Bankrotterklärung.

Der Nationalfeiertag am 26. Oktober ist ein Tag, um die Freiheit, die Möglichkeit der freien Entscheidung und die Souveränität Österreichs zu feiern. Die Neutralität war der Preis für die Gewinnung dieser Freiheit und später das Werkzeug für ihren Erhalt – sie kann und sollte gefeiert werden. Neutralität darf jedoch niemals zu Untätigkeit oder gar Unfähigkeit führen, denn sonst ist die Verteidigung der Freiheit nur noch eine Illusion.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Mike Gutsing

Mike Gutsing, Jahrgang 1999, hat Geschichte studiert und lebt in Mitteldeutschland. Das besondere Interesse des Korporierten gilt der deutschen Geschichte und Kultur.

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