Russland-Experte Thomas Fasbender: „Putin muss seine Nachfolge einleiten“

Die Ereignisse des vergangenen Wochenendes rund um die Söldnergruppe Wagner lassen einige Fragen offen. Im FREILICH-Kurzgespräch erklärt der Russland-Experte Thomas Fasbender, was passiert ist und welche Optionen der russische Präsident Putin jetzt noch hat.

Stefan Juritz
Interview von
27.6.2023
/
3 Minuten Lesezeit
Russland-Experte Thomas Fasbender: „Putin muss seine Nachfolge einleiten“
Der deutsche Journalist Thomas Fasbender lebte einige Jahre in Russland.

FREILICH: Der Aufstand der Wagner-Söldner hat nur kurz angehalten. Wie bewerten Sie die Vorgänge der letzten Tage? War das ein Putschversuch oder eine Inszenierung, wie etwa Generalleutnant a.D. Roland Kather meint?

Thomas Fasbender: Es war jedenfalls keine Inszenierung des Kreml, das können wir ausschließen. Wer das annimmt, überschätzt die sogenannte Vertikale der Macht. Jewgenij Prigoschin hat sicher angenommen, dass Teile der militärischen oder politischen Elite ihm zur Seite springen. Sonst hätte er sich nicht auf seinen „Marsch auf Moskau“ begeben. Wahrscheinlich hat irgendjemand auch entsprechende Zusagen gemacht. Doch die haben sich als genauso fiktiv erwiesen wie die Zusagen, die Wladimir Putin vor seinem Angriff im Februar 2022 aus der Ukraine erhalten hat: dass man seine Armee mit Brot und Salz und Blumen empfangen wird.

Das Geschehen am Samstag war definitiv ein gescheiterter Putsch. Der erste ernsthafte Angriff auf Putins Machtstellung in 23 Jahren. Vor die Wahl gestellt, den Aufstand niederzuschlagen oder Prigoschin den Gang ins Exil zu ermöglichen, hat er sich für die mildere Variante entschieden. Allerdings wird sich noch zeigen, inwieweit Belarus ein sicheres Exil ist. Es wird sich auch zeigen, ob Putins Entscheidung die richtige war. Man darf zwar in Russland niemals nie sagen, aber ich zweifle doch, ob der reichlich schlicht gestrickte Prigoschin je wieder politisches Gewicht erlangt.

Verliert Putin langsam die Kontrolle? Schaden ihm die Vorgänge vom Wochenende innenpolitisch?

Dass er über Monate hinweg tatenlos zugesehen hat, wie ein Mann aus seiner Umgebung sich zum Usurpator aufschwingt, war Putins zweiter großer Fehler nach der Invasion in der Ukraine Anfang 2022. Die russische Führungsschicht wird darauf bestehen, vielleicht nicht morgen oder übermorgen, dass ihr Präsident eine Nachfolgeplanung aus den eigenen Reihen präsentiert.

Prigoschin war ein Underdog, ein Elitenfresser. Wenn das Establishment nicht selbst eine neue Führungsgeneration produziert, hat am Ende irgendein Prigoschin 2.0 Erfolg – ein Horror für die etablierten Strukturen. Putin muss jetzt proaktiv auf die Zukunft hinarbeiten, und das heißt seine Nachfolge einleiten. Wenn er das unterlässt, kommt der nächste Coup aus den Reihen des Establishments. Der Platzhirsch ist definitiv angezählt.

Welche Auswirkungen hat der Wagner-Aufstand auf den Ukrainekrieg?

Die Ukrainer hatten gehofft, der Aufstand spielt ihnen militärisch in die Hände. Mit dem schnellen Ende hat niemand gerechnet; es gab auch keinen Einbruch der russischen Kampfmoral. Entsprechend gering fielen die ukrainischen Geländegewinne am Samstag und Sonntag aus. Für die Russen hängt weiterhin alles davon ab, nennenswerte Offensiverfolge der Ukrainer zu verhindern. Also Vorstöße etwa nach Melitopol oder bis zum Asowschen Meer.

Danach sah es auch vor dem Putsch nicht aus. Ich glaube, Putin ist jetzt erst recht motiviert, seine ukrainischen Kriegsziele durchzusetzen. Wenn er nicht einmal seine Feldherren-Qualitäten beweisen kann, was bleibt dann übrig? Im Westen wiederum ist der Eindruck verbreitet, Putins Kompromissbereitschaft Prigoschin gegenüber sei ein Zeichen der Schwäche. Wer auf einen ukrainischen Sieg setzt, fühlt sich durch den Putsch bestärkt. Schon wird gefordert, die Ukraine jetzt erst recht mit noch mehr und noch weitreichenderen Waffen auszurüsten. Der Putschversuch bewirkt jedenfalls eine Steigerung des Eskalationspotenzials.


Zur Person:

Thomas Fasbender, Jahrgang 1957, aufgewachsen in Hamburg, gelernter Kaufmann und Journalist, Dr.phil., ist 1992 für einen internationalen Konzern nach Moskau gezogen. Aus Abenteuerlust, ein Sprung ins kalte Wasser: Kulturschock, Abwicklung altsowjetischer Joint Ventures, Überleben zwischen Inflation, Mafia, Korruption und Chaos. Vom ersten Tag an hat es gefunkt; er ist geblieben. Ab 2000 als Teilhaber einer Spinnerei und Weberei an der Wolga, später als Gründer und Chef eines Moskauer Unternehmens für Fuhrparkverwaltung. Um 2010 erwacht dann die Liebe zum Schreiben. 2014 erschien „Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens“, 2016 der Roman „Kinderlieb“, Ende 2021 dann „Wladimir W. Putin. Eine politische Biographie“. Seit 2015 lebt Fasbender als Journalist und Autor in Berlin.