Eine Bewertung der türkischen Wahlen aus deutscher Sicht

In seinem Kommentar erläutert Fabian Küble, wie die Wiederwahl des türkischen Präsidenten Erdogan aus deutscher Sicht zu bewerten ist. Dabei legt der Politologe großen Wert auf die geopolitische Bedeutung der Türkei.

Kommentar von
30.5.2023
/
7 Minuten Lesezeit

Wie nach dem Ergebnis des ersten Wahlgangs vor zwei Wochen zu erwarten war, hat sich Recep Tayyip Erdoğan bei den türkischen Präsidentschaftswahlen erneut durchgesetzt. Mit knapp vier Prozentpunkten Vorsprung konnte sich der Amtsinhaber gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu durchsetzen. Sehr zum Missfallen der hiesigen Mainstream-Medien. Denn Kilicdaroglu war der Favorit des „kollektiven Westens“. In den Wochen vor der Wahl tourten er und seine Berater durch die internationale westliche Medienwelt und warben dort mit schmeichelhaften pro-westlichen Aussagen für sich. So wollte man sich unter anderem wieder der EU annähern, die NATO stärken, Schweden in die NATO aufnehmen, sich klar gegen Russland positionieren und natürlich wieder „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stärken“. Schnell wurde Kilicdaroglu hochgejubelt, doch daraus wird vorerst nichts.

Defizite in der Türkei

Die Kritik an Erdogan ist vielfältig. Manches ist berechtigt, manches überzogen, manches innenpolitischer Natur und geht uns eigentlich nichts an. Es entbehrt nicht eines eklatanten Widerspruchs, wenn hiesige Medien Erdoğan als angeblich „undemokratischen Autokraten“ darstellen und gleichzeitig dem Gegenkandidaten bis zuletzt erhebliche Siegchancen einräumen und vom „Ende der Herrschaft Erdoğans“ schreiben. Einen Diktator kann man nicht einfach abwählen. Sicherlich ist Erdoğan alles andere als ein „lupenreiner Demokrat“ und sicherlich gibt es in der Türkei inzwischen erhebliche Demokratiedefizite, aber die gibt es bei uns auch schon lange.

Wann war in Deutschland eine Wahl zwischen zwei so gegensätzlichen Lagern zuletzt so knapp? Das ist Jahrzehnte her. Und anders als in Deutschland wurde in der Türkei der Oppositionskandidat nicht vom staatlichen Inlandsgeheimdienst bedroht, bespitzelt und denunziert. Der Vergleich macht die türkischen Defizite nicht besser, aber erstens ist es zumindest heuchlerisch, wenn eine solche Kritik ausgerechnet aus Deutschland kommt, und zweitens gehört dies zu den innenpolitischen Themen, die uns eigentlich nicht betreffen und deshalb auch nur bedingt etwas angehen.

Migration als wichtiger Aspekt

Für Deutschland ist die Migrationsfrage von besonderer Bedeutung. Die EU hat mit Erdoğan einen „Migrationsdeal“ geschlossen, ihn aber gleichzeitig immer wieder dafür kritisiert, dass er die Migranten als Druckmittel einsetzt und die EU damit erpresst. Sicherlich ist die Situation für Deutschland und die EU unangenehm, aber letztlich selbstverschuldet. Denn nur weil sich die Gutmenschen in der EU zu schade sind, selbst einen vernünftigen Grenzschutz zu betreiben und sich beharrlich weigern, die EU zu einer echten Festung Europa mit den notwendigen Pushbacks auszubauen, hat die Türkei überhaupt dieses Druckmittel. Weil die Türkei die Drecksarbeit für die EU machen soll und als vorgelagertes Bollwerk fungiert, hat Erdoğan diese Macht und natürlich nutzt er sie zum eigenen Vorteil der Türkei. Das ist sein Job und das würde wahrscheinlich jeder andere türkische Politiker auch tun. Das kann man ihm kaum vorwerfen.

Tatsächlich aber hat die Türkei viele illegale Migranten erfolgreich abgewehrt, gleichzeitig mehrere Millionen aufgenommen und damit den Migrationsdruck nach Mitteleuropa entlastet. In den letzten Tagen des Wahlkampfes hat vor allem Kilicdaroglu versucht, daraus Kapital zu schlagen und gegen die aus Sicht vieler Türken viel zu hohe Zahl von Migranten zu wettern. So plakatierte er großflächig "Die Syrer werden verschwinden“ und versprach, innerhalb eines Jahres rund 3,5 Millionen (!) syrische Flüchtlinge abzuschieben. Wenn es ihm in erster Linie darum geht, sie endlich loszuwerden, dann wäre nicht nur die Abschiebung zurück nach Syrien eine Option gewesen, sondern auch die Weiterreise Richtung Westen in die EU. Dies hätte zu einem extremen Problem für Europa werden können.

Die Türkei als geopolitischer Faktor

Erdoğan hat in den letzten Jahren zunehmend versucht, die Türkei als eigenständigen geopolitischen Akteur in der neuen multipolaren Welt zu etablieren, damit aber zwangsläufig auch den Westen vor den Kopf gestoßen. Die Rolle, die die Türkei unter Erdoğan im Ukraine-Krieg eingenommen hat, ist die eines Vermittlers. Statt wie die EU auf sinnlose Konfrontation und Eskalation zu setzen, hat die Türkei auf Verhandlungen und Dialog gesetzt und ist so zu einem wichtigen Vermittler geworden. So wurde das Getreideabkommen unter türkischer Führung ausgehandelt und im Frühjahr 2022 fanden Friedensverhandlungen statt, bei denen Russland und die Ukraine bereits kurz vor einem Friedensschluss standen, der den Krieg beendet hätte, der aber, wie wir heute wissen, durch die Intervention Großbritanniens und der USA verhindert wurde. Damit hat Erdoğan in diesem Konflikt - auch für Europa - mehr erreicht und geleistet als die EU, die immer nur stumpf und monoton mit Sanktionen und Waffenlieferungen weiter eskaliert und sich damit auch erheblich selbst geschadet hat.


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Aber auch innerhalb des Nahen Ostens, also in der unmittelbaren Nachbarschaft der Türkei, agiert die Türkei unter Erdoğan mittlerweile als Ordnungsmacht. Jedenfalls ist Erdoğan sichtlich bemüht, die Türkei in dieser Rolle zu etablieren. Diese Entwicklung ist auch aus europäischer Sicht durchaus von Vorteil. Denn in der multipolaren Welt bildet der Orient eine eigene Großregion. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Nahe und Mittlere Osten zu einem eigenständigen, in sich ruhenden und befriedeten Pol wird. Nachdem der Westen dort jahrzehntelang als raumfremde Macht für Unruhe gesorgt hat, kann diese Region nur aus sich selbst heraus zu Stabilität und Ruhe finden. Die Türkei ist dabei aufgrund ihrer Größe, ihrer im Vergleich zu den umliegenden Staaten deutlich höheren Wirtschaftsleistung, ihrer relativen Stabilität und ihrer Geschichte ein zentraler Faktor. Schließlich ist die Türkei der Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, das jahrhundertelang die zentrale Ordnungsmacht im Nahen Osten war.

Die nötige Planungssicherheit am Mittelmeer

Stabilität ist auch für Europa lebenswichtig. Eine instabile Türkei wäre eine Katastrophe für uns. Dann wäre das Tor nach Europa offen und niemand kann sagen, welche Völkerwanderungen dann nach Europa einsetzen würden. Erdoğan hat ein starkes politisches Lager hinter sich. Seine Partei, die AKP, ist klar stärkste Partei geworden und verfügt mit dem bisherigen Koalitionspartner über eine stabile parlamentarische Mehrheit. Kilicdaroglu hingegen hatte kein nennenswertes eigenes Lager und damit keine politische Mehrheit hinter sich. Er wurde von sechs völlig unterschiedlichen Parteien unterstützt, und der einzige Grund für diese Unterstützung war, dass er nicht Erdoğan war. Hätte er gewonnen, stünde er heute ohne eigene politische Mehrheit da.

Wohin solche Anti-Koalitionen führen, die nur das Ziel haben, den Amtsinhaber zu verhindern, hat man in Israel gesehen. Dort gab es von Juni 2021 bis Dezember 2022 eine Koalition aus acht Parteien unter dem neuen Premierminister Bennett. Diese Parteien verband nichts außer dem Wunsch, den amtierenden Ministerpräsidenten Netanjahu abzulösen. Fast monatlich verließen Abgeordnete die Koalition und nach nur 1,5 Jahren war sie schon wieder am Ende. Heute regiert nach Neuwahlen wieder Netanyahu. Nur nicht der Gegner zu sein, reicht nicht aus, sondern führt unweigerlich zu Instabilität. Und die kann sich weder die Türkei noch Europa leisten.

Die türkische Diaspora

Ein echtes Verdienst Erdoğans, das den „Werte-Westen“ aber natürlich besonders empört, ist sein Widerstand gegen den westlichen Wokeismus und die von ihm ausgehenden Degenerationserscheinungen. Dass er klassisch konservative Werte wie die Familie gegen die Queer-Ideologen schützt, dafür ist ihm auch aus konservativer, europäischer Perspektive Respekt zu zollen. Dasselbe gilt mit Einschränkungen auch für seinen Einfluss auf die in Deutschland lebenden Türken. Ein von Erdoğan beeinflusster konservativ-traditionalistischer Türke, der sich seiner eigenen Wurzeln bewusst ist, dürfte einem patriotischen Deutschen sympathischer sein als wurzellose, wohlstandsverwahrloste Möchtegern-Ghetto-Gangster oder identitätslose, transidente Globalisten.

Die Einflussnahme des türkischen Präsidenten auf die hier lebenden Türken schlicht zu verurteilen, greift zu kurz, denn das tut jede patriotische Regierung. Auch eine patriotische deutsche Regierung würde die Auslandsdeutschen bei der Bewahrung ihres Volkstums unterstützen. Das ist nichts Besonderes, sondern eine Selbstverständlichkeit. Dass es der BRD offensichtlich nicht gelingt, den hier lebenden Türken über ihre Herkunftsidentität hinaus eine erstrebenswerte positive deutsche Identität zu vermitteln, ist ein kollektives Selbstversagen und zweifellos eine Folge des autoaggressiven Nationalmasochismus dieser Republik. Ein Volk, das sich und seine Nation nicht liebt, kann auch keine Fremden von sich überzeugen.

Wahlergebnis ist Herausforderung und Chance

Das Verhältnis zu Erdoğan bleibt zweifellos angespannt, aber sein Wahlsieg ist aus der spezifischen Perspektive deutscher und europäischer Interessen bei weitem nicht so problematisch, wie er in den Massenmedien dargestellt wird. Vielmehr war sein Sieg in dieser spezifischen Konstellation vielleicht sogar das kleinere Übel und aus einer Zusammenarbeit können sich auch Chancen für die Zukunft ergeben. Mit Erdoğan haben wir einen Partner, der zwar nicht immer einfach ist, den wir aber aus jahrelanger Praxis kennen und einschätzen können und der damit für uns ein Stück weit berechenbar ist. Dennoch steht zu befürchten, dass Deutschland und die EU nun gegenüber der Türkei zunehmend eskalieren - ganz im Sinne der „wertegeleiteten, feministischen Außenpolitik“ einer Annalena Baerbock.

Die Türkei unter Erdoğan beschreitet derzeit wie viele Schwellenländer den Weg in die Multipolarität und damit zu mehr Souveränität und Unabhängigkeit vom Westen. Damit verstärkt und beschleunigt Erdoğan eine globale Entwicklung, von der letztlich auch Deutschland und Europa profitieren könnten, wenn sie bereit wären, in dieser multipolaren Welt als eigenständiger Machtfaktor zu agieren. Für die Idee eines von den USA dominierten kollektiven Westens war das Wahlergebnis hingegen eine Niederlage.


Zur Person:

Fabian Küble, 29 Jahre, kommt aus Baden-Württemberg und lebt in Sachsen. Er hat Politikwissenschaften studiert und ist stellvertretender Landesvorsitzender der JA Sachsen sowie Mitglied im JA-Bundesvorstand.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.