Wer mit offenen Augen durch das Leben in Afghanistan ging, hätte die Katastrophe schon kommen sehen können. Einer derjenigen war der britische Reporter Ben Anderson, der mit seiner Dokumentation „This Is What Winning Looks Like“ ein deprimierendes Bild vom Zustand der afghanischen Sicherheitskräfte zeichnete.
Bereits zum Zeitpunkt des Filmens im Jahr 2013 hatten sich viele Stammesführer und Dorfälteste mit der aufdämmenden Taliban-Herrschaft arrangiert. Aus nachvollziehbaren Gründen waren es doch die Islamisten, die die Dörfer in weiten Teilen längst beherrschten, sobald die schwer bewaffneten NATO-Patrouillen in ihren abgeschotteten Panzerkolonnen wieder abgezogen waren. Der Großteil aller Kämpfer führte ihre Angriffe auf Armee und Polizei innerhalb eines fußläufigen Umkreises ihres eigenen Heimes durch. Diese Kämpfer waren gut bezahlt, ausgerüstet und organisiert: praktisch alles, was der afghanischen Nationalarmee fehlte. Zum Dienst bei den offiziellen Streitkräften meldete sich zum großen Teil nur das Lumpenproletariat, das kaum etwas zu verlieren hatte und von korrupten und zum Teil pädophilen Kommandanten verheizt wurde.
In ihren Methoden unterschieden sie sich ohnehin kaum von den Taliban, was Folter und Sippenhaftung anbelangte. Noch schlimmer zog sich durch viele Einheiten eine Opioid-Epidemie, gespeist aus dem reichlich vorhandenen Heroin Afghanistans – und so waren die vom Westen gestützten Behörden im Land gar noch schlimmere Willkürherrscher als die Gotteskrieger selbst. Wer sich einer solchen „Schutzmacht“ ausgeliefert sieht, hätte wohl kaum selbst Lust darauf, sein Leben und das seiner Familie zu riskieren, für ein fragiles Konzept im Vielvölkerstaat Afghanistan, das nur in den Köpfen westlicher Politiker ein romantisches Gefühl im Magen aufkommen ließ. Stattdessen waren alle bodenständigen Männer, die etwas zu verlieren hatten, strikt darauf bedacht, neutral zu bleiben zwischen den beiden Kriegsparteien.
Die Dokumentation zeigt auch zahlreiche engagierte westliche Soldaten, etwa den beherzten Marines-Major Bill Steuber. Jene also, die Tag für Tag vor Ort im Feld den tatsächlichen Zustand der afghanischen Sicherheitskräfte sehen konnten und versuchten, eine Armee aus ihnen zu schweißen. An ihrem Engagement ist der Afghanistaneinsatz nicht gescheitert. Von ihnen ließen auch 3.502 ihr Leben bei Kämpfen. Viele weitere verloren Gliedmaßen bei Anschlägen und konnten ihr Leben nach dem Einsatz, ob psychisch oder physisch, nie wieder so aufnehmen wie zuvor. Zuallererst ist die Niederlage eine der Eliten, die zwar nicht den Kopf für ihre Entscheidungen hinhalten mussten, aber auch niemals eine sinnvolle Strategie oder ein politisches Ziel definierten oder ihren Soldaten die nötige und verdiente Rückendeckung zukommen ließen. Es scheiterte vielmehr daran, dass sich Politiker viel lieber beim Brunnengraben, bei Mädchenschulen und allem was schön ist, produzierten, anstatt ihre Untergebenen im Kampf gegen grassierenden Analphabetismus, Heroin, Korruption und die weitverbreitete Praxis unter Polizeikommandanten, sich minderjährige Lustknaben zu halten, zu unterstützen.
Wer sich etwas mit Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit auskennt, weiß, wie viel Geld mit ähnlicher Motivation auch in andere Entwicklungsgegenden der Welt gepumpt wurde – ohne nennenswerten Erfolg. Ganz im Gegenteil liegt die Industrieproduktion vor Ort inzwischen gar unter dem, was unmittelbar nach der Kolonialzeit dort produziert wurde. Stattdessen wurde der globale Süden zu einem Spielplatz für reiche westliche Kinder, die dort – teils von europäischen Steuerzahlern, teils von ihren wohlhabenden Eltern finanziert – ihre sozialromantischen Fantasien ausleben dürfen – die vor Ort jedoch kaum jemanden interessieren. Längst sieht man fast hinter jedem Stein „Freiwillige“ aus dem Westen, die nach ihrem „Irgendwas-mit-Menschen/Medien“-Studium die doofen Schwarzen vor dem Kapitalismus, dem Klimawandel und überhaupt allem Schlechten bewahren wollen, während die schlicht ihre Markenkleidung, das iPhone und das schicke Haus wollen. Skurriles wie eine Mittzwanzigerin, die nach ihrem Literaturstudium die ugandische Regierung bei ihren Bildungsprogrammen berät oder eine nicht viel ältere Abgesandte der Weltbank, die Wirtschaft kaum von woanders kennengelernt hat als aus Makroökonomik-Bilderbüchern und Simbabwe Ratschläge zur Währungspolitik gibt, sind keine Seltenheit.
Während sich weite Teile der Dritten Welt von Afrika über Lateinamerika zu einem Spielplatz für Reiche mit schlechtem Gewissen für die Kolonialzeit und eingebildeten Rassismus entwickelten, startete China von einem viel niedrigeren Entwicklungsniveau seinen rasanten Aufstieg zur Weltmacht, ganz ohne links-romantischen Klimbim. Ganz im Gegenteil erobert China immer mehr Marktanteile in diversen Branchen, während es sich immer mehr Rohstoffe sichert, nun auch in Afghanistan selbst, doch viel mehr in anderen Entwicklungs- und Schwellenländern. Während westliche Firmen mit unbrauchbaren Liefergesetzen geknebelt werden, die auch den Bewohnern vor Ort nichts nutzen.
Noch viel schlimmer daran: Das Beispiel Afghanistan zeigt, dass unsere regierenden Eliten in Politik und Academia nicht einfach nur abweichende, dunkle Motive hinter all ihren warmen Worten verfolgen, sondern oftmals schlicht inkompetent sind. Die aktuelle weltweite Demütigung, die auf allen Fernsehern der Welt läuft, den Vertrauensverlust seiner letzten verbliebenen Verbündeten hätte man sich – quer durch das ganze Parteienspektrum – bestimmt gerne erspart, doch hatte man schlichtweg versagt. Wem von klein auf der goldene Teppich ausgerollt wird und auf den Muttis Rockzipfel und der warme Apfelstrudel stets wartet, hat halt keine Ahnung, womit sich ein Afghane herumschlägt – Spoiler-Alarm: Es sind nicht Gendersternchen und Regenbogenzebrastreifen.
Doch während viele Länder sich China zuwenden können, bleibt die große Masse der Völker im Westen der Ignoranz dieser Eliten ausgeliefert. Beispielsweise wenn man sich ausnahmsweise mal aus dem akademischen Elfenbeinturm herausbewegt und das Multikulti europäischer Großstädte durch die rosarote Brille betrachtet. Wo sich ganze Arbeiterbezirke zu Afghanistan im Kleinen entwickeln und der Verdrängungswettbewerb härter wird – längst nicht mehr nur für die wenigen verbliebenen Einheimischen, sondern für jede Volksgruppe in diesem Mikrokosmos. Doch was kümmert es diejenigen, die weich gebettet in ihren schicken Wohnbezirken leben. Wie sagt der Volksmund: Mit vollen Hosen ist leicht stinken!
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