Selbstbestimmungsgesetz: Top-Medizinerin torpediert Gesetzentwurf

Das geplante Selbstbestimmungsgesetz (SBG) hat bereits bei seiner Ankündigung für Aufsehen gesorgt. Mit dem aktuellen Gesetzesentwurf häufen sich die kritischen Stimmen, die vor allem unsichere Jugendliche als mögliche Opfer irreversibler Entscheidungen befürchten. FREILICH-Redakteur Mike Gutsing fasst zusammen, was eine der führenden Experten auf diesem Gebiet von dem Gesetz hält und kommt zu einem überraschenden Ergebnis.

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Selbstbestimmungsgesetz: Top-Medizinerin torpediert Gesetzentwurf
Kritiker des SBG befürchten eine Beliebigkeit des Geschlechts und einen Missbrauch durch potentielle Sexualstraftäter.© IMAGO / Metodi Popow

Wohin mit dem Selbstbestimmungsgesetz? Mit dieser Frage beschäftigt sich derzeit der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestages. Der Gesetzesentwurf gilt schon jetzt als höchst umstritten, Kritiker befürchten eine Beliebigkeit des Geschlechts und einen Missbrauch durch potentielle Sexualstraftäter. In einer aktuellen Stellungnahme der renommierten Psychoanalytikerin und Professorin für Psychosomatische Medizin und Sexualmedizin an der Universität Kiel, Aglaja Stirn, wird deutlich, dass auch die Forschung erhebliche Bedenken hinsichtlich der Folgen eines solchen Gesetzes hat.

Gleich zu Beginn der rund zehnseitigen Stellungnahme hält die stellvertretende Klinikdirektorin der Schlossklinik Tremsbüttel fest, dass „ein tatsächlicher Wechsel des biologischen Geschlechts […] unmöglich ist“. Auch wenn das neue „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften” oder kurz Selbstbestimmungsgesetz nur über die Änderung des Namens verändert, scheint sich Stirn über die Tragweite der Änderung im Klaren. Sie würde es Menschen ermöglichen, ihr amtliches Geschlecht durch eine völlig unbürokratische Erklärung zu ändern, ohne wie bisher eine langwierige Prüfung durchlaufen zu müssen. Hierzu hält die Medizinerin fest: „Das Gefühl des einzelnen Subjekts soll über die Wahrnehmung der sozialen Gruppe herrschen. Dieses ist weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft gut. Auch die Bedeutung des Namens in seiner Kontinuität des Lebens ist nicht zu unterschätzen, weder für das Subjekt noch für die soziale Gruppe.“

Die Frage nach dem Selbst

Besonders Jugendliche seien in Gefahr aufgrund „sozialer Ansteckung“ identitätsbildende Entscheidungen zu treffen, die sich nicht rückgängig machen ließen – zu diesen zähle auch die Wahl des eigenen Namens. Unter dem Aspekt der Geschlechtsdysphorie, d.h. der Verhaltensstörung, bei der das biologische Geschlecht und die subjektive Wahrnehmung des biologischen Geschlechts nicht übereinstimmen, ist die Geschlechtsinkongruenz zu sehen. Auch wenn die WHO diesen psychischen Zustand, der auch als Geschlechtsinkongruenz bezeichnet wird, nicht mehr als Krankheit einstuft, sieht Aglaja Stirn in der Abweichung von der bisherigen Norm ein hohes Risiko. Sie befürchtet, dass nach einer ungeprüften Namensänderung Folgeschritte wie medikamentöse oder chirurgische Veränderungen schneller gegangen werden und damit der Weg zurück versperrt ist.

Die Kritik der Sexualmedizinerin geht jedoch über den reinen Gesetzesentwurf hinaus. Schon der Wunsch, einem anderen Geschlecht anzugehören, gehe von der wissenschaftlich unhaltbaren These aus, dass Körper und Geist zwei voneinander trennbare Teile eines Menschen seien, dass also die „richtige“ Seele im „falschen“ Körper wohne. Der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung sei demnach kein gestörtes Gefühl, sondern nicht mehr als ein Wunsch oder eine Vorstellung. Dennoch gäbe es keine Anzeichen für angeborene Rollenbilder oder Teile des Selbstbildes, die von Geburt an statisch angelegt wären, so dass man sich, so Stirn, mit seinem Körper und dem dazugehörigen Geschlecht identifizieren könne oder auch nicht – eine Änderung sei jedoch nicht möglich.

Schaden für Jugendliche nicht absehbar

Dr. Aglaja Stirn geht in ihrer Stellungnahme auch auf die Jugendlichen selbst ein. Denn sie erkennt den Einfluss der Pubertät auf das eigene Körperbild der Jugendlichen an und hinterfragt den Sinn des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung, diese unsichere Zeit mit der Möglichkeit irreversibler Schäden an Körper und Seele noch zu erschweren. Sie erkennt in diesen „pseudoautonomen“ Lösungen einen gesellschaftlichen Trend, der sich beispielsweise auch in der Fettabsaugung widerspiegelt. Ihre Einschätzung erteilt transhumanistischen Selbstoptimierungseiferern eine Abfuhr: „Gesellschaftliche Idealbilder werden immer größer und mächtiger und setzen den einzelnen mehr unter Druck. Man will dem nicht hilflos ausgeliefert sein, sondern mitgestalten, das ist das postmoderne Narrativ.“ Würde diese Logik Schule machen, befürchtet Stirn, würden auch Alter, Hautfarbe oder sogar Qualifikationen zum Gegenstand subjektiver Entscheidungen, obwohl deren Wahrnehmung weit über die Gefühlswelt des Einzelnen hinausgehe.

Eine solche Verzerrung von Mensch und Umwelt hätte auch fatale Folgen für die Gesellschaft. Die Psychoanalytikerin Stirn sieht in der Deklarationsregel des SBG die Grundlage für eine ausgewachsene kollektive Realitätsverkennung. Auch hierzu findet sie Medizinerin einen klaren Vergleich: „Es wäre so, wie wenn man einer 35 kg wiegenden Anorexia-nervosa- Patientin, die einem sagt, sie sei fett, das bestätigt und es auch so sehen soll.“ Das SBG würde zu einer dauerhaften Stresssituation führen, da niemand seiner eigenen Wahrnehmung trauen und trotz eindeutiger äußerer Merkmale nicht von der Richtigkeit seiner Vermutung ausgehen könnte. Dies könnte zu einem ernsten Problem werden, da das Selbstbestimmungsgesetz auch Bußgelder im Falle eines solchen „Deadnamings“ vorsieht.

Das Fazit der Stellungnahme fällt vernichtend aus: „Logisch betrachtet ist das SBG der Versuch, die gesamte Gesellschaft dazu zu verpflichten, auf Wunsch einzelner Personen ihre eigene Wahrnehmung zu verleugnen bzw. durch die Fiktion einer anderen Wahrnehmung zu ersetzen. […] Das Gefühl, von dem wir wissen, dass es auch flüchtig und instabil ist, täuschen kann und multikausal bedingt ist, wird zur Maxime erhoben.“ So könnte das Selbstbestimmungsgesetz auch ohne die Missbrauchsfälle, die es zweifellos geben wird, den wenigen Bedürftigen sogar schaden.