Rezension: Rote Linien – Einigkeit und Recht und Freiheit, aber auch Menschenwürde?

Anfang 2020 haben Deutschland und Österreich ihre Bürger in den Lockdown versetzt – Corona und politische Maßnahmen bestimmten fortan das Leben der Deutschen. Bernhard Grün bespricht ein Buch, das sich aus philosophisch-theologischer Sicht mit Corona, Menschenwürde und mehr auseinandersetzt.

Kommentar von
31.3.2024
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Rezension: Rote Linien – Einigkeit und Recht und Freiheit, aber auch Menschenwürde?

Es war an einem Donnerstagnachmittag im März 2020. Ich erinnere mich genau: Ich war auf Notarzteinsatz, als ich erfuhr, dass der Ministerpräsident für den nächsten Tag eine Regierungsansprache angekündigt habe. Damit war klar – jetzt wird es ernst. Sofort, unverzüglich beorderte ich den auswärts studierenden Sohn zurück nach Hause. Es war anzunehmen, dass angesichts eines drohenden Ausnahmezustands wegen der anrollenden Virusepidemie die Bewegungsfreiheit von einem Tag zum anderen drastisch eingeschränkt würde. Tief in der Nacht kam der Sohn im Zug zu Hause an. Er war der Einzige, der ausstieg. Niemand hatte ihn kontrolliert; kurzerhand war er ohne Fahrkarte gereist. Binnen weniger Tage verfiel das Land einem lähmenden Dauerschlaf. Kaum mehr Menschen und Autos auf den Straßen. Das Leben stand still. Angst und Verunsicherung breiteten sich aus; wer konnte, blieb im flugs eingeführten Homeoffice (der Begriff bedeutet im Englischen Heimatministerium, mit dem heimischen Büro hat er nichts zu tun) brav zu Hause.

Dann endlich zur Jahreswende 2021 die vermeintlich erlösende Impfung für alle – Alte und Kranke und Beschäftigte im Gesundheitswesen zuerst. Spätestens Mitte 2021 dann war klar: Alle Schutzmaßnahmen – wie in Großbritannien, wo seit dem 19. Juli 2021 fast sämtliche Freiheitsbeschränkungen aufgehoben wurden – waren von nun an eigentlich obsolet, eine Durchseuchung der Jüngeren auf natürlichem Wege praktischerweise sogar wünschenswert. Jetzt aber drehte die Politik erst richtig auf und trieb das aufgestachelte Volk auf Straßen, Plätzen und Parkbänken vor sich her und verbannte sie zurück in ihre Wohnungen, wo sich das Virus noch ungehemmter ausbreiten konnte als gewollt. Wasserwerfer gegen friedlich demonstrierende Omas, verstörende Bilder überbordender Polizistengewalt aus der Hauptstadt Berlin. Quo usque tandem?

Fragwürdige Entscheidungen der Politik

Heute im Jahr 2024, dem zweiten (!) Jahr seit Beginn des Ukrainekriegs, vermag kaum einer mehr an eine solche Zeit, zu Neudeutsch bemäntelt als Lockdown, im Rückblick zu glauben – die Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte zumal, die schikanöse Gängelung, die ein Querdenkertum nachgerade befeuerte, alternativ- und endlose TV-Diskussionen mit ausgewählten Experten, Wissenschaftlern wie Politikern. Die drohende Impfpflicht. Die Ausschaltung von Bundestag und Bundesrat durch eine grundgesetzlich nicht vorgesehene Ministerpräsidentenkonferenz. Imaginäre Abstandsregeln, strenge Maskenpflicht im Freien, penible Hygienekonzepte, dystope 2G- und 3G-Regeln, die einem Science-Fiction-Autor noch zur Ehre gereicht hätten.

Und die Kirchen reihten sich stumm ein, Gottesdienste in leiblicher Gestalt fanden nicht mehr statt, Geistliche gingen auf Distanz und überließen die Herde in ihrer Hilflosigkeit sich selbst. Die staatlichen Maßnahmen wurden von den Kirchenoberen in vorauseilendem Gehorsam bedingungslos exekutiert, die Amtskirche war Partei. Freilich, es gab auch lobenswerte Ausnahmen! Aber wo war die vernehmbare Stimme der Theologen, die moralisch fundierte Maßstäbe für ethisches Handeln in der größten Krise seit den Schöpfungstagen der Bundesrepublik hätten setzen können?

Die Autoren Oleg Dik, vergleichender Religionswissenschaftler, Jan Dochhorn, Neutestamentler und Exeget, und Axel Bernd Kunze, Sozial- und Bildungsethiker, alle drei aus dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, haben gerade deshalb dieses noch immer in der Debatte heiße Eisen mit verschiedenen Ansätzen und Methoden in ihrem neu erschienenen Buch Menschenwürde im Intensivstaat. Theologische Reflexionen zur Coronakrise bewusst aus Perspektive ihrer gemeinsamen theologischen Disziplin angefasst. Die Leitbegriffe hierbei lauten: 1. die Freiheit des Einzelnen, 2. die Notwendigkeit des Staates und 3. die Frage nach Gott und seinem Verhältnis zum Menschen. Während Kunze staatliches Handeln rechtsphilosophisch einzugrenzen sucht, analysiert Dochhorn Paradoxien im gesellschaftlichen Diskurs. Dik bettet die Frage der Menschenwürde in die Fleischwerdung Jesu in der Eucharistie ein.

Die Menschenwürde im Coronastaat

Ihre erschreckende Erkenntnis – wie bedenkenlos über alle grundgesetzlichen Hürden hinweg der Rechtsstaat von den Funktionären der Macht weggeklickt wurde. Wie unbekümmert wohlfeile Begründungen gefunden wurden, wie erbarmungslos Politik gegen die „Pandemie der Ungeimpften“ in Gang gesetzt wurde. Sprache kann diabolisch sein. Dabei verbleiben Kunze, mit zwei Aufsätzen vertreten über „Gesprächsstörungen – Eine sozial- und bildungsgeschichtliche Ursachensuche“ und „Intensivstaat und zivilgesellschaftliche Staatsbedürftigkeit – Sozial- und freiheitsethische Betrachtungen“, Dochhorn mit einem einführenden Kapitel und über „Paradoxologia Theologica. Ansätze zu einer Gesellschaftskritik aus theologischer Sicht“ sowie Dik über „Die zerrissene Menschenwürde. Corona als Symptom einer theologischen Krise“, mit ihrer Kritik vorrangig auf der staatlichen Ebene, gehen wenig auf Reaktionen und Stellungnahmen der Bischöfe ein, den Kollaps der Seelsorge dort, wo man ihrer am meisten bedurft hätte. Auch das Versagen eines allzu willfährigen Deutschen Ethikrats der Bundesregierung in der Impfzwangsdebatte gehörte aufgearbeitet und zur Sprache gebracht. Die Impfung überhöht zum Kommunionersatz, die unheilige Stigmatisierung Andersdenkender. Die Angst – und nicht der Ekel, wie von Dik apostrophiert – ist eine der stärksten Triebfedern menschlichen Handelns.

Dabei wäre die Stimme gerade der Kirchen in der Krise – und angesichts eines freiheitsvergessenen Intensivstaates – essenziell gewesen. Dabei geht es nicht bloß um sophistische Fragen der Theologie, sondern die Wahrung konkreter Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber einem übergriffigen, da übermächtigen Staat. Wo war ihr Protest, ihr Zeugnis, ihr: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ Wo ihr Eintreten für die Schwächsten? Wo die Mahnung zu Maß und Besonnenheit? Stattdessen auch hier die unbarmherzige Segregation in Gut und Böse, Geimpfte und Ungeimpfte. Die zwangsweise Vereinzelung hat tiefe Gräben in der Psyche vieler hinterlassen. Dürfen wir so weitermachen wie zuvor? Ausnahmesituationen rechtfertigen keine „Sonderethik“, wie Kunze schreibt. Selbst innerkirchliche Kritik wie im Buch „Angst, Politik, Zivilcourage“ wurde ängstlich unterbunden. Dabei müssten die schleichende Angleichung der Systeme in Ost und West, die Regulierungswut des Staates, die Kriminalisierung abweichender Positionen zu denken geben, Warnsignal sein.

Philosophisch-theologische Grundfragen

Insofern ist das teilweise in philosophisch-theologischen Betrachtungen abschweifende Buch eben doch eine Bereicherung der Debatte, Vorstoß in ungesichertes Gelände. Die Autoren wagen sich aus der Deckung, tasten sich suchend vor, geben ihre Sicht preis, argumentieren mit offenem Visier und setzen sich Kritik aus. Ihr Maßstab: die Menschenwürde, hergeleitet aus der Ebenbildlichkeit Gottes, im Gegensatz zu einem materialistischen Menschenbild, das den Mensch zum Gott, zum Maßstab aller Dinge macht.

Im modernen säkularen Staat, in dem flächenhaft soziale und religiöse Bindungen erodieren, wäre gerade die Kirche mit einem untrüglichen Kompass und einem verlässlichen Wertegerüst gefragt, um die Würde des Menschen in Zeiten der Krise neu zu formulieren.

Die Frage nach dem Weg unserer Gesellschaft in die Zukunft bleibt aber nicht bei Corona stehen. Wir erleben aktuell, wie ein maßloser Staat in alle Lebensbereiche hineinregiert und die Gesellschaft unter ein fragwürdiges Paradigma „unserer Werte“ und „unserer Demokratie“ stellt. Wir müssen uns mit der Frage nach einer autoritär gelenkten Elitendemokratie, die Abweichlertum und Opposition nicht duldet, vermeintlich eherne Rechtsgrundsätze in ihr schieres Gegenteil pervertiert, und der schrittweisen Transformation in eine Plan- und Mangelwirtschaft auseinandersetzen. Das Klima ist vergiftet. Das Ende aller Individualität, der Höhepunkt der Inhumanität. Wachsamkeit und Resilienz sind gefordert. Lasst uns darüber nachdenken, miteinander reden, besonnen dagegen handeln.

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Zur Person:

Bernhard Grün ist ein Studentenhistoriker.


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