Kinohit „Suzume“ – ein konservatives Märchen im modernen Gewand

Der dritte Film des japanischen Regisseurs Makoto Shinkai zählt in seinem Heimatland bereits zu den erfolgreichsten Anime-Filmen aller Zeiten. Was auf den ersten Blick wie eine animierte Jugendfantasie aussieht, entpuppt sich jedoch als tiefer Blick in die japanische Seele.

Kommentar von
19.4.2023
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4 Minuten Lesezeit
Kinohit „Suzume“ – ein konservatives Märchen im modernen Gewand
Regisseur Makoto Shinkai© IMAGO / ZUMA Wire

Wer mit dem Namen Makoto Shinkai nichts weiter verbindet, den wird auch die Ankündigung eines neuen Films aus dem Hause Comix Wave Films nicht sonderlich berühren. Im asiatischen Raum, aber auch unter westlichen Fans japanischer Popkultur gilt Shinkai seit Jahren als Geheimtipp für exzellente Filme. Vor allem seine letzten drei Werke schafften den Sprung auf den europäischen und US-amerikanischen Markt und machten den Anime-Regisseur über Nacht zum Senkrechtstarter der Szene. Das liegt nicht zuletzt an seinem unverkennbaren Zeichenstil, der die hyperrealistische Darstellung von Objekten mit malerischen Wolken- und Naturpanoramen verbindet.

Doch nicht nur optisch setzt der 50-jährige Anime-Zeichner neue Maßstäbe. Mit „Suzume“ setzt Shinkai ein Thema seiner letzten beiden Filme fort: den Umgang und die Verarbeitung von Katastrophen. Während „Your Name“ die Folgen eines kosmischen Wetterphänomens thematisierte und „Weathering With You“ den Einfluss des Menschen auf das Wetter behandelte, verarbeitet „Suzume“ die kollektive Erfahrung des japanischen Volkes mit Erdbeben. Zuletzt kamen beim Tohoku-Erdbeben 2011 rund 19.000 Menschen ums Leben, Tausende gelten bis heute als vermisst.

Die Katastrophe im Fokus

Hier setzt der Film ein: Die 17-jährige Suzume lebt mit ihrer Tante in einer ruhigen Stadt im Südwesten Japans. Auch dort hat es Erdbeben gegeben, bei denen Suzumes alleinerziehende Mutter ums Leben kam. Auf dem Weg zur Schule begegnet die Oberschülerin einem jungen Mann, dessen Aussehen sie sofort in seinen Bann zieht. Die Frage nach einer Tür in den verlassenen Ruinen eines nahe gelegenen, vom Erdbeben zerstörten Badehauses macht Suzume neugierig und so folgt sie dem Unbekannten.

In den Ruinen findet sie zwar nicht den geheimnisvollen Fremden, dafür aber die Tür. Als sie die Tür durchschreitet, wird sie Zeuge einer fremden Welt, in die sie nicht eintreten kann. Bei ihren Versuchen löst sie einen Stein, der sich erst in Eis und dann in ein fliehendes Wesen verwandelt. Suzume ist verunsichert und kehrt in die Schule zurück. Von dort aus sieht sie später ein Wesen aus den Ruinen steigen, das niemand sonst erkennen kann, und die Stadt wird von einem Erdbeben erschüttert. Sie kehrt zu den Ruinen zurück, wo der junge Mann das Tor, aus dem das Wesen kommt, schließen will. Zusammen mit Suzume gelingt es ihm, das Tor zu schließen, und der Wurm verschwindet.

Eine Halbwaisin in einer Ruine

Spätestens an dieser Stelle wird der Zuschauer von der lebensweltnahen Handlung in den Bann gezogen. Denn die Aufgabe des ungleichen Paares besteht nicht darin, die Naturkatastrophen rückgängig zu machen oder gar die Ursachen in der Geisterwelt zu bekämpfen. Das Versiegeln der magischen Tore bedeutet vor allem ein Akzeptieren des Geschehenen und einen Abschluss für die Seelen, die an den zerstörten Orten in ganz Japan ihr Leben verloren haben.

In einer vertrauten und doch erfrischend neuen Mischung aus Fantasy, Jugenddrama und Roadtrip-Film erlebt der Zuschauer eine Reise über die japanische Insel. Begleitet von den malerischen Panoramen Shinkais, der zauberhaften Filmmusik und den immer wieder eingestreuten Japan-Pop-Songs trifft die Protagonistin Suzume nicht nur auf allerlei einzigartige Menschen, sondern findet auch einen Weg, das Trauma ihrer frühen Kindheit zu verarbeiten.

Vergangenheit und Gegenwart sind nicht getrennt

Wie zuletzt in dem kulinarischen Filmkrimi „The Menu“ gelingt „Suzume“ das Kunststück, den Zuschauern nicht mehr abzuverlangen, als sie bereit sind, in den Film zu investieren. Wer also wegen einer unterhaltsamen Geschichte und dem Eintauchen in die bunte Welt des Anime-Stils ins Kino geht, wird nicht enttäuscht. Aber der Film hat noch mehr zu bieten: Wie schon in seinen letzten Filmen spielt der Regisseur und Drehbuchautor mit verschiedenen Motiven der japanischen Folklore und ihrer shintoistischen Religion.

Dabei gelingt ihm ein für westliche Verhältnisse monumentales Kunststück: „Suzume“ transportiert ein glasklar konservatives Weltbild mit einer eindeutigen Botschaft an den Zuschauer. Im entscheidenden Unterschied zu den nur allzu gerne belehrenden, vor allem staatsnahen Medien lässt Shinkai den Knüppel im Sack und greift stattdessen zum Skalpell. Mit chirurgischer Präzision setzt der Film Versatzstücke konservativen Denkens in das Gesamtwerk ein.

Katzen retten die Welt

Ein Beispiel dafür ist der bereits erwähnte Wurm. Die mythologischen Hintergründe bleiben für den uneingeweihten Zuschauer weitgehend im Dunkeln, der Film hält die Grenzen zwischen realem und fiktivem Volksglauben für das westliche Publikum verschwommen. Der besagte Wurm, ein unkontrollierbares und nicht logisch denkendes Wesen aus einer benachbarten Dimension, bahnt sich immer wieder seinen Weg in die Welt der Sterblichen und löst dabei verheerende Naturkatastrophen aus. In der Regel wird dieser Wurm jedoch von zwei Katzen gehalten, die in der japanischen Kultur häufig als Schutzgottheiten verehrt werden.

Trotz des Engagements der Protagonistin Suzume und der Fähigkeiten des jungen Mannes sind es am Ende nicht sie, die den Wurm aufhalten können. Sie müssen die Katzen wieder in ihre Schranken weisen, nur so können die Erdbeben langfristig gestoppt werden. Die Begrenztheit des menschlichen Einflusses auf die Welt, das „Sich-führen-Lassen“ und die freiwillige Akzeptanz höherer Mächte sind nicht nur tief religiöse, sondern auch konservative Werte. Das Unveränderliche zu akzeptieren und dennoch „das Schwert zu halten“, die Pflicht zu tun und einen Weg zu finden, ist ein Thema, das sich wie ein mystischer Wurm durch den Film zieht und immer wieder an verschiedenen Stellen auftaucht.

Ein konservativer roter Faden

Dennoch ist „Suzume“ kein spießiger Film – die Figuren sind fast ausnahmslos an den Rändern der Gesellschaft angesiedelt, die Protagonistin selbst eine Ausreißerin auf der Suche nach Heimat. Jedoch kennen Regisseur und Film ihre Wurzeln, und die sind fest in der japanischen Kultur verankert – gerade das macht den Film auch für Europäer und ein Nicht-Anime-Publikum interessant.

Makoto Shinkai gibt uns einen Einblick in eine Kultur, die sich selbst nicht vergessen hat und auch den Weg zu neuen Formen nicht scheut, ohne ihren Kern zu verlieren. Der Film wirft auch ein Schlaglicht darauf, wie eine freiheitlich-patriotische Kulturproduktion aussehen könnte. Aber auch abseits der Kulturtheorie ist „Suzume“ schon jetzt einer der besten Filme des Jahres. Eine klare Empfehlung für Anime-Fans und alle, die noch nie etwas mit Animes zu tun hatten.


Zur Person:

Mike Gutsing, Jahrgang 1999, hat Geschichte studiert und lebt in Mitteldeutschland. Das besondere Interesse des Korporierten gilt der deutschen Geschichte und Kultur.

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