Bayerischer Neubauviertelprotestantismus: Nichts ist uns heilig

In Kürze erscheint die neue Ausgabe der Kehre mit dem Titel „Christentum und Ökologie“. Volker Zierke nimmt dies zum Anlass, in seinem Kommentar für FREILICH auf seine eigene Vergangenheit in der Kirchengemeinde zurückzublicken.

Kommentar von
27.2.2024
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4 Minuten Lesezeit
Bayerischer Neubauviertelprotestantismus: Nichts ist uns heilig
Evangelische Kirche St. Martin in Memmingen & Volker Zierke© IMAGO / imagebroker

Ich wollte mich nie einfügen. Nur nicht wie die anderen sein. Dafür, dass ich ins schulisch verordnete Skilager fahre und dort bleibe, ließ ich mir eine hohe Prämie in Aussicht stellen. Es hat nichts geholfen. Einige Jahre später dann wieder hohe materielle Anreize, um sich konfirmieren zu lassen. Weil man das eben so macht. Überraschung: Ich ließ mich konfirmieren, kassierte den Preis – und blieb der Gemeinde über Jahre hinweg als Mitarbeiter erhalten. In wenigen Tagen wird die neue Ausgabe der Kehre mit dem Titel „Christentum und Ökologie“ verschickt. Zeit, zurückzublicken.

Protest auf bayerisch

Erzählt man Nicht-Bayern, dass man in Bayern auf ein katholisches Klostergymnasium gegangen ist, dann ist das oft schon das Ende der konservativen Fahnenstange. In Bayern – das ist dort, wo die Kruzifixe noch an der Wand hängen und man seine Frau schlägt. Ungefähr die Hälfte davon ist wahr (ich sage aber nicht welche). In Bayern ist man als Protestant ein Rebell, so heißt es. Ganz richtig ist das zwar nicht, aber auch das bayerische Schwaben ist (obwohl es technisch gesehen nicht zu Altbayern gehört) in meiner damaligen Wahrnehmung katholisch dominiert gewesen. Auf ein katholisches Gymnasium durften evangelisch Getaufte gehen, soviel Toleranz muss sein (Juden, Muslime und Atheisten übrigens nicht), aber die Konfirmation und vor allem zu den darauf vorbereitenden „Konfi“-Stunden waren erst im über-über-nächsten Dorf möglich. Was dort, im Illertal, ungefähr 15 Kilometern und 20 Autominuten entspricht.

Es ist seltsam: Obwohl alle in Bayern Katholiken sein sollen, sind auch alle Atheisten. Vor allem in den rasch wachsenden Neubauvierteln mit vielen „Neigschmeggten“, Zugezogenen und vermeintlich gebildeten Kindern der örtlichen Bauern ist der Atheismus die wohl verbreitetste Glaubensvorstellung gewesen (man kann den Wert eines Menschen übrigens daran bemessen, ob er zur musikalisch-argumentativen Untermalung dieser Ansicht „Kirche“ von den Böhsen Onkelz heranzieht oder „Frische Blumen“ von Zaunpfahl) – weil das so war, hasste ich den Atheismus mehr als den Katholizismus. Die Katholiken waren mir egal, dass ich protestantisch getauft war, hat mit meinen familiären Zusammenhängen zu tun; die Atheisten aber stehen bis heute für das Neubauviertel und ihre Bewohnerschicht, die in Stuttgart oder München arbeitet, sich hässliche postmoderne Kunst vor grüne Kunstledersofas hängt und Steingärten pflegt. Das „nicht an Gott glauben“ wird einem im bayerischen Neubauviertel sehr einfach gemacht. Ausweg: Einfach mal an Gott glauben.

Die Lösung ist doch nicht so simpel

Stellt sich fest: Das ist gar nicht so einfach. Heute werfe ich vielen „traditionellen Christen“ vor, sich lieber in der Rolle des traditionellen Christen gefallen zu wollen, als tatsächlich einfach Christ zu sein. Christ sein, das ist kein bloßer Akt des Widerstands, sondern eine modische Selbstversicherung, doch noch auf der richtigen Seite zu stehen. Vielleicht war das bei mir auch so. Immerhin war ich nicht wie die anderen, die Atheisten, die Nicht-Gläubigen. Und es stimmt: Es gibt ja diesen Typus des Atheisten, der seinen Nicht-Glauben von der naturwissenschaftlichen Nicht-Nachweisbarkeit eines Gottes ableitet. Der nicht bereit ist zu glauben, dass irrationale Dinge in seiner rationalen Wahrheit existieren könnten. Fünf Jahre Mitarbeit in einer evangelischen Gemeinde muss man sich vorwerfen lassen, aber nicht, jemals auf der Seite der vulgären Religionskritiker gestanden zu haben.

Fairerweise muss man sagen: Es gab Versuchungen. Zweifel an der Religion ist als Christ in Ordnung, praktizierende Christen als Menschenschlag aber nicht. Schlimme Abgründe tun sich auf, und damit sind nicht einmal politische Predigten gemeint (die es dort übrigens nicht gab). Die christliche Gemeinde, wie ich sie kennengelernt habe, speist sich aus genau demselben Menschen-Pool, dem man vorher versuchte, im Neubauviertel zu entkommen. Jesus, der Menschenfischer, schart die Freakshow um sich. Jeanshosen-Bügler. Nichtficker. Sogar Zuwanderer aus Nordrhein-Westfalen. Vielleicht ist es schon ein grundlegender Fehler, nicht aus theologischen, sondern aus sozialen Gründen in den Glauben zu flüchten – denn am Ende bekommt man Antworten auf Fragen, die man nie gestellt hat.

Eine Antwort ist vielleicht doch nicht erwünscht

Vielleicht ist es auch ein grundlegender Lerneffekt, dass mit den Institutionen und Kirchen der alten Bundesrepublik kein Staat und keine Gemeinschaft mehr zu machen ist. Es hat lange gedauert. Es war nicht alles schlecht. Zweimal im Jahr waren wir mit den Jugendlichen am Boden- und Forggensee. Unser Pfarrer hat großen Wert auf Geländespiele gelegt; wir waren draußen auf der Suche nach Gott. Auf einer Bergwiese versuchte er einer Horde 13-Jähriger Wissen um die Archetypen C.G. Jungs mit auf den Weg zu geben. Aber es passt nicht recht zusammen mit der mediokren Gemeinde, die genauso ist, wie mein Neubauviertel, das aussieht wie aus einem Fiebertraum der frühen 2000er, wie Hundertwasser für Arme, wie der Bezug des Sofas, das jeder von euch im Wohnzimmer seiner Kindheit stehen hatte. Es ist nicht unpraktisch, dieses Sofa, auch nicht dessen Bezug, der wohl dafür sorgen soll, dass man die Kotze nicht sieht. Es ist gemütlich, es gehörte zu unserer alten Wohnung dazu. Aber irgendwann muss es eben raus.

2012 habe ich die Jugendarbeit aufgegeben und der Kirche den Rücken zugekehrt. Das Bräsige, das Durchschnittliche und Bürgerliche waren zu stark gewesen. Ich war es satt, mir über die Tageslosung aus dem Korintherbrief Gedanken zu machen oder Vorträge der Marke „Krieg – was sagt die Bibel dazu?“ zu hören. Wenn man Glauben nicht wie seine Muttersprache erlernt, sondern der Haltung wegen auswählt, dann wird’s meistens nichts.

Drei Jahre später bin ich aus der Kirche ausgetreten. Es hat noch ein paar Versuche gebraucht, bis man findet, was ohnehin in einem schlummert. Der Glaube an Jesus ist es nicht, er passt nicht zu mir. Er schlummert aber auch nicht in den Menschen da draußen. An Jesus zu glauben, ist okay. Aber man sollte sich keine Revolution davon erwarten. Nicht einmal für sich selber.


Volker Zierke, Jahrgang 1992, ist ein junger Autor. Nach Schule und Abitur zog es den gebürtigen Schwaben als Zeitsoldat zur Bundeswehr, bevor er 2015 zur Deutschen Militärzeitschrift wechselte. Seit 2018 ist er als selbständiger Autor, Journalist und Politikberater in Dresden tätig.

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