WM-Boykott? Wenn, dann aus anderen Gründen!

Die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar startet am heutigen Nachmittag. Dabei steht die WM aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort unter starker Kritik, manche Akteure rufen sogar zu einem Boykott auf. Freilich-Autor Tomasz M. Froelich weist bei der ganzen Hysterie auf einen wichtigen Fakt hin: der fehlenden Fußballkultur in Katar.
Tomasz M. Froelich
Kommentar von
20.11.2022
/
2 Minuten Lesezeit

Weltmeisterschaften sollten von Ländern ausgetragen werden, die eine gewisse Fußballtradition haben. Katar hat diese nicht – und sich deshalb vermutlich auch die WM-Austragung gekauft (wie andere Gastgeberländer zuvor schon auch). Deshalb, vor allem aber aufgrund der fortschreitenden Normopathie des westlichen Profisports werde ich diese Weltmeisterschaft weniger euphorisch verfolgen als die letzten WMs und denjenigen Nationalmannschaften die Daumen drücken, die sich der Dressur dieses verlogenen Menschenrechtsimperialismus widersetzen, etwa indem sie nicht ethnomasochistisch für einen Kriminellen niederknien oder mit Regenbogenbinden auflaufen.

Respekt vor katarischer Kultur statt konformistische Rebellion

Gegen Katar an sich habe ich nichts. Und auch nicht gegen das dortige Gesellschaftsmodell, sofern es uns hierzulande nicht aufgezwungen wird. In unseren Medien hingegen wird Katar vorgeführt, weil es nicht so ist, wie Annalena Baerbock es gerne hätte: Dort gibt es tatsächlich nur zwei statt 60+ Geschlechter. Dort wird nicht über Pubertätsblocker und Hormontherapien für Minderjährige sinniert. Es gibt dort keinen Christopher Street Day. Und auch keine schwangeren Männer. Ist das schlimm? Eigentlich nicht. Aber für postmoderne Linke ist das unerträglich. Deren Toleranz gilt eben nur Gleichgesinnten. Widerspruch ertragen sie nicht. Und deshalb schäumen sie vor Wut, wenn sie von Katar hören.

Mehr Größe hat da der französische Nationaltorwart Hugo Lloris, der jüngst bekannt gab, auf ein Dasein als konformistischer Rebell zu verzichten und in Katar ohne Regenbogenbinde aufzulaufen: „Wenn wir in Frankreich Ausländer willkommen heißen, wollen wir oft, dass sie sich an unsere Regeln halten und unsere Kultur respektieren (mit mäßigem Erfolg, Anm.: T. F.) – und ich werde dasselbe tun, wenn ich nach Katar gehe. Unabhängig davon, ob ich mit ihren Ideen einverstanden bin oder nicht, muss ich Respekt entgegenbringen.“ Das ist Anstand.

Das Märchen von den 15.000 „WM-Toten“

Besonders widerwärtig ist, wie der gegen Katar gerichtete Menschenrechtsimperialismus Tote instrumentalisiert, um seine Botschaft zu verstärken. So wird etwa von über 15.000 „WM-Toten“ schwadroniert. Damit gemeint sind Gastarbeiter, die während der WM-Bauarbeiten gestorben sind.

Woher kommt diese Zahl? Laut katarischen Statistiken sind etwa 15.000 Menschen nicht-katarischer Staatsangehörigkeit seit der WM-Vergabe 2010 bis zum Jahr 2020 gestorben. Damit sind aber alle in dieser Zeit in Katar verstorbenen Ausländer gemeint. Sie zu „WM-Toten“ zu erklären ist in etwa so, als ob man vor der Europameisterschaft 2024 in Deutschland jeden in diesem Land in einem Zeitraum von zehn Jahren verstorbenen Ausländer zum „EM-Toten“ erklären würde. Absurd. Tatsächlich gestorben sind in Katar offiziellen Angaben zufolge drei Gastarbeiter bei und 37 weitere während oder nach der Arbeit. Auch das ist tragisch und die Dunkelziffer mag sogar höher liegen. Aber höher als während der Bauarbeiten zur WM in Brasilien 2014 oder zur WM in Südafrika 2010? Das darf bezweifelt werden.

Sport am falschen Ort

Keine Fußballkultur, keine Fankultur – wenn, dann sind das geeignete Gründe für einen Boykott der WM. Denn Fußball-WM in Katar ist so wie Skispringen in den Bergen von Ruanda: Sport am falschen Ort. Dass sich Katar trotz großen Drucks der westlich-bunten Regelbasiertheit widersetzt, ist hingegen begrüßenswert.


Zur Person:

Tomasz M. Froelich, Jahrgang 1988, ist gebürtiger Hamburger und arbeitet bei der ID-Fraktion im EU-Parlament. Der studierte Ökonom und Politologe ist zudem seit 2019 stellvertretender JA-Bundesvorsitzender.

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