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Eberhard Straub: „Vielen Italienern wird die politische Reife abgesprochen“

Der Historiker Eberhard Straub sprach mit der TAGESSTIMME über die kommende Wahl am 25. September in Italien. Straub erwartet einen politischen Umbruch und kritisiert die irreführende Berichterstattung über die italienische Politikerin Giorgia Meloni.
Interview von
16.9.2022
/
6 Minuten Lesezeit
Eberhard Straub: „Vielen Italienern wird die politische Reife abgesprochen“

Eberhard Straub bei einem Vortrag. © Simon Kaupert

Der Historiker Eberhard Straub sprach mit der TAGESSTIMME über die kommende Wahl am 25. September in Italien. Straub erwartet einen politischen Umbruch und kritisiert die irreführende Berichterstattung über die italienische Politikerin Giorgia Meloni.

TAGESSTIMME: Herr Straub, am 25. September wählt Italien sein Parlament. In deutschen Leitmedien heißt es bereits, die italienische Demokratie bröckele und der Rechtsruck stehe an. Ist es nicht fragwürdig, wie leichtfertig hier Demokratien wegen einer noch nicht einmal stattgefundenen Wahl abgekanzelt werden?

Eberhard Straub: Es ist sehr unklug, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen. Wahlen sind der unmittelbare Ausdruck der Souveränität, weil der Bürger und Wähler der Souverän ist. Wie ein Souverän entscheidet, das bleibt allein ihm überlassen. Außerdem sollten die wahrhaften und wehrhaften Demokraten in der BRD, die sich für Italien nur gelegentlich interessieren, ihren pädagogischen Eifer dämpfen, Italiener zu mahnen, endlich erwachsen zu werden, richtig zu wählen und eine stabile Regierung zu ermöglichen. Unter richtig wählen verstehen sie, im Kampf gegen rechts nicht nachlässig zu werden. Denn Rechte wollen das herrschende System destabilisieren oder gar umstürzen. Deshalb sind sie keine Konkurrenten, sondern Feinde.

Es kann daher keine Alternative zum Kartell der systemrelevanten Parteien und Organisationen geben. Der Wettbewerb, die Voraussetzung jeder demokratisch organisierten Ordnung, wird in Frage gestellt. Wer rechte „Populisten“, „Nationalisten“ und „Faschisten“ wählt, stimmt gegen die Demokratie und gegen die Union der europäischen Demokratien. So einfach ist das. Einem erheblichen Teil der Italiener, der rechts wählen wird, sprechen solch lupenreine Demokraten die politische Reife ab und überhaupt die Eigenschaft, Demokraten zu sein. Eine rechte Mehrheit teilt „unsere Werte“ nicht, stürzt den Euro in die Krise und bringt die EU als Verantwortungsgemeinschaft durcheinander. Das müssen Italiener unbedingt bedenken, um nicht den Untergang des Abendlandes zu verschulden. 

Bevor wir über die Gewinnchancen des rechten Lagers sprechen, wollen wir uns erst einmal dessen Protagonisten genauer anschauen. Was ist eigentlich aus Matteo Salvini geworden, jenem Politiker, der vielen europäischen Rechten lange als Vorbild diente? Hat die Regierungsbeteiligung ihm seine Strahlkraft geraubt?

Matteo Salvini will, wie viele Italiener, immer besonders schlau sein. Schließlich war Machiavelli der größte Schlaukopf unter den Italienern, dessen Scharfsinn und Wendigkeit weiterhin italienischen Politikern imponiert. Salvini beteiligte sich – von Februar 2021 bis Juli 2022 – an der Regierung Mario Draghis, ein Kabinett der nationalen Einigkeit, um seinen leidenschaftlichen und nicht minder schlauen Gegnern zu beweisen, bereit zu sein, Parteiinteressen zurückstellen, wenn es um Fragen von nationaler Bedeutung geht, die nur viribus unitis, mit vereinten Kräften, gelöst werden können. Dass Giorgia Meloni in der Opposition blieb, konnte ihm nur recht sein. Sie sollte die rechten Gruppen hinter sich scharen, während er um die diffuse Mitte warb. Der gar nicht unparteiische Mario Draghi, ein beachtlicher Schlaukopf, brauchte und gebrauchte Matteo Salvini für seine Politik eines Centro-sinistra (Anm. d. Red.: Mitte-Links, so wie Centro-destra Mitte-Rechts meint.), die sich als überparteilich ausgab, obwohl sie es gar nicht war.

Mario Draghi hoffte, auf diese Weise im Januar 2022 zum Staatspräsidenten gewählt zu werden. Als er über seine Schlauheit stolperte, seinen persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen, indem er sich demütig in einen von ihm arrangierten Ruf der Nation fügte, verlor er die Lust, sich weiter um eine Politik der nationalen Sammlung zu kümmern. Matteo Salvini, gar kein rechter Demagoge oder Ideologe, sondern ein normalista, dem es auf Recht und Ordnung ankommt, auf die Wirklichkeit und nicht auf Wünschbarkeiten, ein Verfechter des „Fortwurstelns“ in einer stets unzulänglichen Welt, enttäuschte mit seinen vielen Manövern und Kompromissen mit dem System, die Italiener, die hinter der Fassade der nationalen Arbeitsgemeinschaft, Korruption, Eigennutz und Intrige witterten. Nicht er als der Mann der Mitte war der Menschenfischer, sondern Giorgia Meloni, die sich der nationalen Einheitsfront verweigerte.

Giorgia Melonis Partei gilt trotz ihres „postfaschistischen“ Status als Saubermann-Alternative zu Salvini. Was unterscheidet die beiden Politiker?

Die Lega Matteo Salvinis steht in der Tradition der italienischen Föderalisten, die keine Nationalisten waren. Das Schlagwort: Zuerst Italien, lange vor Donald Trump, galt einem Italien der Städte und Regionen, die eben mit ganz unterschiedlichen Kräften sich vereint für ein gemeinsames Vaterland einsetzen sollen. Die Fratelli d’Italia, die Giorgia Meloni anführt, knüpfen an der alten Aufgabe an, die der liberale Massimo d’Azeglio um 1860 so bestimmte: „Italien haben wir neu gegründet, jetzt müssen wir den Italiener schaffen“. Es blieb eine Herausforderung bis heute, die vielen besonderen Italiener auf gemeinsame Ziele und Zwecke zu verpflichten, die sie zu einer Willensgemeinschaft bilden und auf überregionale Zusammenhänge verweisen, die piccola patria verbindend mit dem großen Italien von den Alpen, von der Etsch bis Sizilien, wie es in der Nationalhymne beschworen wird, die mit Fratelli d’Italia beginnt. Die grün-weiß-rot lodernde Flamme, das Symbol der Partei, hat mit der Erinnerung an die erneuerte nationale Einheit zu tun, die vor dem Faschismus bestand. Die Fratelli d’Italia entwickelten sich im Laufe mancher Veränderungen aus einer Partei, die enttäuschten Faschisten in der neuen Republik ein Forum bot, zu einer Partei italienischer Patrioten. Diese überlassen den Faschismus als historisches Problem den Historikern. In diesem Sinne ist Giorgia Meloni eine Postfaschistin, weil lange nach der faschistischen Ära geboren, jedoch keine Neofaschistin.  

Während Salvini sich einst im Putin-Shirt ablichten ließ, ist Meloni seit 2020 Vorsitzende der EU-Fraktion European Conservative Reformers (ECR), der neben den Fratelli auch die PiS aus Polen, die spanische Vox und die Schwedendemokraten angehören. Außenpolitisch gilt Meloni, genauso wie die ECR, als kritisch gegenüber dem russischen Imperialismus und freundlich gegenüber der NATO. Was ist der außenpolitische Kurs der Fratelli?

Die Devise der Fratelli d’Italia und Giorgia Meloni lautet: Pronti a risollevare l’Italia – bereit, Italien aufzurichten. Es geht zuerst und vor allem um Italien, was heißt, um die Souveränität und Selbstbestimmung der Italiener. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zum Vaterland, zu seiner Geschichte und seinem Erbe. Das macht eine kulturelle Erziehung erforderlich, damit Italien eine Kulturnation bleibt. Diese ist auf Freiheit der Rede und der Gedanken angewiesen, die in einer linken „Wertegemeinschaft“ bedroht ist, weil diese nach einer totalen Vereinheitlichung der Lebensformen und des Denkens strebt. Der Sovranismo, das Beharren darauf, in einem Europa der Vielfalt Italiener bleiben zu können, bringt sie nicht in einen Gegensatz zu EU.

Giorgia Meloni und überhaupt die Rechten wollen allerdings eine andere EU, die nicht weiter mit massiver Zentralisierung die Freiheit ihrer Mitglieder einschränkt und damit die Vielfalt aufhebt. Alle Rechten in der EU stimmen darin überein, den Staaten und Völkern wieder mehr Spielraum zu verschaffen. Die Rechten als Bewegung für Freiheit und Einigkeit sind in diesem Sinn die wahren Europäer. Zu Europa gehört selbstverständlich Russland. Giorgia Meloni hat sich vorerst der „Natoisierung“ der EU eingefügt. Sie ist aber eine Realistin, die damit rechnet, dass es kaum möglich sein wird, auf längere Zeit an der Politik gegen Russland festzuhalten und den jeweiligen Völkern die damit verbundenen Entbehrungen zumuten zu können. Sollte die Opposition in der EU gegen den eingeschlagenen Kurs lauter und energischer werden, darf man überall, also auch in Italien, mit unvermeidlichen Korrekturen rechnen

Wie schätzen Sie derzeit die Gewinnchancen der Lega und der Fratelli ein? Könnten die Sozialdemokraten den Rechtsparteien einen Strich durch die Rechnung machen?

Mit einem Sieg der Rechten und der Mitte haben sich offenbar die „Qualitätsmedien“ in der BRD und Italien abgefunden. Die Polemik wird allmählich weniger schrill, weil die meisten Italiener der antifaschistischen Phraseologie überdrüssig sind. Das muss aber nicht bedeuten, jetzt für die Appelle und Vorstellungen von Centro-Destra aufgeschlossen zu sein. Es fällt immer schwerer, in Italien wie in den anderen Staaten der EU, die Wähler aufzumuntern, überhaupt zur Wahl zu gehen. Es macht sich eine resignative Stimmung breit, keine Wahl zu haben, weil viele Bürger sämtlichen Parteien misstrauen, mit den politischen Herausforderungen fertig zu werden. Es ist keineswegs sicher, ob es den Rechten gelingt, Nicht-Wähler zu mobilisieren. Wahrscheinlich dürfte es den unter sich zerstrittenen Linken nicht gelingen, verlorene oder neue Wähler zu überzeugen.

Das Einzige, was sie beisammenhält, ist der Hass auf die Rechten, vor denen sich die Italiener nicht fürchten. Wer hat schon Angst vor Giorgia Meloni außer den üblichen Panikmachern wie Roberto Saviano? Die Italiener sind vielmehr neugierig auf sie geworden. Selbst systemrelevante Orientierungshelfer veröffentlichen mittlerweile Photographien, die verständlich machen, weshalb diese Politikerin breite Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch bei einer geringen Wahlbeteiligung können nach den weiterhin sehr stabilen Umfragen die Stimmen für eine sehr bequeme Mehrheit für Centro-destra ausreichen. Eine stabile Regierung ist möglich, sofern nicht sofort Ideologen und Funktionäre aus Brüssel für Unruhe sorgen, in der Absicht einen „Regimewechsel“ durchzusetzen, was ihnen in Italien mehrmals gelang – ohne Rücksicht auf Wähler und nationale Souveränität. Allerdings könnte gerade diese Möglichkeit Italiener dazu veranlassen, ihre Stimmen den Parteien zu geben, die verheißen, weitere Verletzungen der nationalen Souveränität nicht zu dulden.

Was könnte ein Sieg der italienischen Rechten für die EU bedeuten? Linksliberale malen gerne den Teufel an die Wand, wenn Rechtsparteien zu gewinnen drohen, und beschwören gleich den Untergang der EU. Könnte es aber nicht auch eine konservative Neujustierung der Europäischen Union geben?

Ein Sieg von Centro-destra könnte voraussichtlich einen Wandel in der EU beschleunigen, der sich seit geraumer Zeit überall andeutet. Rechte oder nonkonformistische Parteien dringen in das Parteiensystem ein und erlangen damit Einfluss. Nur noch die BRD legitimiert sich geistig und politisch als antifaschistische Veranstaltung, die jeden Bürger dazu anhält, im hartnäckigen Kampf gegen rechts, die ihn auszeichnenden Haltung einzunehmen, nämlich beflissen zu denunzieren und zu diskriminieren. In absehbarer Zeit werden rechte Mehrheiten in der EU an Einfluss gewinnen, die Achse Paris-Berlin sprengen und eine andere EU ermöglichen, die sich auch darauf besinnt, dass Europa ohne Russland hilflos und machtlos bleibt in der sich wandelnden Welt.   

Vielen Dank für das Interview, Herr Straub.


Zur Person:

Eberhard Straub, Jahrgang 1940, ist ein deutscher Historiker und Publizist. Der gebürtige Berliner studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie und vollendete in München seine Promotion und Habilitation. Anschließend arbeitete er als Redakteur bei einigen Zeitungen, davon zehn Jahre lang bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Seit 1998 wirkt Straub als freier Journalist und Publizist in Berlin. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

Letzte Buchveröffentlichung: „Europa. Ein ungesicherter Begriff“. Reihe Exil, edition buchhaus loschwitz, Dresden, 2021 ISBN 978-3-9823005-5-9.

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