Der Untergang der Sozialdemokratie

Inhaltliche und strukturelle Veränderungen in der SPD haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die Partei kaum mehr als 15-20 Prozent der Wählerschaft mobilisieren kann. Damit ist die SPD als Volkspartei tot, befindet Bruno Wolters in seinem Kommentar für FREILICH.

Kommentar von
8.9.2023
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4 Minuten Lesezeit
Der Untergang der Sozialdemokratie
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Bundesparteitag 2021 in Berlin.© IMAGO / Political-Moments

In ganz Europa kennt die Sozialdemokratie bei Wahlen in den letzten Jahren nur einen Weg: nach unten. In Deutschland konnte die SPD in einer Koalition mit Grünen und Liberalen zur Kanzlerpartei aufsteigen, dennoch segelt sie in aktuellen Umfragen unter der 20-Prozent-Marke. Mit 16 Prozent, immerhin fast zehn Prozentpunkte weniger als bei der Wahl 2021, sind die Sozialdemokraten auf dem Weg zu ungewollten Tiefstwerten. Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung?

Zuallererst: Nicht nur in Deutschland befindet sich die Sozialdemokratie im Sinkflug. Der Blick in die europäischen Nachbarländer zeigt noch größere Verluste. In den Niederlanden etwa ist die sozialdemokratische Partij van de Arbeid bei den Parlamentswahlen von 27,3 Prozent (2003) auf 5,7 Prozent (2021) abgestürzt. In Schweden und Finnland mussten die regierenden Sozialdemokraten nach Wahlniederlagen ihre Hüte nehmen. Im Jahr 2000 wurden zehn der damals 15 EU-Mitgliedstaaten von einer sozialdemokratischen Regierung geführt – heute sind es nur noch elf von 27.

Klassenkampf ohne Klasse

Zunächst ist festzustellen, dass die großen Volksparteien zunehmend an Bindungskraft verlieren. Dies liegt daran, dass sich die traditionellen Milieus im Zuge der Globalisierung stark verändert haben. Das linke Arbeitermilieu gibt es als solches nicht mehr: Die alte Kernwählerschaft der linken und sozialdemokratischen Parteien – bestehend aus Malochern und Gewerkschaftern – wurde nach und nach durch eine neue, mobile Wählergruppe ersetzt, die vor allem in den Städten zu Hause ist. Diese moralisch motivierten linken Wähler interessieren sich mehr für die Welt, für Migration und Minderheitenrechte – also für die typischen Themen linker Intellektueller. Nur noch ein kleiner Teil von ihnen wählt SPD, die Grünen dominieren dieses Klientel zunehmend.

Die eigene frühere Wählerschaft – das, was vom deutschen Arbeitermilieu übrig geblieben ist – wird heute gerne als „abgehängt“ und „ewiggestrig“ bezeichnet. Sie sorgt sich mehr um Themen wie eine sichere Rente und die Sicherheit in der Nachbarschaft als um die Vereinigten Staaten von Europa und die staatliche LGBTQ-Agenda. Was der Sozialdemokratie treu geblieben ist, ist nicht mehr das Arbeitermilieu, sondern das „Angestelltenmilieu“. Diese neue Wählerschaft hat häufig den Aufstieg aus dem Arbeitermilieu ihrer Kindheit in die sozialen Berufsfelder bereits geschafft und lebt in relativ stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen. Sie kennt daher das proletarische Aufstiegspathos der klassischen sozialdemokratischen Wählerschaft nicht mehr. Sie mag keine Leute, die aus Ehrgeiz mehr verdienen als sie selbst – Sozialdemokratie ist für sie also Reichtumsbekämpfung durch Umverteilung und nicht (wie früher) gemeinsam erkämpfter sozialer Aufstieg.

Inhalte und Strukturen haben sich verändert

Diese neue Kernwählerschaft der SPD bringt ihrerseits Parteikader hervor, die oft mehr das Ideelle als das Machbare im Blick haben. Statt um Themen wie eine vernünftige und gerechte Rente, Arbeitnehmerrechte und Familie geht es der SPD zunehmend um Gendersternchen, Political Correctness und die EU. Die Folge: Der Malocher aus dem Ruhrpott wählt nicht mehr SPD – der neue SPD-Wähler ist eher der Lehrstuhlinhaber für Sozialgeschichte oder die Frauenbeauftragte in der Kommune. Von der Wählerschaft der Linkspartei unterscheidet sich dieses Milieu vor allem durch seine fehlende Radikalität – man ist im Grunde satt und sozial integriert. Von den Grünen wiederum trennt es die eigene Angst vor grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen und die nominelle Treue zu den Anliegen der Arbeiterklasse.

All diese inhaltlichen und strukturellen Veränderungen der Partei wirken gewissermaßen wie ein Sieb; am Ende rieseln kaum mehr als 15-20 Prozent der Wählerschaft durch die verschiedenen Filter in das Becken der SPD. Damit ist die SPD als Volkspartei tot. Durch die langen sozialdemokratischen Regierungs- und Ämterzeiten hat sich zudem ein Genossenfilz in den Parteien gebildet, man darf nicht vergessen: Schon Marx sprach von einer „Arbeiteraristokratie“. Im Ausland profitierte beispielsweise Syriza bei Wahlen massiv von der offensichtlichen Korruption und Vetternwirtschaft in der alten sozialdemokratischen PASOK. Auch in Deutschland konnte sich die Linkspartei von Anfang an als populistische Kraft gegen die verknöcherten Strukturen der SPD positionieren – allerdings ohne substanziellen Erfolg.

Ein neues Profil muss her

Mit Blick auf die Frühphase des sozialdemokratischen Niedergangs fällt zudem ein relativ radikaler Kurswechsel in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren auf. So passte Tony Blair, von 1994 bis 2007 selbst Vorsitzender der britischen Labour Party, seine Partei unter dem Namen New Labour an die flexibilisierte neoliberale Dienstleistungsgesellschaft an. Statt die alten nationalen Arbeiterbewegungen zu rekonsolidieren und als Waffe gegen das neue Wirtschaftsregime zu wenden, versuchte die Sozialdemokratie in dieser Zeit, der Arbeiterschaft den letzten Rest von Nationalität auszutreiben und sie – immer „zu ihrem eigenen Besten“ – im Sinne der globalisierten Ökonomie zu disziplinieren. In Deutschland lässt sich diese Entwicklung sinnbildlich an der Kanzlerschaft Gerhard Schröders festmachen, der 1998 noch 40,9 Prozent für die SPD holte und schon im Jahr darauf gemeinsam mit Tony Blair ein Strategiepapier vorlegte, das die Agenda 2010 und die Hartz-IV-Reformen vorbereitete.

Ein weiterer Faktor ist, zumindest in Deutschland, die „Sozialdemokratisierung“ der ehemals konservativen Partei. So ist die CDU in den letzten zwei Jahrzehnten in nicht-wirtschaftlichen Themenfeldern immer weiter nach links gerückt, bis hin zur Grenzöffnung 2015 und der Forderung nach einer Frauenquote 2020. Wenn die eigenen (neuen) Positionen bereits lautstark von anderen Parteien besetzt werden, bleibt für eine sozialdemokratische Partei kein Platz mehr. Für die SPD würde sich dagegen ein Blick auf die erfolgreichen Sozialdemokraten in Dänemark und der Slowakei lohnen.

Dort betreiben die Sozialdemokraten eine eher restriktive Asylpolitik und eine Politik für den „kleinen Mann“ – und werden dafür mit guten Wahlergebnissen belohnt. Die Sozialdemokratie sollte sich wieder auf ihre alte Kernwählerschaft konzentrieren und nicht auf die Verdammten dieser Erde. Soziale Gerechtigkeit ist nach wie vor ein Thema, das viele interessiert – aber die profillose SPD hat hier mit „mehr Umverteilung“ nicht mehr zu bieten als die Light-Version der Linkspartei. Das kann und wird kein Erfolgsrezept sein. Die patriotischen Kräfte sollten den Niedergang der Sozialdemokratie genau studieren und daraus die richtigen Schlüsse für sich und ihre eigene Programmatik ziehen.


Zur Person:

Bruno Wolters wurde 1994 in Deutschland geboren und studierte Philosophie und Geschichte in Norddeutschland. Im Sommer 2020 war er Mitgründer des konservativen Onlinemagazins konflikt. Im Jahr 2021 folgte das Buch Postliberal im Verlag Antaios. Seit 2022 ist Wolters Redakteur bei FREILICH. Seine Interessensgebiete sind Ideengeschichte und politische Philosophie.

Twitter: https://twitter.com/Bruno_Wolters

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