Piranha Bytes und Gothic 1: Nichts ist uns heilig

Der renommierte Entwickler Piranha Bytes muss aus finanziellen Gründen wohl seine Pforten schließen. Für Volker Zierke war der erste Teil der Spieleserie „Gothic“ ein wichtiges Kindheitserlebnis, auch wenn die Welt von „Gothic“ nicht unbedingt von der Realität zu unterscheiden war. Dennoch zieht ihn das Minental magisch an – Zierke erklärt warum.

Kommentar von
4.2.2024
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6 Minuten Lesezeit
Piranha Bytes und Gothic 1: Nichts ist uns heilig
Gothic-Cover© Piranha Bytes

Bitte nehmen Sie mir das jetzt nicht übel, wenn ich das gleich voranstelle, aber ich glaube nicht an das Wahre, Schöne und Gute. Nicht mehr. Wenn es so etwas gab – und daran kann man zweifeln –, dann ist es schon lange nicht mehr hier. Und wir alle sind Kinder dessen, was nicht mehr wahr, schön und gut ist. Unser Geschäft ist Dreck; das weiß jeder, der einmal versucht hat, sich in der AfD zu engagieren. Unsere Musik ist Lärm, der unseren Müttern die Hände über den Kopf zusammenschlagen ließ. Wir sind aufgewachsen mit Gewalt auf den Computer- und Fernsehbildschirmen, im Hintergrund die Tagesschau, die vom Zusammenbruch der Welt der Eltern berichtete. Wir kennen nichts anderes.

Es muss dieser anerzogene Hass auf das Schöne sein, der in einem hochkocht, wenn wieder ein paar Trottel auf dem Theaterplatz in Dresden den Volkstanz larpen. Oder junge Leute unter 60 mit klassischer Musik terrorisieren. Man könnte diese Nekrophilie auch denen unterstellen, die Tolkien lesen und an die ganzen schönen Sachen denken, die dieses Land einmal hatte. Europas Zukunft sieht eher so aus wie der Hauptbahnhof in Duisburg und nicht wie die weiße Stadt Minas Tirith. Die Erkenntnis, dass alles den Bach heruntergeht, ist die Geschichte unserer Kindheit. Nach und nach fallen die Helden von einst. Um mal zum Thema des Beitrags zu kommen: Jetzt hat es auch Piranha Bytes erwischt.

Ein Entwicklerstudio mit Tradition

In den letzten Wochen mehrten sich Gerüchte, dass der Software-Entwickler seine Tore schließen muss. Angesichts der Stunden, die ich im Minental von Khorinis zugebracht habe, eine traurige Nachricht. Passenderweise stammt diese Computerspielschmiede auch aus dem Ruhrpott, passenderweise ist die Fantasywelt der von Piranha Bytes erschaffenen „Gothic“-Spiele irgendwie wie unsere Welt: Scheiße. Im Gegensatz zu anderen Fantasywelten war „Gothic 1“ grau, hässlich (was natürlich an der Grafik lag), rau und gemein. Ich glaube, es war in der Computerspielezeitschrift Gamestar, wo dem Spiel einst unterstellt wurde, einen gewissen Ruhrpott-Charme auszustrahlen. Ich kann das natürlich nicht beurteilen, feststeht aber, dass es vor allem das erste „Gothic“ vermochte, mich mit seinem Dreck zu bezaubern. Die Rahmenhandlung ist die folgende: Ein König befindet sich im Krieg mit den Orks – um ausreichend Waffen herstellen zu können, braucht der König Erz und verdonnert in bester Arbeitslager-Mentalität jeden Strauchdieb dazu, in den Minen zu schuften.

Der Versuch, die Minenarbeiter einzusperren, scheitert aber: Die magische Barriere breitet sich aus und sperrt einige der Bewacher und die Zauberer, die die Barriere erschufen, gleich mit ein. Wir schlüpfen also in die Rolle eines der Kunden, die es auf unfreiwilligem Wege in die nun sogenannte Minenkolonie geschafft haben. Wir wissen nichts über uns selbst; vielleicht sind wir nur ein Opfer der um sich greifenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den Minen, vielleicht wurden wir aber auch in die Kolonie geworfen, weil wir betrunken unsere Exfrau verprügelt haben. Keine Ahnung. Nicht einmal den Namen unseres Helden erfahren wir. Wir lassen also unsere Vergangenheit hinter uns und steuern unseren Charakter aus der Schulterperspektive durch Khorinis, immer den zum Stumpf zusammengebundenen Pixel-Vokuhila unserer Spielfigur vor Augen. Es geht nicht darum, die edle Prinzessin aus den Klauen des fiesen Tyrannen zu befreien, es geht nicht darum, das Gute, Schöne und Wahre im Angesicht des Bösen zu verteidigen; zuerst einmal wollen wir am Leben bleiben, und das ist in der Welt von „Gothic“ schon schwer genug.

Spiele mit Ruhrpott-Charme

Mein elfjähriges Ich hatte schon große Schwierigkeiten, auf dem Weg ins Alte Lager des Minentals nicht gleich von Blutfliegen oder ähnlichem Getier um die Ecke gebracht zu werden. Das hakelige Kampfsystem tut sein Übriges. Im Alten Lager hat natürlich auch keiner auf unsere Ankunft gewartet und entsprechend rau fällt die Begrüßung aus. Der Gardist Bloodwyn will Schutzgeld, sonst hetzt er uns seine Knechte auf den Hals, jeder andere will für Kleinigkeiten eine Gegenleistung und Mud, der ja echt ein netter Kerl ist, labert einen dermaßen voll, dass man ihn über kurz oder lang selbst totschlagen muss.

Jetzt mag man natürlich fragen, warum man ein Computerspiel spielen sollte, das ähnlich trist, grau und gefährlich wie der Duisburger Hauptbahnhof an einem regnerischen Novembertag ist. Die Antwort: „Gothic“ hat noch so viel mehr. Wenn wir unsere Körper durch die eckigen Innenstädte dieses Landes schieben, durch die Stuttgarts und Duisburgs und Heilbronns dieser Republik, dann fühlen wir uns vollkommen entkoppelt von dieser Welt, mit der wir geistig eigentlich schon längst abgeschlossen haben. Deren Hässlichkeit wir erkannt und akzeptiert haben. Die wir aber hinter uns lassen. Nichts passt hier zueinander: Die Zahnarztpraxen in Jugendstilvillen, die McDonalds-Filialen an den Marktplätzen, neonfarbene Fresspaläste in den Fassaden klassizistischer Gebäude, hässliche Menschen in hässlichen Städten, wo Altes vergammelt, wird neues Widerliches hingesetzt. „Gothic“ wirkt wie aus einem Guss und alles passt zusammen. Es ist rau, hässlich und gefährlich, aber hier gehören wir hin. Wenn wir uns durchbeißen, uns den Respekt in einem der drei Lager erarbeiten (und jeden umschlagen, der ein Problem mit uns hat), dann sind wir auch hier zu Hause. Dann grillen wir am Lagerfeuer unter dem bezaubernden Flackern der Sterne und der magischen Barriere einen Batzen Scavanger-Fleisch und lauschen legendären Satzfetzen („Immer dieselbe Leier“). Oder der Spielemusik von Kai Rosenkranz (damals immerhin erst 21 Jahre alt!). Oder dem Gastauftritt in der Spielewelt von „Gothic“ von der Mittelalter-Metalband „In Extremo“.

Wenn man herein findet, dann gibt einem „Gothic“ sehr viel. Dann ist auch die farbentsättigte Welt plötzlich mit Leben gefüllt. Solche Spiele gibt es heute immer weniger. Man muss jetzt nicht Oswald Spengler anführen, um das zu bemerken. Je deutlicher wird, dass die Spiele schlechter werden, desto mehr Menschen werden sich dagegen wehren. In absoluten Zahlen werden das immer weniger Menschen sein; mit Sicherheit gibt es weit weniger „Gothic“-Nostalgiker als Käufer des aktuellen „Battlefield“-Schrotts. Aber die Unzufriedenheit wächst. Ein Gradmesser ist vielleicht auch der Zulauf, den ein Spiel wie „The Great Rebellion“ erhält, das nicht nur mit seinem Szenario und Soundtrack auf die 90er Jahre rekurriert, sondern nebenbei auch mal versucht, eine gute, nicht mit Lootboxen verseuchte Spielmechanik zu bieten. Wer es nicht sowieso getan hätte, sollte „The Great Rebellion“ also eine Chance geben. Und wer arm oder Schwabe ist, kann versuchen, beim Gewinnspiel der Bürgerinitiative „Ein Prozent“ einen Zugang zum Spiel zu ergattern. Man muss lediglich seine Spiele-Nostalgie in einige Worte verpacken und die guten Menschen hier kontaktieren.

So graut und trist wie der Duisburger Hauptbahnhof

Spielmechanik ist nun nicht die Kernthematik von „Gothic“. Wo „Gothic“ punktet, das ist die Glaubwürdigkeit. Man möge vielleicht einmal die Bilder aus einer generischen Müll-Serie wie „Die Ringe der Macht“ neben Screenshots aus „Gothic“ halten. Ja, „Gothic“ sieht scheiße aus. Aber der Entwickler Piranha Bytes zeichnet hier auch eine organische Welt nach, in der alles einen Sinn hat, in der die Bewohner Tag und Nacht ihren Aufgaben nachgehen, in der jeder eine mehr oder wenige spannende Geschichte zu erzählen hat und sich auch im letzten Winkel noch eine kleine Aufgabe, ein Schatz, ein Abenteuer oder wenigstens eine nette Aufmerksamkeit der Entwickler versteckt. „Die Ringe der Macht“ dagegen ist eigentlich wie die postmoderne Gesellschaft: Nichts hat einen Sinn, außer dem, den ein nicht allzu findiger Story-Schreiber dem Ganzen zugedacht hat. Niemand hat hier etwas zu tun. Nichts ist wichtig im Land von „Die Ringe der Macht“, das irgendwie auch das Land der Stuttgarts und Duisburgs ist. Irgendjemand dachte, es wäre eine gute Idee, die Welt auf dem Bildschirm genauso bedeutungslos zu machen wie die echte. Diese Filme, Serien und Videospiele sind Gaslighting zum Anschauen. Unser eigener Untergang wird uns als Konsumprodukt vertickt. Wenn ich an „Gothic 1“ denke, dann ist das mehr als nur die übliche Nostalgie. Ich glaube, heute Abend installiere ich das Spiel wieder.

Vielleicht gibt es irgendwo doch dieses Wahre, Schöne und Gute, versteckt unter all dem Dreck. Wie damals, als wir mit Holzschwertern die Wälder von bösen Kreaturen befreien wollten, mit dem Fahrrad durch die in goldener Pracht stehenden Felder fuhren und noch von Abenteuern träumen konnten. Vielleicht. Oder als wir „Gothic 1“ spielten und glücklich waren. Ich war nie in Gelsenkirchen. Ich habe mir geschworen, niemals einen Fuß in dieses Land zu setzen. Wir bringen dieses Land dem Tod ein bisschen näher, so sangen einst die „Böhsen Onkelz“. Und das wäre dann natürlich eine sehr gute Nachricht.


Volker Zierke, Jahrgang 1992, ist ein junger Autor. Nach Schule und Abitur zog es den gebürtigen Schwaben als Zeitsoldat zur Bundeswehr, bevor er 2015 zur Deutschen Militärzeitschrift wechselte. Seit 2018 ist er als selbständiger Autor, Journalist und Politikberater in Dresden tätig.

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