Jean Raspail – Der Gefallene

Heute vor drei Jahren, am 13. Juni 2020, ist der französische Jahrhundertschriftsteller Jean Raspail im Alter von 94 Jahren in Paris gestorben. Sein Übersetzer und Verleger Konrad Weiß ruft einen Mann von beispielloser Haltung in Erinnerung.

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7 Minuten Lesezeit
Jean Raspail – Der Gefallene
Jean Raspail starb vor drei Jahren in Paris© Fabrice Bluszez, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons (Bild zugeschnitten)

Zu Beginn des Jahres der stürzenden Denkmäler war Jean Raspail der erste große „alte weiße Mann“, der fiel. Von diesem häuslichen Unfall sollte sich der 94-jährige Abenteurer und Verteidiger verlorener Sachen, Romancier und tiefgläubige Katholik, royalistische Grandseigneur und Generalkonsul eines imaginären Königreiches nicht mehr erholen.

Raspail: Reisen um die Welt

Am Beginn seines langen Schaffens steht 1949 „ein Abenteuer, das über meine Existenz entschieden hat“: Der junge Franzose und leidenschaftliche Pfadfinder durchquert im Kanu über 4.500 entbehrungsreiche Kilometer mit rudimentärer Ausrüstung von Quebec über den Sankt-Lorenz-Strom, die Niagara-Fälle und die Großen Seen bis zur Mündung des Mississippi die einstigen französischen Besitzungen in Nordamerika. Rund um die Welt führt ihn bald darauf seine damals erwachte Liebe zu untergehenden Kleinstvölkern und erlöschenden Lebensweisen.

Von den letzten Ainu, den Ureinwohnern Japans, über dessen Katakomben-Katholiken, die aus Jahrhunderten mörderischer Verfolgung ungebrochen glaubensfest wieder auftauchten; von der Halbgötter-Dämmerung der Uru in den Anden, die von den umgebenden Völkern abwechselnd angebetet und abgeschlachtet wurden, bis zu den letzten Alakaluf-Seenomaden in den eisigen Stürmen der Magellanstraße; von den überlebenden Ureinwohnern der Karibik bis zu französischen Freiwilligen, die tief in den russischen Wäldern im Zweiten Weltkrieg auf die Nachfahren versprengter Husaren aus Napoleons Grande Armée treffen: Am Ende des „nomadischen Teils seines Lebens“ setzt Raspail diesen und vielen anderen mit Die Axt aus der Steppe* ein ebenso liebevolles wie prächtiges Grabmal und hält fest: „Ich sehne von ganzem Herzen eine Vervielfachung der Grenzen ad infinitum herbei, in deren Schutz die so kostbaren Unterschiede aufhören könnten zu schwinden“ – denn überall war der Verlust der eigenen Identität der Todeskeim gewesen.

Zurück in Frankreich erkennt er diesen Todeskeim auch dort; und im Gegensatz zu so vielen fernstenliebenden, aber heimatvergessenen Ethnologen und Weltreisenden hält er damit nicht hinterm Berg: In einem einzigen fiebrigen Guss schreibt er sein donnerndes Heerlager der Heiligen* nieder – und nimmt damit ganz nebenbei schon 1973 bis in kleinste sprachliche Nuancen Feigheit und Versagen der „Eliten“ und deren orwellesken Neusprech der Jahre 2015 ff. vorweg. Das prophetische Werk kommt ihn teuer zu stehen, kostet ihn letztlich die Aufnahme in den Olymp der frankophonen Literatur, die Académie française, und bringt ihm stattdessen die dauerhafte Ächtung durch den dominierenden linksliberalen Mainstream ein; erst recht aufgrund der Millionen faszinierten Leser des „Heerlagers“, darunter Ronald Reagan, Samuel Huntington, Marine Le Pen oder Michel Houellebecq. Raspails erfolgreichster Titel ist zugleich sein untypischster und überfährt ohne jede Romantik in seiner Drastik den Leser, statt ihn wie sonst zu erheben.

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Reaktionärer Katholik

Doch auch hier finden sich jene Leitmotive, die in seltenem Gleichklang sowohl das Werk des Schriftstellers wie das Leben des Mannes durchziehen: die unbeugsame Verteidigung des Eigenen, die kleine Schar, das Eintreten für die verlorene Sache und die vollständige Gleichgültigkeit gegenüber dem Zeitgeist, gegenüber der von diesem und dem „Big Other“ am Nasenring herumgeführten Masse. Diese Leitmotive variiert Raspail immer wieder, höchst abwechslungsreich, mit einem Stamm- personal an Figuren: „Kanaillen gibt es genug, und ich habe keine Lust, über solche auch noch zu schreiben. Ich will mich mit aufrechten Charakteren umgeben.“ Und: „Wie es sich findet, sind diese Charaktere oft deutsch.“

Mit der heutigen BRD hat sein Deutschland indes wenig gemein. Dafür mit Marion Gräfin Dönhoffs ostpreußischen Erinnerungen – „wenn man das liest, kann man für einen Moment den Rest vergessen – und der wiegt wahrlich schwer –, und sich verneigen vor der Größe der Kämpfer und Zivilisten. Aber Deutschland vergisst seine Geschichte“. Nicht so Raspail, auch in seiner schwärmerischen Liebe zur „romantischen“ Konzeption und kleinteiligen Vielfalt des Heiligen Römischen Reiches oder Österreich-Ungarns. Nicht von ungefähr finden sich dort zwei weitere seiner Leitsterne: Zunächst, quer durch sein Werk und geballt im Ring des Fischers das (katholische) Christentum, dem er tief verbunden war – allerdings dessen heute als reaktionär gegeißelter, also eigentlicher Form. Gegenüber der nachkonziliaren, vom Zeitgeist angekränkelten Kirche unserer Tage mitsamt ihrer Häresie der Formlosigkeit kannte Raspail kein Pardon – schneidend, wie er es sonst nur sehr selten war.

Und dann das Königtum: Ein einziges Mal hat Raspail bezeichnenderweise – der gleichen sonst gänzlich abhold – die Massen auf den Straßen mobilisiert, zur 200. Wiederkehr der Enthauptung Ludwig XVI.; 40.000 kamen trotz aller Widerstände zum Tatort auf der Pariser Place de la Concorde. Im Roman Sire finden sich Raspails monarchische Überzeugungen verdichtet, und sein Glaube an die fundamentale Bedeutung der Haltung: Was zu tun ist, ist zu tun – auch und gerade ohne jede Aussicht auf Applaus, Erfolg oder bloße Wahrnehmbarkeit.

Dieser Haltung entspringt auch Raspails zärtliche Begeisterung für Antoine de Tounens, einen französischen Provinzadvokaten, der im 19. Jahrhundert sein ganzes tragisches Leben der von Beginn an zum Scheitern verurteilten Idee verschrieben hatte, im eisigen Süden des amerikanischen Doppelkontinentes die bedrängten eingeborenen Stämme unter seinem Königtum zu vereinen und zu befreien. Diesem unglücklichen Orélie-Antoine I. setzt Raspail ein literarisches Denkmal, das ihm dann, immerhin, den Großen Preis der Académie française einbringt. Vom Grab Antoines vernimmt er augenzwinkernd die Berufung zum Generalkonsul Patagoniens; alsbald und bis zuletzt gehen Raspail ohne jeden entsprechenden Aufruf abertausende Ansuchen um Verleihung der patagonischen Staatsbürgerschaft zu; darunter finden sich zahlreiche Größen der Literatur, Magnaten des Wirtschaftslebens und höchste Militärs: Bei Raspails Begräbnis erwies ihm mit einem früheren Chef des Generalstabes auch der jahrelang ranghöchste Soldat Frankreichs die letzte Ehre.

Generalkonsul Patagoniens

Das Netz der Amtsträger und vor allem Vizekonsuln des königlichen Spieles reicht von China bis zu einem Schweizergardisten im Vatikan, von Singapur bis Spitzbergen und von Madagaskar bis Wien, wo der Autor dieses Nachrufes Patagonien vertritt. Generalkonsul Raspail stimmte bisweilen nur traurig, dass bereits Kinder – mit mehr Ernst, als dem Spiel geziemt – angesichts ihrer nüchternen Lebenswirklichkeit allzu früh Zuflucht und Identität in seinem unwirklichen Königreich suchten.

Mit tiefer Wertschätzung hatte Jean Anouilh einst gesagt: „Sie sind ein Kind, Raspail!“ – und dieser blieb es bis zum Ende, mit seinem so charakteristischen Vierklang aus „Stolz, Zärtlichkeit, Melancholie und Ironie“ – ein lebenslanger Träumer mit offenen Augen, und ein herzlicher Gastgeber mit offenen Armen, zudem mit der seltenen Gabe ungekünstelter Selbstironie. Doch man täusche sich nicht: Wie viele Schriftsteller – erst recht zeitgenössische, erst recht abseits des politisch Korrekten, erst recht von den Medien verfemte – haben nicht nur Millionen Käufer gefunden, sondern auch tausende Verehrer, die ihre Werke nicht nur lesen, sondern leben und in Raspails Fall damit die Fackel der Verteidigung des Eigenen weiterreichen?

Diese Kette nicht abreißen zu lassen, ist heute mehr denn je nicht nur ästhetischer Spleen, sondern Schicksalsfrage. Dem Autor von über 40 vielfach preisgekrönten und übersetzten Romanen und Reiseberichten, die bis heute zahlreiche Neuauflagen erleben, ist es erspart geblieben, die dramatischen Verwerfungen der vergangenen Jahre mitzuerleben: Gewaltexplosionen, Zerstörungen, Plünderungen; Massenmedien zwischen Beschweigen und Schönfärberei; aber vor allem den tiefen Hass auf das Eigene und die resultierenden Rituale der Selbstanklage und -erniedrigung.

„Der eigentliche Feind findet sich immer hinter den eigenen Linien, niemals davor“ – vorausgesehen hat der Schriftsteller all das schon vor Jahrzehnten. Doch er war nicht der Mann, der sich mit Prophezeiungen begnügte, die zu seinem eigenen Leidwesen zutrafen: Raspail hat sich während seines langen Lebens niemals mit dem Zeitgeist gemein gemacht, seine Haltung immer bewahrt, unsere Stellung zäh verteidigt; er hat nicht Verständnis erheischt, sich nicht entschuldigt, nichts relativiert, sich nicht distanziert. Für ihn daraus resultierende Nachteile waren ihm einigermaßen gleichgültig. Sein Credo lautete: „Wenn man eine fast verlorene Sache vertritt, muss man ins Horn stoßen, aufs Pferd springen und einen letzten Ausfall wagen!“

Vor drei Jahren fiel der bis zuletzt Unbeugsame aus dem Sattel. Einige Wochen zuvor schrieb ein enger Freund von Raspails Sterbebett: „Unsere Landsleute jenseits der Meere werden jetzt nicht mehr lange darauf warten müssen, den Generalkonsul zu empfangen.“

Am 13. Juni 2020 hat Jean Raspail die große Überfahrt angetreten.

Weitere Werke von Jean Raspail auf Deutsch:

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➡️ Sieben Reiter verließen die Stadt auf Amazon*

➡️ Sire auf Amazon*


Zur Person:

Konrad Markward Weiß, Jahrgang 1977, lebt und arbeitet in Wien als Verleger, Übersetzer und Publizist sowie in der Unternehmenskommunikation. Er ist von Jean Raspail ernannter Vizekonsul von Patagonien zu Wien.

(Der Beitrag erschien ursprünglich in der FREILICH-Ausgabe Nr. 9, Juli 2020.)


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