Frank Böckelmann: „Die Linke ist als eigenständige politische Kraft verschwunden“

„TUMULT“-Herausgeber Frank Böckelmann ist der Auffassung, dass die sogenannte Linke nicht mehr gesellschaftlich geerdet ist, und ebenso wenig sind es die Haltungen der sogenannten Konservativen.

Ulrich Novak
Interview von
24.9.2023
/
5 Minuten Lesezeit
Frank Böckelmann: „Die Linke ist als eigenständige politische Kraft verschwunden“

TUMULT-Herausgeber Frank Böckelmann

© IMAGO / teutopress

FREILICH: Vielleicht sollten wir im Sinne der Konsensstörung auch mal die Grundsatzfrage stellen: Taugt Links-rechts noch was? Und was ist vorn und hinten?

Frank Böckelmann: Aus den alten weltanschaulichen Gegensätzen ist in Deutschland und Österreich ein Spektakel der Anzüglichkeiten und Ressentiments geworden. Ein Wolkenkuckucksheim steht gegen das andere. Die sogenannte Linke ist nicht mehr gesellschaftlich geerdet, und ebenso wenig sind es die Haltungen der sogenannten Konservativen. „Rechts“ nennt sich sowieso fast niemand mehr, und auch das Attribut „neurechts“ wird meist als Schimpfwort gebraucht, als Selbstkennzeichnung meines Wissens nur beim Antaios-Verlag und in der Sezession.

Meiner Auffassung nach ist die Linke als eigenständige politische Kraft verschwunden. Was soll das für eine Linke sein, die kein sozialrevolutionäres Programm hat, nicht mehr die Umwälzung der Produktionsverhältnisse anstrebt und sie Vermögensverwaltern und Indexfonds wie BlackRock überlässt, deren Geschäftsmodell es ist, alle Menschen zu Aktionären zu machen? Das Etikett „links“ war spätestens 1968 verschlissen, als klein- und großbürgerliche Radikalinskis sich per Sprechakt zu Feinden des „Systems“ ernannten, klassenkämpferisch kostümierten, auf der Woge des Zeitgeistes schwammen und Individualisierung predigten. Versteht man „links“ als egalitär, verliert sich das Prädikat in der Forderung nach Chancengleichheit, einem Stereotyp aller sozialen Bewegungen und Milieus und Medien und aller auf ihre „Identität“ bedachten Gruppen. „Links“ zu sein ist nur noch ein abgegriffenes humanitäres Gütesiegel. Diejenigen, die im Weltnetz zappeln, legen mehr Wert auf Dabeisein und Beachtung und Subventionen als auf eine andere Verteilung des Mehrwertes.

Auch die als „rechts“ diffamierten, verlegenheitshalber „konservativ“ genenannten Personen sind, bei Lichte besehen, Herren und Damen ohne Unterleib. Früher saßen in den Parlamenten Würdenträger, die auf einer ständischen Gesellschaftsordnung und auf Elitenherrschaft beharrten. Beides beruhte auf Traditionen, auf solchen wohlgemerkt, die sich aus eigener Kraft fortpflanzten. Heute sind hierzulande sämtliche kulturellen Überlieferungen, auch die christlichen und raumgebundenen, ausgehöhlt und ausgelaugt. Manche werden noch künstlich beatmet. Streng genommen entfällt damit die Bedingung der Möglichkeit einer politischen Rechten.

Aber damit kein Missverständnis entsteht: Anders als die Überlieferungen, die Rituale, Sitten und Gebräuche, wären die europäischen Errungenschaften durchaus noch lebenskräftig und widerstandsfähig, wenn sie von den Europäern nicht preisgegeben würden: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Sinn für Fair Play, Meinungsfreiheit, Arbeitsethos und Gemeinwohlorientierung, Streben nach Erkenntnis, Fähigkeit zur Selbstkritik, Nationalstaat, Ausdifferenzierung des Politischen, ja selbst Institutionen wie Stadt, Staat, Heer und Universität, kurzum all das, was Rolf Peter Sieferle das „soziale“ und „kulturelle Kapital“ genannt hat. Dieses Kapital wiederum ist abhängig von „der Eindeutigkeit der Gruppenzugehörigkeit“.

Mit Ihrer Zeitschrift Tumult betrieben Sie lauter Konsensstörungen. Sie halten, wenn man Ihnen lautere Motive unterstellt, Konsens offenbar für einen zu störenden faulen Kompromiss. Aber ist Konsens nicht eine demokratisch zustande gekommene Form der volonté générale, des allgemeinen Willens?

Der heute in Deutschland herrschende Konsens, die Berufung auf die sogenannten europäischen Werte, sagt den Deutschen nicht, dass und auf welche Weise sie zusammengehören. Er ist weder sinngebend noch handlungsleitend. Man behauptet, er sei eine globale volonté générale, aber auch das ist er nicht, und träfe es zu, wäre er ein Allerweltsmerkmal und nichts Besonderes. Dieser Konsens gilt in Deutschland als höchste Staatsräson und darf nicht angefochten werden. Er postuliert Entgrenzung um der Entgrenzung willen. Damit entspricht er dem Tauschprinzip: Alles ist konvertierbar. Und er entspricht dem technokratischen Machbarkeitswahn, der alle Gegenstände und die Beziehung zwischen ihnen gleichgültig werden lässt. Das wachsende Interesse an Verfügbarkeit macht uns blind für die Außenwelt. Die sogenannten westlichen Werte – Chancengleichheit, Selbstbestimmung, Toleranz, Vielfalt und Weltoffenheit – sind längst zu bloßen Teilnahme- und Verkehrsregeln heruntergekommen. Trotzdem werden sie aufgerufen, als seien sie Konzentrate unanfechtbarer Programme. Ich zitiere aus dem Editorial der Tumult-Ausgabe vom Herbst 2014: „Man schwärmt von Vielfalt und Offenheit; doch hat man dabei wohl ein Stelldichein verträglicher Passagiere im Sinn – eine Art universale Autobahnraststätte.“ In Wirklichkeit sind diese „europäischen Werte“ unverträglich, denn sie dulden keinen Eigensinn. Aber jede Lebensart, jede Gesinnung und jede Daseinsordnung grenzt sich gegen andere ab – und ist daher von einer gewissen Unduldsamkeit geprägt.

Klimareligion, Energiewende, „Green Deal“ der EU-Kommission – Erscheinungen, die Sie einem globalmoralischen Kurzschluss zuordnen. Wer die Welt retten will, will auch die Deutschen retten. Was haben Sie gegen diese Art der Weltfürsorge?

Wenn politische Frömmelei mit Utopie und Hypermoral verschweißt wird, schrillen bei mir die Alarmglocken. Der Anspruch grüner Parteien auf überparteiliche Weltfürsorge macht misstrauisch, weil er mit hartnäckiger Realitätsblindheit einhergeht. Fast völlig ausgeblendet werden die wachsende Uneinigkeit zwischen den großen Welthandelspartnern, auch was gemeinsame Anstrengungen zur Bewältigung des Klimawandels betrifft, die erbitterten Verteilungskämpfe um unersetzliche Ressourcen, das Bevölkerungswachstum in Afrika als ökologischer Faktor und die expansive Grundausrichtung der großen islamischen Konfessionen. Zugleich werden uns Weltstaatsillusionen serviert.

Als Medienforscher weiß ich, wie man Aufmerksamkeit erzeugt und Plausibilität suggeriert. Gruselig ist das Zusammenwirken von politischen Direktiven, uniformer Medienmeinung, beflissener Wissenschaft, spendablen Konzernen und eifernden Nichtregierungsorganisationen. Alle diese Akteure bestätigen sich gegenseitig und profitieren politisch und ökonomisch von ihrer Allianz. Auf diese Weise ist eine reißende Eigendynamik entstanden. Also zweifle ich zunächst einmal an den lauteren Absichten der Umerziehungsprogramme und stelle die Objektivität der Ergebnisse opulent finanzierter Studien infrage. Ich behaupte nicht, es besser zu wissen, aber ich will schon die eine oder andere begründete andere Meinung hören und den Schlagabtausch der Argumente erleben – wenn es doch um planetarische Lebensfragen geht. Statt einer richtigen Auseinandersetzung aber erlebe ich moralinsaure Zurechtweisungen.

Letzteres macht mir besonders zu schaffen. Das Tremolo der Weltklimarettung, die Propaganda der Energiewende und der „Green Deal“ der EU-Kommission sind gesinnungsethischen Prinzipien verpflichtet, ebenso wie die Klimakonzepte der drei Parteien in der absehbaren neuen Bundesregierung. Man erhebt Wahrheitsansprüche und fertigt Zweifel als wahnhaft ab. Die politische Auseinandersetzung, die Willensbildung des Volkes, scheint nur eine Nebenrolle zu spielen, und auch das nur insofern, als sie dem großen Konsens zupasskommt. Sie wird eher als Störfaktor betrachtet und als eine Sache der Volkserziehung.

Meine Skepsis erhält weitere Nahrung durch die Missachtung alternativer Bewirtschaftungsmethoden in der Land- und Forstwirtschaft. Lokale Feldversuche in Europa und Nordamerika führten durchaus zu verheißungsvollen Ergebnissen, soweit ich das beurteilen kann. Sie lassen hoffen, dass man mit ihrer Hilfe die Emission klimarelevanter Spurengase wie Kohlendioxid, Methan und Lachgas weit wirkungsvoller eindämmen könnte als mit einem Totalverzicht auf fossile Energieträger. Ich erlaube mir, auf die Beiträge von Jörg Gerke, Christoph Becker und Thomas Hoof in unserer Vierteljahresschrift und im Tumult-Blog hinzuweisen.

Wenn wir das selbstbestimmte Leben vorhaben, wie sollen wir das führen – vor allem mit Blick auf solche Großprobleme?

Ja, wie führt das Individuum ein selbstbestimmtes Leben, wenn doch große Einigkeit darüber herrscht, was wir zu tun und zu lassen haben? Die Selbstbestimmung hat ja einen Ehrenplatz im spätdeutschen Fortschrittsbewusstsein. Sie ist ein Fetisch aus Stroh, das unablässig gedroschen wird. Von der Dressur des Verhaltens abgesehen, treibt das Individuum in die Orientierungslosigkeit. Es pocht auf seine Selbstbestimmung, aber diese ist gewöhnlich nicht herangereift, sondern Ausdruck einer Haltung des Ausweichens, Hinhaltens und Aufschiebens. Statt sich festzulegen, bemüht sich der Einzelne um immer mehr Selbstverfügbarkeit, indem er Wahlmöglichkeiten sammelt. Das gilt auch für das Streben nach einem singulären Lebensstil. Der Einzelne trainiert seine Selbstbestimmung mit Sozialtechniken der Optimierung, der Distanzierung und der Selbstdarstellung. Zugleich bekommt er Hilfestellung durch Angebote, die er nicht ablehnen kann. Es wird ihm eingepaukt, was der Gesundheit zuträglich ist, wie er dem Infektionsrisiko aus dem Weg geht und wie er seine Weltoffenheit unter Beweis stellt – wie er sich noch besser kontrolliert als bisher, damit die Welt gerettet wird und die Digitalisierung vorankommt.

Können Denkschulen allgemein noch was? Manchmal ist man geneigt zu denken, dass nur mehr der Sound von TikTok, das Gezwitscher von Twitter und ähnliche individualistische Massenmedien das Grundrauschen beherrschen und jede Form von Diskurs zersetzen. Wie sehen Sie das?

Es gibt ja beides: den Hang zur Infantilisierung, zum auftrumpfenden Schwachsinn und Stumpfsinn in allen Lebenslagen, und zugleich die Gegenbewegung, aufkeimende Freude an der Schulung eines strengen Erkennens und Sprechens. Ich erlebe beides. Infantilisierung provoziert Disziplinierung. Sie sehen, ich glaube nicht an die Rettung der Kultur durch Bildungsreform. Denken Sie an die seelische Verfettung der Mehrheitsbevölkerung in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Kollaboration der amerikanischen und chinesischen Videoclip- und Smartphone-Konzerne, den Zustand der christlichen Kirchen, die globale politische Regression durch gehätschelte Protestbewegungen mit drei Buchstaben. Das Desaster ist nicht aufzuhalten. Aber ebenso wenig die Konterrevolution.

Wir Jüngeren sind allemal Kinder von ’68, der von dort aus- und darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Veränderung. Ist nicht genau das der großväterliche Konsens, den wir heutzutage stören müssen?

So ist es. Die Debattenlage ist paradox. Die Achtundsechziger sind die wahren Ewiggestrigen. Unser Widerstand hingegen, den man als „ewiggestrig“ diffamiert, antwortet auf die Entwicklung von heute und morgen.

Kann man in der heutigen Welt noch irgendwo zu Hause sein? Wenn die Welt ein Ort ist, dürfen wir es noch etwas konkreter haben?

Wer sich heute an Ort und Stelle die rosarote Brille absetzt und sich umsieht, wird untröstlich. Er weiß dann, dass er nirgendwo mehr zu Hause ist. Abfinden kann er sich damit nicht. Wieder heimisch aber wird er nicht durch Heraufbeschwören des Vergangenen, sondern allein durch Neugründung – im tätigen Widerstand gegen das Diktat der unbegrenzten Konvertibilität: alles und nichts zu sein.


Das vollständige Interview lesen Sie in der FREILICH-Ausgabe 15 „Links. Rechts“.

Über den Autor
Ulrich Novak

Ulrich Novak

Ulrich Novak ist studierter Germanist und arbeitet auch als freiberuflicher Kommunikationsberater. Er ist ein in Oberösterreich lebender Wahl-Österreicher mit Blick nach vorne.

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